„Lives Outgrown“ ist das erste richtige Solo-Album von Beth Gibbons, der Stimme von Portishead.
Das erscheint merkwürdig, weil Beth Gibbons schon nach „Third“, dem letzten Portishead-Studio-Album aus 2008, zwei Platten aufgenommen hat, die sie in den Fokus rückten. Nämlich „Out Of Season“, die Zusammenarbeit mit Rustin Man alias Paul Webb (ex-Talk Talk) von 2002 und die Einspielung von Henryk Góreckis „Sinfonie Nr. 3“ („Symphonie der traurigen Lieder“), die mit dem Dirigenten Krzysztof Penderecki und mit dem Symphonieorchester des Polnischen Nationalen Rundfunks im Jahr 2014 eingespielt wurde, prägte und mit ihrem besonderen geheimnisvoll-fragilen Zauber belegte. Beide Werke klangen mehr nach ihr als nach den sehr talentierten Beteiligten.
Mit „Lives Outgrown“ festigt Beth Gibbons - die am 4. Januar 1965 in Exeter, England, geboren wurde - ihr Alleinstellungsmerkmal zwischen Pop, Klassik und Avantgarde, welches sie als ausdrucksstarke Sängerin, gehaltvolle Komponistin und fantasievolle Arrangeurin ausweist. Die dabei entstandene Musik ist ernsthaft, kunstvoll und dabei dennoch höchst unterhaltsam. Sie transportiert mysteriöse Stimmungen, mit der die dunklen Komponenten in David-Lynch-Filmen untermalt werden könnten.
Für „Tell Me Who You Are Today“ webt Beth einen verwunschenen Sound, bei dem die akustische Gitarre sensibel auf Tuchführung mit den anderen Instrumenten geht. Percussion, Bläser und Streicher wechseln sich in ihrer herausragenden Rolle ab, sodass der Eindruck eines sich voran bewegenden Organismus entsteht. Gibbons begleitet diesen lebendigen Zustand mit mysteriösem, verhalten-beschwörendem Gesang. Die Zeilen "Sag mir alles, was du sagen möchtest. Sag mir, wer du heute bist. Frei von allem, was ich in meinem Inneren höre", sprechen von Vertrauensvorschuss und nagenden Zweifeln. Das wahre Geheimnis des Songs bleibt aber im Dunkeln verborgen.
Kunstvoll verschlungene Saiten-Akrobatik lassen "Floating On A Moment" zunächst intellektuell hochfliegend erscheinen. Diese Wahrnehmung löst sich jedoch schnell zugunsten eines bittersüßen Stimmungsbildes auf, das kurz von einem frostig glitzernden Vibraphon und von um Harmonie bemühten Chor-Stimmen zusammen eingeleitet wird. Die einnehmende, liebliche Melodie nimmt sofort Besitz vom Wohlfühlzentrum im Gehirn und sorgt dort in Verbindung mit dem Mitleid erzeugenden Gesang für Entzücken. Poetisch verpackt macht der Text bewusst, dass das menschliche Leben nur ein Wimpernschlag im Vergleich zum kosmischen Dasein ausmacht und mahnt, damit bewusst umzugehen.
Und das sollte man berücksichtigen, obwohl uns die Last des Lebens nicht in Ruhe lässt, wie es in "Burden Of Life" heißt. Der kammermusikalisch ausgestattete Track erzeugt eine bedrückende Dramatik, die sich bleiern auf die Seele legt und nur bedingt durch die vertraute Stimme von Beth Gibbons aufgehellt wird.
Liebe verändert sich, Dinge verändern sich, die Zeit verändert sich - also verändert sich zwangsläufig auch das Leben. Dieses "Naturgesetz" liegt "Lost Changes" zugrunde. Das Stück transportiert diesen Gedanken mit einem leichten Schaukeln, was an ein Wiegenlied erinnert. Der Refrain vermittelt milde Zuversicht und die allgemeine Stimmung setzt auf die Verbreitung von Besinnlichkeit.
"Rewind" lässt es ein wenig kratzbürstig angehen und klingt außerdem orientalisch und eigenwillig ruppig. Dazu trägt auch die auffällige Percussion-Arbeit bei: Scheppernde Becken und wilde Trommelwirbel mischen den sowieso schon wogenden Ablauf noch zusätzlich ordentlich auf.
