"Dance Of Love" enthält zehn weise, größtenteils intim-eindringliche Lieder eines sträflich übersehenen Musikers.
Das Geschichtenerzählen gehört zu den Urformen der musikalischen Darstellung. Schon die Minnesänger des Mittelalters waren eigentlich Singer-Songwriter. Also Künstler, die ihre Lieder selbst schrieben und sich beim Vortragen auf einem Instrument begleiteten. Dieses Genre lebte als Teil der Pop-Musik-Kultur in den 1930er-Jahren durch Protest-Sänger wie Woody Guthrie auf und erfuhr Anfang der 1960er-Jahre durch spezifische, individuelle Sichtweisen weiteren Auftrieb. Jene tolerante Form entwickelte eine enorme Bandbreite und führte unter anderem zu Band- und/oder Orchester-Begleitungen der kreativen Lied-Gestalter. Als einer derjenigen, der viele Spielarten durchlaufen oder sogar begründet hat, gilt Bob Dylan, der mit bürgerlichem Namen Robert Allen Zimmerman heißt.
Der 83-jährige, aus San Francisco stammende US-Amerikaner Tucker Zimmerman, der seit über 50 Jahren in Belgien lebt, zählt auch zu der Art von Singer-Songwritern, die die ursprünglichen Americana-Einflüsse weitergedacht und personalisiert haben. Mit Bob Dylan ist er allerdings weder verwandt noch verschwägert, hat sich aber durch Qualität und Mundpropaganda einen legendären Insider-Ruf erworben. Sein Debütalbum "Ten Songs" aus 1969 zählte sogar zu einer der 25 Lieblings-Platten von David Bowie.
Das am 11. Oktober 2024 erschienene Werk "Dance Of Love" ist laut seiner Homepage die elfte Veröffentlichung und die Erste, die gemeinsam mit der Gruppe Big Thief um Adrianne Lenker aufgenommen wurde.
Der Ausgangspunkt "Old Folks Of Farmersville" ist ein Country-Traum: Der rumpelnde Rhythmus von Zach Burba (Bass) und James Krivchenia (Schlagzeug) legt die Basis für eine bittersüße Melodie. Sie wird durch die vom Leben gegerbte, brüchige Stimme von Tucker Zimmerman durchbrochen und von Adrianne Lenkers empathischer Gesangs-Ergänzung veredelt. Dazu weint Matt Davidsons Pedal-Steel-Gitarre silbrig glitzernde Tränen. Zimmerman würdigt in seinen Texten die Leistungen der Menschen vom Lande. Ihre Macken und Besonderheiten sowie ihre Hilfsbereitschaft gehören selbstverständlich genauso zum Gesamtbild. Aus der Erfahrung spricht Dankbarkeit und Demut. Zimmerman verneigt sich vor den skizzierten Personen und eröffnet schwärmerisch den Tanz der Liebe!
Das im besten Sinne primitiv groovende, von hypnotisch monotonen Beats getragene "Idiot`s Maze" verfügt über putzig-originelle Stereo-Effekte: Im rechten Kanal grummelt der Bass vor sich hin, während links das gedämpfte Klavier für sprudelnde Unruhe sorgt. Mittig tummelt sich der Gesang von Zimmerman & Lenker und das cool scheppernde Schlagzeug. So entsteht Psychedelic-Folk-Rock ohne ausschweifende Jam-Rock-Allüren!
Der Lorelei-Felsen kann als Sinnbild für die Wacht über das fließende Wasser und deshalb als Halt gebende Macht verstanden werden. Das Lied "Lorelei" lässt es langsam, spärlich instrumentiert und traurig gesungen angehen. Die Gitarren erzeugen Wehmut, der Rhythmus schleppt sich mühsam dahin und Adrianne ist für Tucker das, was Emmylou Harris für Gram Parsons war: Eine Sängerin, die unterstützend den besonderen Charakter der Stimme ihres Partners uneigennützig hervorhebt. Nichts geht über eine ausgeprägte Sensibilität!
Natur und Spontanität: Bei "The Season" erwecken ein herannahendes Gewitter, ein Hintergrundrauschen und Sound-Verzerrungen den Eindruck einer Übungsaufnahme im Freien, die absichtlich unfertig belassen wurde, um den Zauber des Augenblicks einzufangen. Denn es findet eine intensive, vertraut wirkende Wechselwirkung zwischen dem verhalten-kratzigen Gesang von Zimmerman und den positiven atmosphärischen Schwingungen von Lenker statt. Die dezent füllenden Töne der Instrumentalisten (Rhythmus-Duo, Gitarren, manipulierter Casio) lassen sich in diesen wohligen Schmerz fallen. Das Lied ist eine Ode an das Glück, am Leben zu sein. Eine Ballade, die unter die Haut geht!
