Melody Gardot entwirft mit "Currency Of Man" fesselnd und differenziert untermalte Aussagen über brisante soziale Belange.
Wer Melody Gardot bisher nur als Interpretin gepflegter Jazz-Chansons wahrgenommen hat, der wird sehr überrascht sein, wenn er ihr viertes Studio-Album "Currency Of Man" hört. Dieses unter anderem vom dunklen Delta-Blues- und verräuchertem Spelunken-Jazz getränkte, hinterlistig und geheimnisvoll mit Erwartungen spielende, dunkel-mystisch taktierende, melodiös und instrumental breit aufgestellte Werk präsentiert eine Künstlerin mit Abenteuerlust, eine Stil-Ausbrecherin, die Spaß daran hat, Neuland zu erkunden und sich dabei nur dem guten Geschmack und einem spannenden Klang verpflichtet fühlt. Daneben geht es ihr darum, eindringlich darauf hinzuweisen, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist: "Nachdem ich einige Zeit in Los Angeles verbracht hatte, drehten sich die Songs um die Menschen, die ich dort traf: Menschen, die ein Leben am Rande der Gesellschaft führen".
Die Musikerin mit dem französisch klingenden Namen wurde am 2. Februar 1985 in New Jersey geboren. Melody verbrachte eine lange Zeit ein harmonisch-liebevolles Leben. Bis zu jenem schicksalhaften Tag im November 2003, als sie auf dem Fahrrad von einem Auto angefahren wurde und schwere Kopf-, Nerven und Knochen-Verletzungen erlitt. Danach war alles anders. Selbstverständliches funktionierte nicht mehr, Träume und Wünsche wurden pulverisiert. Das Leben wurde durch die Beeinträchtigungen beschwerlich und es stellte sich zwangsläufig auch für sie damals schon die Frage nach dem Wert eines Menschen. Und ebenso logisch ergab sich, dass er nicht von Äußerlichkeiten, sondern von geistig-moralischen Werten abhängt. Eine Erkenntnis, die den beschwerlichen Kampf zurück in die sogenannte Normalität erträglicher machte.
Melody Gardot weiß also ganz genau, wie sich körperlicher und seelischer Schmerz anfühlt und was er für die Persönlichkeit und das gesellschaftliche Umfeld bedeutet. Häufig hat sie das Leiden bei ihrer Musik hinter Schönheit verborgen gehalten, aber bei "Currency Of Man" hat die Süße auch einen bitteren Nachgeschmack und die Gesellschafts-Kritik bekommt eine deutliche und schroffe Sprache.
Die Songs dieses Albums sind besonders ambitioniert, denn es gibt neben Beziehungs-Beobachtungen noch einen konzeptionellen Überbau, der nur bei der "Deluxe Edition", die fünf Extra-Tracks enthält, in Gänze dargestellt wird. Melody Gardot macht vornehmlich auf den Wert der Gestrandeten und Geknechteten aufmerksam, widmet sich politischen Konflikten und denkt über das Elend der Menschen nach, die Brutalität, Abhängigkeiten oder Armut ausgesetzt sind.
Den Auftakt bestreitet "Don't Misunderstand", das sich für eine realistische Betrachtung der eigenen Person einsetzt ("Wir sind, was wir sind"). Melody bewegt sich zunächst lautmalerisch-sphärisch auf einem undifferenzierten, verwirrenden Geräusch-Schleier und improvisierenden Instrumentenbewegungen. Dann ändern der einsetzende Groove, der verwehte Streicher-Teppich und der sinnlich-sehnsüchtige, behutsame Gesang komplett die Perspektive. Aus dem verwaschenen Gebilde wird ein zupackender, schwül-düsterer Song, voll von unterdrückter und lodernder Leidenschaft, die sich auf eine hypnotische, akustische Folk-Blues-Schleife einlässt. Die Mythen des Mississippi-Deltas demonstrieren in einem undeutlichen, dunkel-waberndem Blues-Feeling ihre ungebrochene Strahlkraft und manifestieren sich in gefühlsbetontem Art-Pop.
