"Idiot Prayer" transportiert die Intensität eines speziellen Konzert-Ereignisses.
Nun also doch! Zunächst hieß es, dass das Livestream-Konzert von Nick Cave, dass am 19. Juni 2020 übertragen wurde, exklusiv den zahlenden Fans zur Verfügung stehe. Jetzt wird es die Show nicht nur auf Tonträgern (Doppel-CD, Vinyl, Download), sondern auch - wenn möglich - im Kino geben. Eine anschließende Vermarktung auf DVD/bluray ist dann wohl auch nicht mehr ausgeschlossen. Vielleicht war es der Druck der Fans, der diese Marketing-Kehrtwende möglich machte. Vielleicht auch die Intensität des speziellen Momentes, die Cave mit der Allgemeinheit teilen wollte. Er spricht im Zuge der Wirkung der Veranstaltung von einem "Gebet ins Nichts". Das mag man schon alleine aufgrund des Standortes nachvollziehen, denn das Alexandra Palace in London, in dem die Solo-Piano-Aufführung stattfand, ist im Grunde genommen nur ein riesiger leerer Raum.
Bei seiner "Conversation with..."-Tour, die noch bis Anfang 2020 lief, hatte Nick Cave oft reduzierte, auf den Kern zusammengeschmolzene Versionen seiner Songs vorgetragen und sie auf diese Weise neu entdeckt und alternativ interpretiert. Er spielte mit dem Gedanken, diese Sichtweisen im Studio nach und nach festzuhalten. Mit der Pandemie kam die Idee, sich dabei auch filmen zu lassen. Das Ergebnis umfasst nun 22 Songs in 84 Minuten, von denen "Euthanasia" bisher noch unbekannt war.
Das Repertoire zieht sich fast durch die ganze Karriere mit The Bad Seeds. Von "Your Funeral...My Trial" (1986) über "The Boatman`s Call" (1997, mit 5 Liedern vertreten) bis hin zu "Ghosteen" aus dem Vorjahr, das mit 3 Stücken dabei ist. Vom Projekt Grinderman fanden die Tracks "Man In The Moon" ("Grinderman", 2007) und "Palaces Of Montezuma" ("Grinderman 2", 2010) Einzug in diese intime Darbietung unter Corona-Bedingungen.
Cave beginnt seine musikalische Andacht mit dem "Spinning Song", einer gesprochenen Hommage an den "King Of Rock & Roll", die die Zeilen "Eine Zeit wird für uns kommen...Frieden wird für uns kommen" enthält. Ein Ausblick auf bessere Tage, die uns hoffentlich bald begegnen werden. Das Piano kommt ab dem zweiten Stück ("Idiot Prayer") zum Einsatz und wird der einzige Begleiter bleiben, der nicht nur tröstet, aufrüttelt und schmeichelt, sondern auch sentimentale Fantasien malt oder aggressive Zwischentöne einstreut.
Haben wir uns nicht schon lange gewünscht, den Barden ganz pur und unmittelbar erleben zu dürfen? Wie er sein Innerstes nach außen kehrt, sich verletzlich zeigt und dabei aber so stark auftritt, dass sich Ehrfurcht breit macht. Die ganze Bandbreite menschlicher Ausdrucksformen prasselt an die Ohren, regen das Hirn und die Hormone an. 84 Minuten voller Spannung, Leidenschaft, Dynamik, Sinnlichkeit, Wut, Zuneigung, Spiritualität, Liebe und Hingabe. Das muss man erst einmal aushalten - als Musiker, aber auch als Hörer.
Es gibt keine Ansagen und keine Kommentare auf den "Idiot Prayer"-CDs. Bis auf ein Lachen am Ende von "(Are You) The One That I`ve Been Waiting For" finden keine ungeplanten Emotionen statt. Der konzentrierte Cave fordert ungeteilte Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen, dafür spart er nicht mit Eifer, Wucht und Zärtlichkeit. Der Musiker ist ein Schamane, der auf Seelenfang geht - nicht aus Bosheit, sondern als Prophet und Heiler. Die universelle Kraft der Musik wird beschworen, die zur Reinigung und Energieübertragung eingesetzt wird.