Die Begleitmusiker sorgen bei "Burial At Sea" für die erdige, klappernde, ungeschliffene Basis des Lagerfeuer-Folk-Jazz und das Duett-Pärchen erzeugt heimelig-menschliche Wärme. Das Stück stellt das unausweichliche Ende des Daseins unter anderem in einen geschichtlichen Zusammenhang mit dem Sterben schiffbrüchiger Seeleute aus dem Jahr 1492. Er verknüpft diese Sachverhalte mit dem Wunsch nach einer Seebestattung und definiert dafür einen poetischen Rahmen. Eine Kombination, die keinen Raum für halbherzig vorgetragene Emotionen zulässt!
"They Don’t Say It (But It’s True)" gibt eine spirituelle Sicht auf menschliche Beziehungen frei. Demnach sind wir alle durch "Lichtfäden" verbunden. Denn die Liebe, die wir fühlen, berührt auch andere Menschen, verkündet Tucker. Der Track ist eine reine Tucker Zimmermann/Big Thief-Zusammenarbeit. Also in diesem Fall agiert die Besetzung: Tucker Zimmerman an der 12 String-Gitarre + Gesang, Adrianne Lenker (Akustische Gitarre + Gesang), Alexander Buckley Meek am Bass und James Krivchenia am Schlagzeug. Sie spielen gemeinsam einen trocken-knarzigen, langsamen Song, bei dem der Bass brummelnd die Führung übernimmt, sich die Gitarren vornehm zurückhalten und das Schlagzeug den Takt behutsam, beinahe unbeteiligt vorgibt. Entspannter, abgeklärter Folk-Jazz, der die Kraft in der Ruhe sucht!
"Leave It On The Porch Outside" hält ein Rezept bereit, was zu tun ist, um unangenehme Belange von sich fernzuhalten: Man solle nicht alles an sich herankommen lassen und manche Dinge einfach gedanklich vor der Tür abstellen. Für die Verbreitung dieses Hinweises übernimmt Marie-Claire Zimmerman, die Frau von Tucker, mit der er seit Ewigkeiten verheiratet ist, verschüchtert-unsicher einen Teil des Gesanges. Der Song ist nicht streng arrangiert worden, scheint eher aus einer Bierlaune heraus entstanden zu sein und kann deshalb nicht mit den anderen Tracks konkurrieren, die ernsthaft durchkomponiert und durchdacht wurden. Die Klänge verströmen ein andächtiges Lagerfeuer-Romantik-Feeling, aber als es dann so richtig losgehen sollte, wird die Aufnahme brutal abgewürgt. Dennoch: Hier pulsiert das pralle Leben!
"The Ram-a-lama-ding-dong Song" ist ein alberner Titel für einen albernen Song. Na und, warum soll nicht mal der unreflektierte Spaß im Vordergrund stehen?
Schluss mit Lustig: "Don’t Go Crazy (Go In Peace)" ist ein betont zögerliches Mantra, das die Achtsamkeit in den Mittelpunkt des Handelns stellt. In dieser Funktion wirkt die Komposition wie in Valium eingelegt. Die zaghafte, aber nicht hoffnungslose Nummer bringt noch einen Retro-Touch mit, weil sie sich durch ein paar Knister-Töne wie eine alte Schallplatte anhört. Nostalgie muss nicht langweilig oder unmodern sein!
Bei "Nobody Knows" geht es um die Auswirkungen des Schicksals und um den Umgang damit. In dem Stück begegnen sich sowohl übermütige als auch unbekümmerte Tonfolgen, was das belastende Thema zuversichtlich erscheinen lässt. In den 1990er-Jahren frönte Tucker Zimmerman mit seinem Nightshift-Trio dem Blues. Diese Leidenschaft lässt er nun wieder swingend aufleben und verleiht dem geschmeidigen Boogie-Blues einen temperamentvollen Ausdruck. Altherren-Musik? Nicht, wenn - wie hier - der Groove stimmt!
"Dance Of Love" kann als Komprimierung eines Lebenswerks zu einem Album angesehen werden, welches die Liebe in den Mittelpunkt des Handelns und Denkens stellt. Die Musik trotzt jeglichen Trends und Moden und kommt aussagekräftig, ehrlich und empathisch rüber. Wer Singer-Songwriter wie Guy Clark, Gram Parsons, Kris Kristofferson oder Townes van Zandt schätzt, kommt an dem weitestgehend übersehenen Musiker, Romanautor und Soundtrack-Komponisten Tucker Zimmerman nicht vorbei. Möge er uns noch lange mit seinen gehaltvollen, zu Herzen gehenden Liedern beglücken, schließlich hat er noch über 500 Songs auf Halde!