"Don't Talk" greift die rätselhafte Stimmung von "Don't Misunderstand" durch wallende Streichinstrumente auf, die sich so sanft wie Schleier aus Samt auf die Gehörgänge legen. Zusätzlich mischen sich ethnische Rhythmus-Strukturen mit uraltem, spiritistischem Americana-Wurzelwerk. Dann wird noch ein nostalgisches Western-Flair vermittelt und ein paar lustige elektronische Spielereien halten Einzug. Der Takt verhält sich lässig-unaufdringlich und der Gesang ist klar und bestimmt, möchte aber nicht aufbegehren. Flirrend-schwirrende Synthesizer-Klänge sorgen zur Halbzeit für exotische Eindrücke, die den Song kurz aus der tiefsinnigen Stimmung herausholen. Musikalische Welten kollidieren und geben dunkle Energie ab. Aus dem Text lässt sich die Aussage, dass "Geld alleine nicht glücklich macht" ableiten.
"It Gonna Come" beschreibt die Situation von unterprivilegierten Menschen und schließt pro Strophe jeweils mit der Hoffnung ab, dass die Mächtigen, die für die Schere zwischen Arm und Reich verantwortlich sind, ihren Job verlieren mögen. So kämpferisch und nachdrücklich, wie diese Botschaft formuliert ist, so kraftvoll und unnachgiebig wirkt auch die Musik: Der Groove ist mächtig, der Bass pumpt, als hätte er breite Schultern, die Bläser sind fett und posieren angriffslustig, die Streicher scheinen aus dem Nichts zu kommen, verhalten sich listig und erzeugen eine mutmachende Atmosphäre (man erinnere sich an "Shaft" von Isaac Hayes). Melody singt ihre Anklagen ohne spürbaren Hass, dafür mit selbstbewusster intellektueller Überlegenheit.
"Bad News" beginnt mit Tönen, die zu Kristallen geworden zu sein scheinen, denn sie imitieren auf unschuldig-reine Weise Harfen und E-Piano-Klänge. Danach folgt ein sumpfiger Blues-Groove, der zusammen mit ausladenden Bläser-Fanfaren und schmerzhaft-winselnden Solo-Saxofon-Einlagen eine nächtliche Jazz-Bar-Atmosphäre schafft, die Raum für jede Art von schlechten Nachrichten schafft. Der Song begibt sich dabei in eine gekonnte Schräglage, wobei Sounds entstehen, die an die stilistisch unabhängigen Kunst-Pop-Erzeugnisse von Tom Waits auf "Swordfishtrombones" erinnern. Gardot hält sich mit ihrer Auffassung von einem bedrückendem Chanson gesanglich zurück und überlässt ihren Partnern an den Instrumenten im Wesentlichen die Gestaltung einer Film-Noir-Atmosphäre. Filigrane, dunkel-zarte Töne voller Wärme und schreiend-kreischende Ausbrüche, die Gänsehaut erzeugend von Qual und Verzweiflung künden, gehen Hand in Hand in den Abgrund. Man wird sich bewusst, dass es irgendwann auf jeden Fall "einen letzten Vorhang" geben wird.
"She Don't Know" lässt sich auf einen knackigen Funk-Groove ein, der sowohl giftig ist, als auch sexuell lockende Momente aufweist. In der Art eines sich selbst motivierenden Antriebs - also einem Perpetuum Mobile der Energiebereitstellung - erlangt der Track einen stetigen und ständigen Vorwärtsdrang, der ihn über alle dynamischen Abstufungen hinweg leidenschaftlich und robust erscheinen lässt.
"Palmas da Rua" ist das erste "Artist`s-Cut-Bonus-Stück", welches die Field-Recordings von "She Don't Know" für etwa eine Minute reproduziert, ergänzt und durch Hände-Klatschen aufmischt.
"Same To You" greift erneut auf eine Funk-Grundlage zurück, bei der die Taktfrequenz von "She Don't Know" erhöht und sich dabei auf schweißtreibende, animalisch-brünftige James Brown-Klangmuster bezieht.
Mit dem Extra-Track "No Man's Prize" bewegt sich Gardot wieder auf dem Boden geheimnisvoller Sounds, die auf Thriller-Hintergründe schließen lassen - das Böse und Abgründige lauert an jeder Ecke, sodass sich die dunkle Seite der menschlichen Existenz in jeder Note dieser langsamen, trostlosen Ballade erahnen lässt. Ein Paradestück für Melody, bei dem sie ihr Talent für bedeutsame Zwischentöne gesanglich voll zum Erblühen bringen und gänzlich ausleben kann.
Der zusätzlich zum Standardwerk eingeführte "March For Mingus" ist ein weiteres instrumentales Zwischenspiel, bei dem das Piano im Hintergrund kurz angeschlagene Stakkato-Töne absondert, das Saxofon die zunehmend aggressive Führung übernimmt und die Bass/Schlagzeug-Begleitung für einen stabilen Rahmen sorgt.
