Die Lieder von Anna B Salvage sind spannend, ungewöhnlich und bewegend.
Es gibt Künstler, die provozieren einfach nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und dann gibt es welche, da gehört die Provokation zum Konzept, nämlich um verkrustete Zustände aufzubrechen, Denkanstöße zu liefern oder Hörgewohnheiten in Frage zu stellen. Auch Anna B Savage aus London fiel schon vor "A Common Turn" mit scharfen, herausfordernden Thesen zum Thema Lust und Selbstbestätigung der Frau auf. Aber kann sie diesen klaren Worten auch überzeugende Taten in Form von bahnbrechender Musik folgen lassen? Oder war der Aufruhr bloß ein Marketing-Trick, um von den Medien wahrgenommen zu werden?
Der Titel, der schon vorab für Wirbel gesorgt hatte, war "Chelsea Hotel #3". Das Chelsea Hotel im New Yorker Stadtteil Manhattan ist in den 1960er Jahren als Künstlerhotel bekannt geworden. Größen wie Salvador Dali, Nico, Bob Dylan oder Jimi Hendrix haben dort übernachtet. Leonard Cohen schrieb den Song "Chelsea Hotel #2" über eine dort stattgefundene amouröse Liaison mit Janis Joplin. Anna B Savage erzählt nun von einer eigenen schlüpfrigen Begegnung, bei der der Cohen-Song eine Rolle spielt und fertig ist der (Beinahe)-Skandal. Das unheimlich schlingernde, zerrissene "Chelsea Hotel #3" bleibt lange im bloßen Erzählmodus, bevor sich melodische Hard-Rock-Gefüge herausbilden. Im Lied geht es um sexuelle Befreiung und das ist alles andere als billige Selbstdarstellung.
Kann ein Drogenrausch in Töne umgewandelt werden? Daran haben sich unter anderem schon Tim Buckley ("Lorca", 1970) und The Stooges ("Fun House", 1970) versucht. Das eineinhalbminütige "A Steady Warmth", das "A Common Turn" eröffnet, versucht mit halluzinogenen und fiebrigen Klängen ähnliche Wege zu gehen. Aber schon das folgende "Corncrakes" schlägt einen etwas konkreteren Kurs ein. Der sinnestrügende elektrische Folk-Rock nimmt Jazz-Einflüsse auf. Er spielt mit verdrehten Melodien, spannungsgeladenen Brüchen und einem Gesang, der ein sanftes Tremolo und durchdringende Erregung aufzuweisen hat, was zu beschwörender Intensität führt. Das Stück transportiert verwinkelten West-Coast Hippie-Rock, der das Gehirn auf komplexe Hör-Abenteuer schickt. Die E-Gitarren lauern in Angriffsstellung, begnügen sich aber mit lässiger Rhythmus-Begleitung. Der Bass füllt die Lücken, die der Background- und Lead-Gesang noch übrig lässt, so dass ein relativ dichter Sound-Teppich entsteht. Anna irritiert den Hörer noch zusätzlich, indem sie mit Tempo-Varianten spielt und dem Song so ein gewisses Eigenleben einhaucht.
"Dead Pursuits" ist stimmlich von Drama durchzogen. Von verletzlich über traurig bis hin zu verzweifelt wird eine beklemmende Gefühlspalette abgegriffen. Aber die Musikerin jammert nicht, sie klagt sich vielmehr selber an, denn sie ist zutiefst betrübt über ihre belastenden Unsicherheiten. Musikalisch finden sich bei diesem wogenden, tragischen Chanson trotz allem immer wieder Anhaltspunkte für Optimismus. Für "BedStuy" werden bei aller angemessenen Zurückhaltung auch brachial treibende Elemente der Electronic-Dance-Music verwendet, ohne dass der Track dadurch tanzbar erscheint. Dennoch bewegt er sich vom Schatten ins Licht und überwindet dabei eine gewisse emotionale Zerrissenheit. Die wortreiche Ballade "Baby Grand" ist im Vergleich dazu beinahe sanft, wenn auch nicht weniger intensiv. Dieses Liebeslied beschreibt prägende Momente, die mit der ersten vergangenen, aber nicht verarbeiteten großen Liebe verbunden sind.
Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt sind zwei Gemütszustände, die die Psyche tüchtig durcheinander rütteln können. So verhält es sich auch mit "Two": Zeitlupenhafte Tristesse-Schauer stehen dicht neben Maschinengewehr-artigen Rhythmus-Gewittern und erschüttern die Wahrnehmung bis ins Mark. Die E-Gitarren-Akkorde scheinen am Anfang sogar dafür zu sorgen, dass die Luft zersplittert. Der Gesang ist voller Leid, reflektiert eine gequälte Seele und erinnert so an die schwarze Folk-Ikone Odetta. Mit Erscheinen der Rhythmus-Befeuerung erhält die Stimme Rückendeckung und zeigt wieder Kampfgeist. Der Song "A Common Tern" (nicht Turn) baut mächtigen Druck auf, so als würde ein Flugzeug starten. Der Track strotzt vor neu erlangtem Selbstvertrauen, denn er erzählt vom Entkommen aus einer als toxisch bezeichneten Beziehung. Und so wird aus einer gemeinsamen Wende (= A Common Turn) eine Fluss-Seeschwalbe (= A Common Tern) als Symbol für Freiheit. Musikalisch liegt das Lied zwischen intelligentem Folk- und strammem Art-Rock und überzeugt auf ganzer Linie durch seine Kraft und Raffinesse.
So lieblich, wie es der Musikerin nur möglich ist, agiert sie im Sinne der zerbrechlichen Ballade "Hotel". Aber süßliche Überzeichnung ist nicht ihr Ding und so wird der Song zu einem ähnlich entblößenden Gesangsereignis wie die Art-Pop-Arien von Anohny. "One is the loneliest Number" sang Harry Nilsson 1968 so treffend wie auch unnachahmlich prachtvoll und der Track wurde 1999 wunderbar von Aimee Mann gecovert. Dieses "One" ist keine Cover-Version, sondern der aufgeräumte, zuversichtliche Abschluss einer mutigen, eigenwilligen Platte einer außergewöhnlich beachtlichen Künstlerin. Auch wenn den Liedern eine gewisse Morbidität nicht abzusprechen ist, so verkörpern sie bei aller Komplexität ein Bekenntnis zur Liebe. Das ist keine leichte Kost, aber eine Demonstration mit reinigender Wirkung. Hier singt jemand mit Lebenserfahrung zu uns, damit wir wissen, dass wir mit unseren Fehlern, Gewissensbissen und gemischten Gefühlen nicht alleine sind.
Die Musik auf "A Common Turn" ist eigenwillig und stark wie die von Tim und Jeff Buckley. Sie verzückt wie manches von Joni Mitchell, zeigt sich sperrig wie vieles von PJ Harvey und psychedelisch berauscht wie einiges von Jefferson Airplane. Die besten Referenzen also für diese im positiven Sinne verrückten, bizarren Klänge. Anna B Savage hat schon mit diesem ersten Longplayer eine individuelle, markante Ausdrucksform gefunden. Die Art der kompromisslosen, durchdringenden Vortragsweise erinnert an David Keenans Meisterwerk "A Beginner`s Guide To Bravery" aus dem letzten Jahr. Die beiden Künstler könnten Geschwister im Geiste sein.
Ist die Musik nun ein Therapieansatz oder ein Reifezeugnis oder ein Ausdruck der Persönlichkeit einer offenen, verletzlichen und mutigen Künstlerin? Vielleicht ist von allem was drin, denn Anna hat schon früh gelernt, dass sich mit Hilfe der Kunst Dinge ausdrücken lassen, die abseits davon gar nicht oder nur ungenau offen gelegt werden können. Ihre Eltern waren Klassik-Sänger und so verbrachte das Mädchen die Kinder-Geburtstage im Green Room der Royal Albert Hall. Eine gewisse Vorprägung war also unvermeidbar. 2015 brachte die Singer-Songwriterin dann ihre erste 4-Track-EP heraus, die von Father John Misty wahrgenommen wurde, woraufhin er Anna mit auf Europa-Tournee nahm. Doch die Anerkennung überforderte die junge Frau, führte zur Schreibblockade und zu psychischen Störungen. Von da an musste sie sich neu ordnen und fing vor drei Jahren wieder an, Songs zu schreiben, die ihr Inneres nach außen kehren. Dabei sind diese spannenden, ungewöhnlichen und bewegenden Lieder herausgekommen, die "A Common Turn" zu einem nachhaltig beeindruckenden Hör-Erlebnis machen.