Vom Geheimtipp zum Superstar? Nichts ist unmöglich bei der konstant hohen Qualität, die Roosmarijn mit "Wide Open Space" abliefert!
Die 29-jährige hauptamtliche Sängerin und an der Klassik geschulte Bratschistin Roosmarijn Tuenter aus Arnhem in den Niederlanden legt mit "Wide Open Space" ihr erstes Volle-Länge-Album vor. Bisher gab es nur die EP "Inside Out" aus 2019 von ihr zu hören. Für die reichhaltig und kreativ untermalte Umsetzung des aktuellen Werkes standen elf Musikerinnen und Musiker zur Verfügung, die mit Roosmarijn zu einer homogenen Einheit verschmolzen. Die dabei erzeugte Musik speist sich aus etlichen Stilen, besonders ragen dabei malerischer Dream-Pop und psychedelischer Folk-Jazz sowie hypnotische Minimal-Art Strukturen hervor.
Diese drei Bestandteile sorgen beim Opener "Outside" dafür, dass der Song mal verträumt in den Wolken hängt, dann wieder geerdet einem festen, monoton ablaufendem Rhythmus folgt, um sich außerdem plötzlich in einem spirituell verschwommen erscheinenden Umfeld unter der Führung von wogendem, lautmalerischem Gesang als kundiger Bote und extravaganter Experte zeigt. Viele Einflüsse bereichern diese Klanglandschaft, die trotz experimenteller Ansätze jederzeit zugänglich bleibt. "Outside" bewahrt sich neben seinem anspruchsvollen Rahmenprogramm einen aufmunternden Groove, der dem interessanten Art-Pop eine individuelle Note beschert.
Roosmarijn erweist sich nicht nur hinsichtlich des Titels ihrer Platte als naturverbunden. So ist es wohl kein Zufall, dass der Einsatz eines nach Harfe klingenden Saiteninstrumentes für "Belonging" an kühl plätscherndes, klares Wasser erinnert. Als Kontrast dazu hört man einen melodisch starken Bass und schnell getaktete Percussion-Töne, die an asiatische Folklore denken lassen. Über diesen lebendigen Rahmen breitet Roosmarijn ihre reine, beinahe unschuldig klingende, friedvolle Stimme aus. Emotional gibt es kein Entrinnen vor dieser süßen Verführung, die die Sinne vor Verzückung tanzen lässt. Trotz dieser harmonisch prickelnden Ausrichtung ist Roosmarijn im Ergebnis nicht frei von Zweifeln: "Ich hatte einmal das Gefühl, zu jemandem zu gehören. Es brachte mich an einen Ort von zarter Schönheit, einen sanften und nicht enden wollenden Tagtraum. Doch als ich anfing, ein Lied darüber zu schreiben, war die Musik nicht nur glücklich und unbeschwert. Was wäre, wenn ich aus diesem Gefühl der Zugehörigkeit nicht mehr herauskäme? Was, wenn ich den Bezug zur Realität verlieren würde?"
"The Mother" verbreitet einen heimeligen Home-Recording-Charme und offenbart dabei ganz unauffällig virtuose Raffinessen. Hinter dem Intro aus gezupfter akustischer Gitarre und gesummtem sowie sehnsuchtsvollem Gesang treten Vogelgezwitscher und Alltagsgeräusche hervor. Ein quengelndes Saxophon zerreißt später die andächtige Stimmung und stoisch-monotone Piano-Akkorde bringen ein unruhiges Klang-Element ein.
Eine stupide klopfende Trommel legt die Basis für "Room For Another Chest". Gegen diese Einsilbigkeit kämpfen der um optimistische Flexibilität bemühte Gesang, das beschwichtigende Piano und beschwingte Streicher erfolgreich an.
"Fire Walk With Me" ist ein Plädoyer für die Stärkung des Selbstbewusstseins. Das ist wichtig, damit man gegenüber anderen unerschrocken die eigene Meinung vertreten kann. Orientalisch eingefärbte Streichinstrumente leiten den Track ein, der sich danach bald in einen druckvoll pressenden Art-Rock verwandelt, aber immer wieder zum wellenartig schwingenden Beginn zurückfindet.