"Preacherman" ist eines der prachtvollsten Kern-Stücke des Albums. Es transportiert nicht nur spirituelle Gospel-Anklänge, sondern auch einen lässigen Southern-Rock-Charme, satte Soul-Vibes und herzerfrischende, freche Jazz-Attacken. In über sechs Minuten feiert der Track ein berauschendes Fest der schmerzhaften Ekstase, die aus Trauer entsteht. Daneben gibt es ein meditatives Gedenken an Menschen, die von uns gegangen sind und die wir nie vergessen werden. Beide Ausnahmezustände tragen zu einer gedanklichen Auferstehung bei. Welch eine meisterliche musikalische Verführungskunst! Der Song wurde zum Gedenken an Emmett Till geschrieben, einem afro-amerikanischen Jungen, der 1955 im Alter von 14 Jahren bei seinen Cousins in Money, Mississippi seine Ferien verbrachte und dort dann wegen eines erfundenen Vorfalls von Rassisten bestialisch gequält und ermordet wurde. Seine Mutter kämpfte danach vor Gericht für die Verurteilung der beiden Mörder und ließ ein Foto von Emmetts geschundenem Leichnam veröffentlichen. Die Täter wurden freigesprochen, gaben aber ein paar Monate später die Ermordung zu. Gesetzlich konnten sie allerdings aufgrund des bindenden Urteils nicht mehr belangt werden. "Das Gedenken an Emmett durch das Lied ist eine Möglichkeit, die Menschen daran zu erinnern, dass es keinen Grund gibt, mit sinnlosen Verbrechen fortzufahren. Rasse und Rassismus gehen nicht Hand in Hand. Wir sind nur eine Rasse: Menschen", erläutert Melody die Botschaft des Songs.
"Morning Sun" strahlt eine zufriedene Ausgeglichenheit aus und würde auch ins Repertoire von Norah Jones passen. Zusätzlich fallen The Band und The Staple Singers als Inspirationsquelle ein, was in Gänze einen durchdringend bedeutsamen Americana-Jazz-Gospel-Mix ergibt.
"If Ever I Recall Your Face" greift hinsichtlich seiner Tragik auf die Stilmittel der klassischen Musik zurück: tieftraurige Streichersätze, ein Piano, das Einsamkeit in Noten gießt und eine Stimme, die gleichzeitig trösten und leiden kann, machen den Reiz dieser herzzerreißenden Komposition aus. Der Umgang mit den Verlockungen des Künstlerlebens - wenn man lange Zeit von zu Hause weg ist - bildeten dabei als Themenbereich die Grundlage für den Text und gehen in dieser Konstellation indirekt der Frage nach, was wirklich wichtig im Leben ist.
"Once I Was Loved" stößt mit ähnlichen Mitteln wie sein Vorgänger ins gleiche sanftmütig-schwerelose Horn. Die Erkenntnis, dass der Gedanke, im Leben wenigstens einmal wirklich geliebt worden zu sein, ein riesengroßer Schatz ist, liegt dem Lied zugrunde. Entsprechend ist seine ungekünstelte Sentimentalität und Empathie zum Heulen schön.
Die Piano-Ballade "After The Rain" wurde nur bei der erweiterten Version von "Currency Of Man" hinzugefügt und bildet hinsichtlich seiner Schwermütigkeit einen Zwillings-Track für "Once I Was Loved" ab, aber dies nun ohne Worte.
Die Macht der Süchte auf die körperliche Verfassung und Psyche von Menschen ist ein Mysterium, welches Melody zur Komposition "Burying My Troubles" veranlasst hat. Dieser abschließende, würdevoll schwelgende "Extra-Track" steigert seine durchdringende Sensibilität noch durch ein psychedelisch fließendes Gitarren-Solo voller Wehmut und verzweifelter Tragik.
