Die Magie der Nacht diente Michael Moravek als Inspiration für die Entstehung von Songs, die auf intime Weise zerbrechliche Seelenzustände beleuchten.
Erlebnisse und Empfindungen, die mit der Nacht in Verbindung gebracht werden, sind vielfältig und kontrastreich. Für die einen ist es die Zeit der schäumenden Träume, die die Seele reinigen. Für andere bedeutet sie quälende Schlaflosigkeit mit kreisenden Gedanken. Manche machen die Nacht zum Tag und geben sich dem ausgelassenen Feiern hin. Für einige Leute sorgt die Dunkelheit dagegen für Angstzustände. Sie kann aber auch eine meditative Stimmung hervorrufen, was die Möglichkeit bietet, innere Ruhe herbeizuführen oder hilfreiche Erkenntnisse zu erlangen.
Die besondere Stimmung der Nacht hält also je nach Kontext zahlreiche Geschichten und Fantasien bereit, und elf davon erzählt Michael Moravek in seinen neuesten Songs.
Wie kann man Seelenfrieden finden, wenn Einsamkeit und Sehnsucht das Leben schwer machen? "Peace Of Mind" widmet sich diesem Thema und tunkt die Verse in Noten, die Wehmut und Besinnlichkeit transportieren, also zwischen Zweifel und Hoffnung angesiedelt sind, wie Michael bemerkt. Der traurig angelegte Folk-Song breitet einen zerbrechlich gewobenen, aus positiven Schwingungen bestehenden Teppich aus, der nur von einer gleichförmig angeschlagenen akustischen Gitarre, zarten Mandolinen- und Keyboard-Schwebeklängen, sparsamen Mundharmonika-Tönen und dem vorsichtig-leisen Gesang von Michael Moravek gestützt wird. Der Song kommt ohne Verschiebungen der Lautstärke und ohne Dynamiksprünge aus, was eine friedvoll-liebevolle Atmosphäre erzeugt.
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Menschen beim Schlafen das Licht anlassen. Auf poetisch-kluge Art und Weise beleuchtet Moravek für "People Leave Their Lights On" dieses Verhalten. Der Track transportiert hypnotisch-monotone und schlingernde Akustik-Gitarren-Akkorde, die ihm eine stoisch ablaufende Grundstimmung verleihen. Moravek nutzt diese stabile, gleichförmige Basis, um darauf seine Überlegungen sachlich, aber aufgrund der ausdrucksstarken Konstruktion auch eindringlich vorzutragen.
"Shiny Blue Hair" lebt von einer schillernden Symbolik, wobei ein Spielzeugkarussell eine Metapher für unbeschwert-freudige Zeiten bedeuten kann, ein Kaleidoskop mystische Welten darstellt und die Schneekugel den Wunsch nach etwas Beständigkeit in einer sich ständig veränderten Welt heraufbeschwört. Diese Empfindungen werden lyrisch mit einer geliebten Person verknüpft. Als besonders herausragend-attraktiv wird aber das glänzende blaue Haar der Partnerin, also ein optisch hervorstechendes Merkmal, erwähnt. Der swingende Folk lässt auch Jazz-Phrasen zu, was ihn zu einem leichtfüßig-unverkrampften Song mit Tiefgang werden lässt. Obwohl die Mandoline im Klangbild nicht prominent herausgestellt wird, ist sie hauptverantwortlich für den schwungvollen Aspekt der Komposition.
Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit macht sich im Text von "Chickenman's Blues" breit ("Die Unschuld stirbt für den Ruhm eines anderen reichen Mannes. Wenn du nicht reich bist, sondern arm."), die sich aber nicht bedrückend auf die Ausstrahlung des Tracks auswirkt. Die Musik schöpft ihre Faszination aus einem langsamen Groove, der das Stück genussvoll-lasziv vibrieren lässt.
Das Erstaunen über das eigene Dasein hat zu "Hush" geführt, einem Lied, das schlicht, beinahe nackt daherkommt, was die Instrumentierung angeht. Bescheidenheit und Demut kennzeichnen nicht nur den Inhalt, sondern auch den Ablauf. Daraus erblüht anmutige Folk-Gospelmusik, die originell gedacht und alternativ umgesetzt wurde.
"Kicking Stones" handelt von einer freigeistigen, unabhängigen Person, deren Reichtum ihre unerschütterliche Zuversicht ist. Der Song atmet schwülen US-Südstaaten-Soul und verleibt sich zwischenzeitlich auf raffinierte Weise einen anregenden Rhythm & Blues-Takt ein - und das alles im Rahmen eines vollmundigen Art-Folk-Gewandes. Die Musiker ermöglichen unter anderem durch den Kurzeinsatz einer selbstbewusst improvisierenden Orgel und durch beherzte Dynamikwechsel am Ende des Tracks die Entstehung einer ausgelassenen Southern-Rock-Jam-Band-Atmosphäre - und das alles bei einer Laufzeit von nur drei Minuten. Michael Moravek nennt seine Homepage übrigens nicht ohne Grund "novembersoulmusic". Wie passend, denn hier ist dieser Name mal wieder Programm!
"Dreams Seep Into The Earth" ist dagegen ein unspektakulär wirkendes Lied, welches auf eine eingängige Melodie als Hör-Reiz setzt. Der Track verweist auf Landschaftsbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien, wo Michael aufgewachsen ist. Es sind Eindrücke aus einer fernen Zeit, die sich neben anderen Kindheitserinnerungen fest ins Bewusstsein eingebrannt haben. Das Gehirn überlagert dabei zum Glück die schönen Eindrücke gegenüber den verstörenden Momenten. Das Lied bewertet allerdings nicht nach angenehmen und belastenden Situationen, es zählt auf, versucht, die im Gedächtnis gebliebenen Bilder zusammenzusetzen und nach Möglichkeit realistisch wiederzugeben.
