"SAFT" ist reifer, nachdenklicher, erkämpfter. Meinen die Botticelli Baby-Musiker.
Sandro Botticelli war ein italienischer Maler, der der Renaissance zuzurechnen ist und vom 1. März 1445 bis zum 17. Mai 1510 lebte. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die "Geburt der Venus", welches um 1485 herum entstanden sein soll. Auf dem Gemälde ist jedoch nicht die Geburt der Göttin Venus, sondern deren Landung auf der Insel Zypern dargestellt. Vortäuschung falscher Tatsachen? Vielleicht, aber niemand wird deshalb von dem Bild enttäuscht sein, denn die Kraft und Fantasie, die es ausstrahlt, spricht für sich. So verhält es sich auch mit der Musik des Septetts Botticelli Baby aus Essen: Der Name der Gruppe, ihre Herkunft und die Zuordnung innerhalb der Stile ist nicht von Bedeutung, sondern nur die Wirkung, Energie und Eindringlichkeit ihrer Musik zählt.
"SAFT" kann gesund und heilsam sein, was für die Formation Botticelli Baby als Metapher für den Albumtitel reicht. Ihre Konzerte bezeichnen die Künstler als Saftpartys, nämlich als "eine von Botticelli Baby durchgeführte Veranstaltung, die zur Vermittlung eigener Seinszustände und Ideen zum Weltgeschehen, durch musikalischen und vokalen Vortrag zum Mitmachen und Räsonieren animiert". Aber genug der Theorien und den absichtlich im Nebel gehaltenen Beschreibungen, Einschätzungen und Zuordnungen der Botticelli Baby-Musik. Halt, eins noch, das möchte die Gruppe noch zu ihrem dritten Album loswerden: ""SAFT" ist reifer, nachdenklicher, erkämpfter. Die Soli erzählen mehr Geschichten, die Texte sind poetischer. Die Party zum Leben fehlt jedoch keines falls. Vielschichtig ist dieses Album und facettenreich, wie immer..."
Was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Da drucksen die Botticelli Baby-Männer nicht unnötig rum. Von ausgedehnter Weiterentwicklung und von ausgelassener Party-Stimmung ist die Rede. Das macht neugierig. Die Einleitung ("Prelude") zu "SAFT" lässt den Hörer aber weiterhin darüber rätseln, wohin die Klang-Reise gehen soll. Sind Botticelli Baby etwa eine verkappte Zirkuskapelle oder stammen die Musiker eventuell vom Balkan?
"The Inner Hulk" räumt dann mit diesen Annahmen vollständig auf. Der Bass wummert druckvoll, brachial, dominant und trocken, als würde das Herz bis zum Hals schlagen. Die Bläser-Fraktion sorgt mit klug hingetupften sowie raumfüllenden Show-Band-Einlagen für Stil-Verwirrung und glänzt zwischendurch mit inspirierten Solo-Einlagen, die dem Track einen Sinn stiftenden Anstrich verleihen. Der Gesang folgt dieser scheinbar ins Nichts führenden Mischung konstant auf gleichmütige Art und Weise. Die Gruppe liefert damit eine geschmackvolle Visitenkarte ab, die die Grenzen zwischen Lied und Lautmalerei neu bestimmen.
"Joy Passed By" swingt und rockt im gediegenen Retro-Sound. Feurig umgarnen sich die Musiker und sorgen mit Teamgeist und Elan für Spaß. Das ist der Stoff, der seit ewigen Zeiten Tänzer anlockt und diese dazu animiert, aus sich heraus zu gehen. Das ist auch der Urschleim, aus dem Jazz, Rhythm & Blues und Rock & Roll gekrochen sind. "Kiss Me" hinterlässt den Eindruck einer kraftvoll-süffigen Brass-Band, die genauso gerne Funk- wie Jazz-Grooves verarbeitet. Und sogar Marschmusik steckt da als zusätzlicher, kurzzeitiger Animateur drin. Auch hitzig-beklemmender Thriller-Jazz klingt an. Brodelnd und spritzig zeigt der musikalische Kompass hier nach New Orleans, wo der Mardi Gras auf diese Kapelle wartet.
