Und plötzlich ergeben die Einzelteile einen übergeordneten Sinn: "Out Of The Blue" von Olicía ist ein Musterbeispiel für intelligente, zugängliche und anregende Multi-Media-Kunst.
Fama M’Boup und Anna-Lucia Rupp, die für das Projekt Olicía zusammenfanden, haben eine präzise Vorstellung davon, was sie mit welchen Mitteln in ihrer Musik ausdrücken möchten. Die treffende Beschreibung der Fertigkeiten, die auf ihrer Homepage zu lesen ist, gibt einen bildhaften Überblick darüber ab, was von ihnen erwartet werden darf: "Die Musik von Olicía bewegt sich im Spannungsfeld zwischen menschlicher Stimme, akustischen Instrumenten, freier Improvisation und dem Einsatz moderner elektronischer Möglichkeiten. Irgendwann gaben sie ihr den Genrenamen „elektronischer handgemachter Loopjazz“.
Fragmentierter, elektronischer Soul, verspielter, mehrsprachiger Global-Pop, fragile Folk-Momente und ein dem Jazz entlehnter Improvisationsansatz innerhalb einer festen Struktur. All diese disparaten Elemente vereinen sie in erstaunlich prägnanten, direkten und emotionalen Popsongs."
Apropos bildhaft: Die Songs des neuen Werkes bekamen künstlerische Arbeiten in Form von Abbildungen oder Videos zugeordnet, die "als gleichwertiges Gegenstück" zur Musik fungieren und auch ein verbindendes Element darstellen.
Mit "Out Of The Blue" veröffentlichen die beiden Frauen, die derzeit in Leipzig und Berlin leben, ihr zweites Album. Das Debüt-Doppelalbum "Liquid Lines" erschien bereits im Pandemie-Problem-Jahr 2021. Die 14 neuen Tracks bringen wie selbstverständlich unter anderem sprühende Kreativität, musikalische Vielfalt und stimmungsvolle Poesie zusammen.
Für "Hidden Portraits" entwarf der Dresdner Fotograf Micha Steinwachs ein analoges Portrait-Foto, das einen zufällig getroffenen Menschen abbildet, jedoch kein Gesicht zeigt. Es taucht bei der Betrachtung die Frage auf, welche Persönlichkeit sich wohl hinter dem versteckten Antlitz verbirgt. Das Lied "handelt von diesem frischen Geisteszustand, in dem man eine andere Person kennenlernt. Man sieht jemanden, wie er ist, aber man zeigt oder nimmt nicht alles auf einmal wahr. Es gibt kleine Details, die man entdecken kann, aber andere, die noch nicht zu sehen sind", erwähnt Anna-Lucia. Und Fama führt weiter aus: "Bei alltäglichen Begegnungen zeigen wir Teile von uns, die wir bereit sind zu entblößen und andere zu verstecken. Und manchmal gilt das auch für intime Beziehungen." Die sanfte akustische Gitarre schmückt das Lied gelassen aus und Percussion-Klänge, die auf Basis von Stimm-Lauten generiert wurden, geben dem Song eine pfiffige Ausrichtung. Im Hintergrund läuft als Ablenkung ganz dezent ein Gespräch ab, das in einem Zug mitgeschnitten wurde. Gegen Ende der realitätsnahen Kulisse verströmt dann ein sinnlich-romantisches Klarinetten-Solo kammermusikalische Eleganz. So funktioniert lebendig-sensible Multi-Media-Hochkultur, die die Seele verwöhnt!
"Finally" zapft Texte der iranischen Autorin Sudabeh Mohafez an, die auch den Begriff "Out Of The Blue", was eigentlich "aus heiterem Himmel" bedeutet, verwenden. Olicía interpretieren diese Bezeichnung nicht nur als das Unerwartete, das positiv oder negativ erlebt werden kann, sondern auch als etwas, das quasi aus dem Nichts entstanden ist. Die weitblickenden Frauen kreieren zu dieser Überlegung einen dynamisch pulsierenden Song, der afrikanisch anmutende Rhythmik, vielschichtigen Gesang und melodische Besonderheiten verwendet und somit lebensfrohe und ausgeglichene Momente bereithält.
"Wie die einzeln gewebten Fäden einer Leinwand, die mit Kreidefarbe eingerieben wurden, gehen die verschiedenen Teile ineinander über und verschmelzen zu einer eigenen Struktur, die uns neu und doch vertraut erscheint", berichtet Fama M'Boup über das Kooperations-Ergebnis der abstrakten Malerin Claudia Kleiner, das sie für "Kleine Töne" beisteuert. Das zugehörige Lied beinhaltet "ein Gedicht (in deutscher Sprache) über den Prozess der Schaffung oder Wahrnehmung eines Kunstwerks, bei dem die Grenze zwischen Klängen und Farben auf fast traumhafte Weise verschwimmt." Drumherum spielt sich ein mit zwitschernden, zischelnden Klängen versehener, fröhlicher Jazz-Pop ab. Die dafür vermeintlich elektronisch erzeugten Bass- und Percussion-Töne stammen allerdings aus der Kehle von Fama M'Boup und beweisen erneut das beeindruckend kreative Gesangs-Potential der Damen.
Für "Branches" entwarf die Holz verarbeitende Künstlerin Dshamila Annina eine Installations-Collage und stellte zusätzlich Holz-Percussion-Instrumente zur Verfügung. Allerdings beginnt das Lied zunächst wie ein intimer, anglo-amerikanischer, Akustik-Gitarren-dominierter, detailreicher Hippie-Folk-Song. Erst die Sound-erweiternden Marimbaphon-ähnlichen Natur-Holz-Klänge verbreiten dann jede Menge fremdartiger Exotik. Der makellose, himmlisch-verführerische Duett-Gesang bildet nebenbei das krönende Sahnehäubchen für diese ausgeruhte und verspielte Komposition.