Die unverhoffte Begegnung mit der Anmut eines Rehs prägte die Lyrik für "Dear Deer". Als Mensch sind wir Sammler von eindrucksvollen Momenten, die wir genießen und als abrufbare Wohltat in unserem Gedächtnis speichern sollten. Intuitiv benutzte, klassische Ausdrucksweisen treten für dieses Stück zutage. Die Bratsche wird sowohl gestrichen als auch gezupft und verleiht dem Lied eine feierlich-kultivierte Strenge und Würde.
Bei "Shattered Heart" geht es natürlich um ein gebrochenes Herz. Aber statt in Selbstmitleid zu zerfließen, schöpft Roosmarijn aus dem Desaster Kraft. Denn sie erkennt, dass dieser Zustand ihre Fähigkeit offenbart, tief und innig lieben zu können. Und dieses sich Hingeben geht eben manchmal nicht ohne Blessuren ab. Repetitive E-Gitarrenakkorde, die an das Schaukeln von Ästen im Wind erinnern, Blechbläser, die zum Tränen erfüllten Happy-End blasen und ein wiegender Background aus Geigen-, Percussion-, Bass- und Synthesizer-Klängen sorgen für hilfreiche Schwingungen. Stimmungsvoller kann man ein gebrochenes Herz nicht heilen!
Albtraum oder Fieber? LSD oder psychedelische Pilze? Irgendeine der aufgeführten Zustände oder Substanzen scheinen "Different Pace" beeinflusst haben. Beginnt der Track noch lebendig und munter, so entwickelt er zunehmend bizarr-ausschweifende, verschnörkelte Tendenzen, die ihn schließlich in die Verwirrung führen. Seltsam und unbequem, aber dadurch auch sehr reizvoll!
Mit den Worten: "Es geht um die stillen Momente, in denen wir uns wirklich die Zeit nehmen, einander zu sehen, eingehüllt in eine Wärme, die noch lange nach dem Morgengrauen anhält", erklärt Roosmarijn die Botschaft hinter "Taking Time". Die Musik friert anfangs förmlich die Zeit ein und man kann in der Folge dem Auftauen zuhören und so einem vor Inspiration glänzenden Pop-Song mit großer Anziehungskraft lauschen. Roosmarijn singt sinnlich-erotisch und ihre Begleiter und Begleiterinnen betten sie dabei förmlich auf Rosen und Samt.
Trocken gezupfte Ukulelen und ein rollender Bass begleiten die exakt formulierende Stimme von Roosmarijn bei "Where Bones Become Roots" zuverlässig und erschaffen fast durchgehend eine von Disziplin geprägte Stimmung. Erst ganz am Schluss öffnet sich ein erwartungsvoll-ehrfürchtiger Blick in die Unendlichkeit.
Bei "Wide Open Space" folgt auf die elektronisch erzeugten, ploppenden, rhythmisch anstachelnden Sounds eine Phase der pulsierend angespannten Atmosphäre. Danach fällt dieses Konstrukt in sich zusammen und die mächtig aufgetürmte Dramatik der Schlussphase beendet den Track pompös.
Roosmarijn ist mit "Wide Open Space" ein erstaunlich vielseitiges, tiefgründiges und melodisch zart gesponnenes, reizvolles Album gelungen. Sie erschafft einen der seltenen Glücksfälle, bei denen komplex verbundene solistische oder gruppendynamische Glanzstücke mit einer zärtlich-introvertierten Stimme eine attraktive, leichtfüßig-harmonische und bei aller Geschmeidigkeit auch fordernde Einheit eingehen. Menschen, die für die Musik von Susanna, Tindersticks, Andrew Bird, Pentangle oder David Sylvian schwärmen, werden wahrscheinlich auch großen Gefallen an dem Meisterwerk "Wide Open Space" von Roosmarijn finden.