Sinnkrise als Kreativitäts-Schub: Die drei Frauen von Wyvern Lingo machen vor, wie das geht.
Wenn man beinahe 30 Jahre alt ist, dann ist wahrscheinlich die richtige Zeit gekommen, um inne zu halten und sowohl zurück wie auch nach vorne zu schauen. Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht und welche Weichen habe ich gestellt? Was sollte ich korrigieren und wie soll mein Leben in 10 Jahren aussehen? Die ungestüme Jugend ist vielleicht in diesem Alter grade vorbei, aber die noch vorhandene Energie lässt jeglichen Stillstand unmöglich erscheinen. In dieser Phase befinden sich grade die drei irischen Jugend-Freundinnen Karen Cowley, Caoimhe Barry und Saoirse Diane, die als Wyvern Lingo ihr zweites Album "Awake You Lie" fertig gestellt haben.
Von gegenseitigem Trost ist die Rede, der nötig tat, um die geschilderte Sinnkrise nicht nur einordnen sondern auch bewältigen zu können und die Erkenntnisse in die Lebensplanung einfließen zu lassen. Musikalisch setzt das Trio auf Vielseitigkeit. Als Einflüsse geben sie Classic-Rock-Acts wie Thin Lizzy oder Led Zeppelin sowie Singer-Songwriter wie Joni Mitchell oder Simon & Garfunkel an, die sie über die Platten-Sammlungen ihrer Eltern kennen gelernt haben. Außerdem fließen eigene R&B-Vorlieben für Destiny's Child, Solange, Beyoncé oder Rhianna als Sound-Vorstellungen in ihre Songs mit ein. Unvereinbare Gegensätze? Nicht für Wyvern Lingo!
Zwischen den drei Frauen wird Harmonie groß geschrieben. Sie gehen offen und ehrlich miteinander um und kennen sich so gut, dass sie wie eine geschlossene Einheit agieren können. Ihr Handeln ist so aufeinander abgestimmt, dass individuelle Gesichtspunkte bestimmend bleiben, die Musikerinnen dabei jedoch ihre Kenntnisse konzentriert zum Wohle der Kompositionen einsetzen. Der Auftakt "Only Love Only Light" drückt dies alles aus: Würde, verführerischer Überschwang, rhythmischer Trotz sowie stimmliche Eigenarten und gleichgesinnter Einklang.
Die Ballade "Rapture" verbindet Folk und Soul so miteinander, dass sowohl sinnliche wie auch romantische Gefühle betont werden. Beim selbstbewussten, soft-rockigen "Don't Say It" spielen sich die Damen nach und nach frei. Sie entwickeln dabei eine aktiv-bewegliche Strömung, die das Lied organisch vorwärts trägt und zum Schluss in Überschwang münden lässt.
Die Lieder "Sydney" und "Aurora" profitieren von den Classic-Rock-Kenntnissen der irischen Frauen, weil sie dadurch genau wissen, wie sich ein spannendes Gitarren-Solo anhören muss: Zwingend, derbe, melodisch grundiert und möglichst nicht zu lang sollte es sein. Dann kann das Stück auch noch gerne in eine charmante Soul-Umgebung eingebunden werden. Also: Alles richtig gemacht! Das perlende E-Piano verheißt bei "There's A Place" empfindsame, genüssliche Leichtigkeit. Der Gesang suggeriert erwartungsvolle Verlockungen und der Rhythmus vermittelt heftiges Herzklopfen. "Things Fall Apart" wuchert danach mit Dynamiksprüngen, Intimität, Kraft, Durchsetzungsvermögen und Individualität, dass es eine Freude ist. Mit Frische, ungewöhnlichen Einfällen und warmherzigen Gesängen erobert der Track das Gehör im Sturm.
Der Folk-, Pop- und Rock-Einfluss von "Ask Away" wird mit dezenten Funk-Rhythmen angefüttert, die den leidenschaftlich gesungenen Track treu begleiten und ihn vor ausufernden Gefühls-Auswüchsen beschützen. Was als soulige Piano-Ballade beginnt, führt bei "Full Height" zu einem übermütigem Pop-Chanson mit sehnsüchtigem Gesang und aufgewühltem Temperament bei flehender Emotionalität. Eine drängende Gefühlslage wird hier komprimiert dargestellt, was sehr intensiv rüber kommt.
Auf einem jazzig swingenden Untergrund gleitet "In Colour / On The Mend" geschmeidig dahin und beschwört die beseelte Spiritualität der Gospel-Musik, die Kraft spendenden Geister des Folk-Rock und die meditative Ruhe von Space-Sounds herauf. Heraus kommt ein origineller, weltoffener Track mit ungewöhnlichen Wendungen, die erstaunlicherweise Sinn ergeben und gut zusammen passen.
War der Erstling "Wyvern Lingo" (was soviel wie "Spezialsprache der zweifüßigen Drachen mit Flügeln" heißt) aus 2018 schon ein überzeugendes Album, so ist "Awake You Lie" hinsichtlich Kompaktheit und Ideenreichtum ein weiterer Schritt nach vorne in Richtung unsterblicher Pop-Musik. Bunte Sound- und Stil-Verwirbelungen sorgen weiterhin für unterhaltsame Attraktivität. Das Trio verfügt über eine ausgeprägte Musikalität mit einem untrüglichen Gespür für stilistisch breit angesiedelte Kompositionen, die Anspruch und Hingabe sowie Tradition und Moderne unvoreingenommen zusammen bringen.
Die Musikerinnen haben noch eine Botschaft zu ihrem zweiten Album parat: "Ein wiederkehrendes Bild während des Schreibprozesses dieses Albums war das Licht, der Mangel daran und der Wunsch, die Dinge klarer zu sehen, für uns selbst und andere. Wir haben das Album „Awake You Lie" genannt, weil es ein Bild der Nacht heraufbeschwört, wenn jemand schlafen sollte, es aber nicht kann, weil er unruhig ist oder sich Sorgen macht. Im Licht des Tages sind die Dinge immer klarer." "Awake You Lie" macht Mut - nicht nur in Pandemie-Zeiten.