"Wo ist die Liebe geblieben, wo ist das Gefühl? Wo ist der Glaube an die Worte, die wir atmen?". So lauten die Fragestellungen, die in der Beziehungsproblematik von "Reaching Out" eine große Rolle spielen. Der rhythmische Takt zeigt sich bei dieser belastenden Gefühlslage beschleunigt, manchmal sogar aufgewühlt. Die Hintergrundstimmen haben eine klagende Färbung. Streicher und Bläser proben ab und zu den Aufstand, setzen sich aber nicht generell durch. Zwischendurch gibt es aber auch immer wieder Phasen der Einkehr und des Kraftschöpfens.
Zu Beginn des als schlicht aufgebauten Folk-Song getarnten Stückes "Oceans" ahnt man noch nicht, welche brillante, zu Tränen rührende Melodie und welche hinreißenden Wendungen noch entblättert werden. Die Sätze "Aber ich werde in den Ozean eintauchen. Auf dem Boden werde ich meinen Stolz sammeln. Und ich werde die Länge der Emotionen spüren. Unter der Oberfläche habe ich keine Angst mehr" leiten das Ende des Songs ein, der zu den betörendsten Kompositionen des an Höhepunkten reichen Albums gehört.
Die Folklore der Welt hat deutliche Spuren auf "Lives Outgrown" hinterlassen. Bei "For Sale" sind es verwaschene Eindrücke aus Nordafrika, die sich durch exotisch klingende Geigen bemerkbar machen. Sie unterstreichen, dass bei dem Lied die Traurigkeit ein zu Hause gefunden hat.
"Beyond The Sun" beinhaltet eine Aufzählung von Fragen, die mögliche Alternativen im Verlauf des Lebens an persönlichen Meilenstein-Entscheidungen festmachen. Die dazu entworfene Musik ist grundsätzlich lebhaft und steigert sich allmählich bis knapp davor, eine Ekstase auszulösen. Kurz vom Ende des Stücks fällt der Druck dann ab und die Spannung implodiert.
"Whispering Love" verspricht, ein behutsam ablaufender Track zu werden und hält diese anfängliche Erwartung auch eine Weile aufrecht. Das gilt bis zu dem Zeitpunkt, als Geigen Töne verbreiten, die sich in etwa wie eine quietschende Tür anhören. Trotz dieses deutlichen Störgeräusches behält die Harmonie die Oberhand und der Song entlässt die Hörerschaft mit einem hoffnungsvollen Gefühl: "Oh, flüsternde Liebe, wehe durch mein Herz, wenn Du kannst."
Ganz gleich, in welcher Konstellation Beth Gibbons bisher in Erscheinung getreten ist, sie hat es immer verstanden, ihre Persönlichkeit prägend und überzeugend in die Waagschale zu legen. "Der Entstehungsprozess von "Lives Outgrown" erstreckte sich über zehn Jahren hinweg. Es war eine Zeit des Abschieds von Familie, Freunden und sogar von dem, der ich vorher war. Die Texte spiegeln meine Ängste und schlaflosen nächtlichen Grübeleien wider, daher der Titel "Lives Outgrown" (der unter anderem mit "Zurückgelassene Leben" übersetzt werden kann). Nicht nur wegen der Art und Weise, wie wir emotionale oder psychologische Übergänge in unserem Leben durchlaufen, sondern mehr im Zusammenhang mit der Zeit, in der wir diesen Planeten verlassen und uns ins Unbekannte bewegen," sagt Beth zu den Gegebenheiten, die zu ihrem Werk geführt haben. Beth Gibbons erschafft einen in sich abgeschlossenen Lebensraum, der bei aller Melancholie die Zuversicht nicht aus den Augen verliert.
Ihre Klang-Entwicklung beschreibt sie folgendermaßen: "Der Sound war auch ein Prozess, bei dem ich Strukturen innerhalb meiner persönlichen Möglichkeiten erkundete. Ich wollte weg von Breakbeats und Snares und mich auf das holzige Gewebe der Klangfarben konzentrieren, weg von der süßen Sucht nach hohen Frequenzen, die befriedigen wie Zucker und Salz".
Mit "Lives Outgrown" wurde zeitlose, hochwertige Kunst erschaffen. Sie kommt als ein flexibles, in sich stimmiges Art-Pop-Gefüge daher und veredelt jede Musik-Sammlung.