Der galoppierende Irrsinn der Studio-Version von "The Mercy Seat" wird in zerstörerische Dramatik verwandelt. Es geht um Schuld und Sühne. Das sind schwere Mühlsteine, die dem Leben Sisyphus-Arbeit auferlegen können. Solch eine schwere Bürde verträgt keine leichte Muse. Aber auch dunkle Töne spenden Mut, versprechen Erlösung und zeigen Würde. Die Musik lässt sich bereitwillig auf die Transformation von Leid zu Zuversicht ein: Die Angst einflößende, körperlich bedrohlich wirkende Stimmung, die The Bad Seeds für "Stranger Than Kindness" erzeugen, weicht in der Solo-Fassung einer unglücklichen Ausdrucksweise, die stellenweise sogar Verzweiflung aufflackern lässt. Am Ende siegt dann aber doch der Lebenswille.
Da kommt "Into My Arms" genau richtig, um Vertrauen und Hoffnung wieder herzustellen. Das ist ein Lied, welches bei den Cave-Fans häufig als Favorit genannt wird. Der Titel entfaltet auch als sparsamer Beitrag seine aufbauende Qualität. "Papa Won`t Leave You, Henry" ist im Original ein getriebener, giftiger Rockabilly-Blues. Nick hat das Tempo aktuell domestiziert, die Eindringlichkeit aber konzentriert, so dass Aussichtslosigkeit hinter jeder Note hervor blickt. Das ursprünglich sphärische, märchenhaft instrumentierte "Galleon Ship" bekommt in der Neuinterpretation eine lieblich-versöhnliche Ausrichtung, die die klare, unschuldige Reinheit der Komposition in den Mittelpunkt stellt.
Wollten wir nicht immer schon erleben, wie uns Nick Cave in Beugehaft nimmt und wir demütig und verzückt seinen Predigten lauschen können, um danach ein wenig weiser, zufriedener und überzeugter zurück in unser Leben zu gehen? "Idiot Prayer" gibt uns die Gelegenheit dazu. Grade weil der Auftritt ohne Publikum eingespielt wurde, vermittelt er noch mehr den Eindruck, er sei speziell für uns entstanden. Cave steigt mit "Idiot Prayer" endgültig in den Olymp auf, denn nur wer alleine ein ganzes Konzert mit Haltung, Besessenheit und Charisma durchstehen kann, ohne langatmig zu sein, der gehört wirklich zu den ganz Großen. Und dieses Kunststück ist hier eindrucksvoll und überzeugend gelungen.
Diese Kompositionen hat Nick Cave für die "Idiot Prayer"-Aufführung ausgewählt (in Klammern der Ursprungs-Fundort der Komposition):
Disc 1:
01. "Spinning Song" ("Ghosteen", 2019)
02. "Idiot Prayer" ("The Boatman`s Call, 1997)
03. "Sad Waters" ("Your Funeral...My Trial", 1986)
04. "Brompton Oratory" ("The Boatman`s Call", 1997)
05. "Palaces Of Montezuma" ("Grinderman 2", 2010)
06. "Girl In Amber" ("Skeleton Tree", 2016)
07. "Man In The Moon" ("Grinderman", 2007)
08. "Nobody`s Baby Now" ("Let Love In", 1994)
09. "(Are You) The One That I`ve Been Waiting For" ("The Boatman`s Call", 1997)
10. "Waiting For You" ("Ghosteen", 2019)
11. "The Mercy Seat" ("Tender Prey", 1988)
12. "Euthanasia" (previously unreleased, 2020)
Disc 2:
01. "Jubilee Street" ("Push The Sky Away", 2013)
02. "Far From Me" ("The Boatman`s Call", 1997)
03. "He Wants You" ("Nocturama", 2003)
04. "Higgs Boson Blues" ("Push The Sky Away", 2013)
05. "Stranger Than Kindness" ("Your Funeral...My Trial", 1986)
06. "Into My Arms" ("The Boatman`s Call", 1997)
07. "The Ship Song" ("The Good Son", 1990)
08. "Papa Won`t Leave You, Henry" ("Henry`s Dream", 1992)
09. "Black Hair" ("The Boatman`s Call", 1997)
10. "Galleon Ship" ("Ghosteen", 2019)