"One Day I Will Write A Gospel Song": Dieser Wunsch hat sich eigentlich schon mit "Hush" erfüllt. Hier geht es nun mehr um die Strahlkraft eines Gospel-Songs, weniger um die musikalische Annäherung an diesen von religiöser Hingabe geprägten Musik-Stil. Ein fiktiver, optimal die Sinne erregender Gospel soll aus der Sicht von Michael zum Beispiel Ängste nehmen, eine Mauer gegen alle Bedrohungen aufbauen und das Selbstwertgefühl stärken. Er soll also genau das bewirken, was eindringlich-anspruchsvolle Musik im Grunde immer erreichen kann. Das Lied stellt Herzlichkeit und Besonnenheit in den Vordergrund. Das ist Easy-Listening in Form von purer Harmonie.
Der Leitspruch "was du nicht willst, was man dir tu, das füg`auch keinem andren zu" steht als eine der Aussagen bei "Station Of The Heart" im Raum. Es geht aber auch um persönliche Weiterentwicklung ("Bleib ruhelos wie der Wind und das Meer") und um das angsteinflößende Drohgebaren einiger Kirchenvertreter ("Der Prediger, der streng sprach, erschreckte uns mit dem ewigen Abgrund"). Aber letztlich wird das höchste Gut der menschlichen Verbundenheit gefeiert, die Liebe. Michael verpackt seine humanitären Aussagen in einen nachdenklichen Barock-Folk, bei dem die Bratsche eine führende Betroffenheits-Rolle übernimmt. Diese Atmosphäre erzwingt Aufmerksamkeit und das Ergebnis kann als milde melancholische Singer-Songwriter-Musik für Fortgeschrittene deklariert werden. Was die sympathische Qualität und die Intensität erklären soll.
"Merry Ship Of The Soul" bedeutet für Moravek "die Idealvorstellung einer Schiffsreise", wobei auf der Fahrt lauter Seelenverwandte dabei sein sollten, "die sich der Hoffnung verschrieben haben". Alle "Last und alles Krankmachende" wird zurückgelassen. "Stürmische Wellen zerlegen dann alle Ordnungen in ihre Bestandteile und fügen sie neu zusammen". So definiert der Musiker die Inhalte dieser Traumreise, die ihm Freiheit und Glück verspricht. Musikalisch beamt sich Moravek zurück in die intellektuelle Folk-Szene von New Yorks Greenwich Village, die um Mitte der 1960er Jahre nicht nur Bob Dylan, sondern auch hochsensible und/oder politisch aktive Musiker und Musikerinnen wie Phil Ochs, Eric Andersen, Odetta, Richard & Mimi Fariña oder Dino Valente hervorgebracht hat. Die Künstler haben versucht, mit einem individuellen Stil und stolzer Haltung die Gesellschaft positiv zu beeinflussen und die Welt etwas friedlicher und anständiger zu machen.
"Carefree State" verbreitet zum Abschluss des Albums hoffnungsvolle Gedanken. Das Lied kommt als Begleitung mit zwei Akustikgitarren aus, die forsch angeschlagen werden, aber auch Ruhepunkte bereithalten, sodass trotz der sparsamen Instrumentierung für einen interessanten Ablauf gesorgt ist.
Michael Moravek hat schon ein bewegtes Musikerleben hinter sich. 1998 gründete er das alternative Folk-Rock-Trio Planeausters, mit dem er fünf Platten produzierte. "Night Songs" ist jetzt auch Michaels fünftes Soloalbum, sein erstes ("In Transit (Is What We Are")) erschien 2017.
"Night Songs" wurde in der Besetzung: Michael Moravek (Gitarren, Vocals, Mundharmonika), Tomáš Skřivánek (Bassgitarre), Christian Krischkowsky (Schlagzeug), Andrej Polanský (Viola, Mandoline), Štěpán Vodenka (Keyboards) und Wibke Becker (Backing Vocals) eingespielt.
Michael Moravek erweist sich in dieser Konstellation einmal mehr als einfühlsam-glaubwürdiger Komponist sowie als gewandter Verfasser von klugen Texten und damit als kreativer Gestalter seiner Ideen. Sein unaufgeregter, aggressionsfreier Gesang erscheint häufig kumpelhaft-zurückgenommen und besticht dabei durch Ausgeglichenheit, nicht durch einen wilden Ritt durch die Oktaven. Die Musik spart jegliche klangliche Provokation aus. Stattdessen findet man neben jungfräulich-unschuldig modellierten Arrangements auch konstruktive Sound-Tüfteleien, die manchmal sogar dezent-psychedelische Effekte aufweisen.
Der Verehrung und dadurch dem Einfluss seiner Helden Bob Dylan und Mike Scott von The Waterboys ist Michael Moravek längst entwachsen. Sie tauchen höchstens nochmal am Horizont der Kompositionen als höfliche Ehrerbietung auf. Ansonsten sind die elf von nächtlichen Eingebungen durchdrungenen Tracks mit eigenständigen Konzepten gespickt worden, die ihnen eine unabhängige Substanz verleihen.
Moravek erweist sich als ein exakt beobachtender, poetisch-kluger Geschichtenerzähler, was er nicht nur mit seinen feinfühligen Songs beweist, sondern auch bei literarischen Ausflügen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind die drei überaus unterhaltsamen Beiträge zur Anthologie „Pop Steht Kopf“.