Der "Artist`s Cut" als Deluxe-Edition ist unbedingt der einfachen Version von "Currency Of Man" vorzuziehen, weil sich die fünf Zusatztitel belebend und sinnvoll ergänzend ins Gesamtgebilde einfügen. Sie sind auch nicht einfach nur als Bonus hinten dran gehängt, sondern passend zugeordnet und sinnvoll eingebunden worden. Die makellose Produktion der 15 Tracks übernahm wieder einmal Larry Klein, der ex-Ehemann und zeitweise auch der musikalische Direktor von Joni Mitchell. Er ist daneben unter anderem als kreativer Sound-Tüftler hinter solchen Werken wie "The Blue Room" von Madeleine Peyroux, "Freedom & Surrender" von Lizz Wright, "Teenage Astronauts" von Thomas Dybdahl und "The Travelling Kind" von Emmylou Harris & Rodney Crowell in Erscheinung getreten. "Currency Of Man" gestaltete er mit einem räumlich-transparenten, audiophilen Klangbild, bei dem alle Muster klar zur Geltung kommen. Die einzelnen Tonspuren wurden differenziert strukturiert, sodass sie sich den jeweiligen Stimmungslagen individuell anpassen können.
Aber lassen wir Melody Gardot noch einmal selbst zu Wort kommen. Hier ein Auszug aus ihrem Begleit-Text von "Currency Of Man: "Was sich hinter scheinbar lustlosen, leeren Augen verbirgt, kann die Seele eines Menschen sein, die so tief ist, dass wir den Tod ihrer Schönheit nur erahnen können.
Was wir über die Welt wissen, so wie sie sich abspielt, ist nur die Information, die man uns gegeben hat, was man uns gelehrt hat und ist abhängig davon, wer unser Lehrer war.
Aber manchmal kann der Lauf des Lebens so gewunden und wild sein, dass wir uns plötzlich im Unkraut wiederfinden, anstatt am Steuer unserer größten Reise zu stehen.
Ich begann, dies überall zu sehen, wo ich hinkam. Menschen, die vom Sockel ihrer Träume gestürzt waren. Menschen, die ihr Leben durch Sucht, Unglück oder die Schwierigkeiten des Systems, in dem wir leben, zerstört sahen. Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe verurteilt wurden, wegen der Menge an Geld, die sie in ihren Taschen hatten, oder vielmehr wegen des Mangels daran. Personen, die durch die Bedingungen, die sie um sich herum vorgefunden hatten, so verbogen waren, dass sie keine Möglichkeit sahen, wieder aufzustehen. Hoffnungslosigkeit ersetzte jegliches Gefühl der Macht, ihre Umstände zu kontrollieren. Angst übernahm ihren Verstand und die Idee des Lebens wurde mehr wie ein langsamer, verrosteter, tropfender Wasserhahn, der mit der Zeit alle Träume und Wünsche, die einst aus ihren Herzen flossen, verschluckte.
Die Welt, von der ich wusste, dass sie schön und strahlend ist, wurde plötzlich von einem Bild verzerrt, das mein geistiges Auge nicht mehr verlassen konnte: Warum definieren wir uns über unsere materiellen Besitztümer wie unsere Autos, unsere Häuser, unsere Einrichtungen? Und seit wann ist es üblich, den Wert eines Menschen auf der Grundlage von Elementen zu bestimmen, die irgendwann ohnehin verschwinden.
Alle Songs auf diesem Album sind aus erlebten Momenten und Geschichten entstanden. Sie sind Reaktionen auf die Welt, wie ich sie jetzt gesehen habe. Es ist kein Liebeslied darunter. Und warum? Weil es hier nicht um selbstsüchtige, blinde Liebe geht. Es geht darum, die Welt so sehr zu lieben, dass einem übel wird, wenn man das Leid sieht, das Menschen ertragen müssen. Denn die verblüffende und harte Realität unseres Lebens ist, dass wir jeden Moment ins Chaos geraten können. Was uns ausmacht, was uns zu dem macht, was wir sind und was unser Vermächtnis begründet, ist, wie wir diese Momente ertragen".
"Currency Of Man" ist politisch engagiert, regt zum Nachdenken an, ist konzeptionell ausgereift und musikalisch herausfordernd angelegt worden. Melody Gardot nutzt ihre Popularität, um Missstände aufzuzeigen und traut sich, ihren Fans einen musikalischen Kurswechsel zuzumuten. Herausgekommen ist dabei ein Werk, das eine unerschrockene, sensible Künstlerin mit einem großen kompositorischen Potenzial zeigt. Sie besitzt die Fähigkeit, klangliche Vorstellungen unkonventionell umzusetzen, welche aber trotzdem eine zeitlose Qualität aufweisen. Gesamturteil: Meisterwerk!
Und 2020 erschien mit "Sunset In The Blue", ein weiteres, wunderschönes, dann aber durchgängig zärtlich-sinnliches Album, das für Easy-Listening in Vollendung steht und auf jeden Fall eine weitere (Wieder)-Entdeckung wert ist.