Die auf den ersten Blick schlicht aussehende optische Ergänzung zu "Warrioress" kam von der Schmuckdesignerin und Goldschmiedin Malene Glintborg aus Kopenhagen in Dänemark. Aus Famas Verständnis heraus kann Schmuck wie eine Rüstung sein oder wenn er spirituell mit unseren Wünschen aufgeladen wurde, als Schutz oder ein Kraftspender dienen. Das feierliche, sich voluminös steigernde Stück weist aus dieser Annahme heraus deutliche spirituelle, andachtsvolle und minimalistische Einflüsse auf. "In gewisser Weise vermitteln sowohl der Song als auch das Kunstwerk eine Vorstellung von Macht, von der Entfaltung ungeahnter Kräfte", beschreiben die Olicía-Musikerinnen die Wirkung der verbrüderten Darstellungen.
Der Hamburger Designer Gunther Kleinert hat sich Gedanken darüber gemacht, wie er "The Frame" zeichnerisch ins rechte Licht rücken kann: "Mein Ansatz war es, "Gruppen" von Instrumenten oder Gesängen zu bilden, um eine grafische Anordnung des Songs dekonstruktiv darzustellen." Olicía hatten bei der Gestaltung des Tracks die Vorstellung vor Augen, wie es wäre, über den Rahmen in ein Gemälde klettern zu können, um in etwa eine "Alice im Wunderland"-Erfahrung zu erleben. Und tatsächlich gibt es musikalisch etwas Dunkles, Mysteriöses und Rauschhaftes, mit dem man sich auseinandersetzen darf. Konturen verwischen, Stimmen wirken teilweise geisterhaft und die Sound-Effekte erzeugen eine albtraumhafte Atmosphäre.
Die Dresdner Modedesignerin Katharina Haydeyan gestaltete mit Olicía für den Song "Bloom" ein Uni-Sex-Hemd mit ausladender Passform, damit man sich darin frei und unbeschwert fühlen kann. Dem Namen entsprechend ist "Bloom" passenderweise ein Lied über Neuanfänge ("Ich fühle, wie sich der Wind in mir dreht, ein neuer Anfang"). Der Track entledigt sich relativ schnell seiner anfänglichen Zurückhaltung und mutiert zu einem munteren, vom Rhythmus unermüdlich angetriebenen Art-Pop mit tanzbarem Soul-Groove.
Der wortlose Gesang von "Circles" ist eine Demonstration der Kraft und Schönheit von zweistimmigen, femininen Duett-Partnerinnen. Dieser Eindruck erhält durch die meditative Konzentrations-Wirkung von rhythmischem Klatschen und dumpfen, hölzernen Percussion-Klängen eine naturidentische Ausstrahlung. Im Zusammenspiel mit den im neutralen Tonbereich angesiedelten elektronischen Schwingungen entwickelt sich daneben eine schnelllebige, aber intensive, harmonisch-komplexe Gemeinschaft.
"Circles" gehört zu einer Serie von insgesamt sieben einminütigen Miniaturen. Drei davon entstanden in Zusammenarbeit mit der Berliner Experimental-Filmerin Lisa Hoffmann und alle wurden an unterschiedlichen Stellen in den Song-Zyklus eingebaut.
Zu den Video-unterstützten Beiträgen zählt das in Französisch rezitierte und gesungene "Demandé", das von Hufgeklapper-Percussion untermalt wird, sowie das melancholische "One More Minute", bei dem die Frage aufgeworfen wird, was man tun würde, wenn nur noch eine Minute Leben übrig wäre und
die Piano-Ballade "Under White Sheets", der ein fiktives Gedankenspiel zugrunde liegt, bei dem sich Menschen unter geschützten Bedingungen ehrlich alles sagen dürfen, was sie in Wirklichkeit nicht aussprechen würden. Die Auswirkung auf die Beziehung ist dabei ungewiss.
Das hypnotisch-monotone, nur mit Gesang und Stimmgeräuschen aufgebaute "Two Steps Forward" vermittelt trotz der Kürze ein fertiges Pop-Konzept. In der Kürze liegt eben manchmal die Würze.
Das Spoken-Word-Zwischenspiel "Bälle" stellt die Zeilen: "Bälle im Kopf, die bouncen, als gäbs kein Morgen mehr. Zum Beispiel: einer für Ängste, einer für Freuden, zwei für ToDos und ein halber für mich" in den Mittelpunkt des Hip-Hop-artigen Geschehens und die Space-Sounds von "Microscope", die mit glasklarem und sirenenartigem Gesang veredelt werden, entführen gedanklich und inhaltlich in unbekannte Welten, die ihre Geheimnisse noch nicht völlig preisgeben.
"Out Of The Blue" ist das ambitionierte, innovative Multi-Media-Projekt zweier Frauen, die ihre Visionen von Musik, Poesie, Sound-Design und bildender Kunst in einem frischen Pop-Art-Kontext unter Beteiligung unterschiedlicher Künstlerinnen und Künstler zusammenfließen und wachsen lassen. Aufgrund ihres Fingerspitzengefühls und des gestalterischen Talents für die Erschaffung von fantasievollen, akustischen Klangwelten gelingt mit "Out Of The Blue" ein Song-Zyklus, der die Sinne mit Anmut betört und feinsinnige, klug konzipierte Spezialitäten bereithält. Bravissimo!