Beschaulich-ausgleichend legt sich für "Vagabond In A Dandy Suit" ein Bläser-Teppich über den unruhig-nervösen Rhythmus. Der Song wird mutig vorwärts gepeitscht und von abenteuerlichen Solo- und Ensemble-Exkursionen durchzogen. Die kleine Big Band sorgt mit unvorhersehbaren Wendungen für große Überraschungen. Sowohl zupackend, elegant und verspielt, als auch sanft perlend erscheint "Follow Me". Die Musiker lassen dabei in knapp viereinhalb Minuten hymnisch-intimen Jazz, coolen Smooth-Funk und psychedelischen Rock ineinander laufen. Suggestiv-hypnotisch fordert die Stimme: "Follow me, I`m fallin`" und die Musik gerät dazu in einen verheißungsvoll-rätselhaften Strudel.
Trauer und Wut liegen manchmal dicht beieinander. So auch bei "Yes". Hier tropfen die Noten zunächst schwer belastet zu Boden. Sie ordnen sich dann zu einem zähen Schwall und zerbersten schließlich unter lautem Getöse mit Unterstützung von heftigem, bösem Gesang. Danach tritt Zufriedenheit ein. Punk und Jump-Blues stellen die Inhaltsstoffe zur Verfügung, aus denen das flotte "Plant Pot" und das rasante "Crash Test Dummy" gebastelt wurden. Die Rhythmus-Fraktion treibt die Stücke an und die Bläser greifen den Schwung auf, um ihn zu konservieren. Kurze Verschnaufpausen sorgen bei dem hohen Tempo dafür, dass sich die euphorisierten Akteure sammeln und neu orientieren können.
"1:30" ist zwei Minuten lang und reflektiert mit seinem schwindelerregenden Tempo und seiner aufbrausenden Dynamik das wilde, ausschweifende Nachtleben der 1920er Jahre. Ein Einsatz des Tracks in der Serie "Babylon Berlin" ist deshalb nicht ausgeschlossen. "New Year Chez Les Vikings" steigert sich von lyrisch-ruhigen Momenten über saft(!)ige Fanfaren bis hin zu ekstatisch-eruptive Free-Jazz-Ausbrüche und "Ballerspring" fördert zum Schluss weitere kreative Ideen von Marlon Bösherz (Gesang, Bass), Alexander Niermann (Trompete), Jörg Buttler (Gitarre), Lucius Nawothnig (Piano), Maximilian Wehner (Posaune), Jakob Jentgens (Saxophon) und Tom Hellenthal (Schlagzeug) zu Tage. Die Gemeinschaft bringt das dynamisch in alle Richtungen ausschlagende Stück mit Energie, Fantasie, Übersicht und jeder Menge Spontanität über die Ziellinie.
Der Gesang und die Instrumente hinterlassen bei "SAFT" den Eindruck, als wäre die Musik nicht komponiert worden, sondern würde erst als logische Folge aus der Gedankenwelt des Sängers spontan entstehen. Es ergibt sich quasi eine fruchtbare Allianz als Call & Response Situation zwischen den Schwingungen der Stimmbänder und denen der Instrumente. Der Gesang von Marlon Bösherz hält den bunten Kosmos von Klängen und Emotionen dabei mit Übersicht zusammen. Er dirigiert, spaltet sich ab, verstärkt und besänftigt - alles um die elektrisierende Wirkung der Kompositionen zu erhalten. Ohne Stimm-Beitrag wäre die Gruppe "nur" ein exzellentes Crossover-Ensemble. So besitzt sie ein individuelles Alleinstellungsmerkmal, aufgrund dessen sie in keine Schublade passt. Die Musik überzeugt ohne Etikett durch traumwandlerisches Timing, solistische Sahnestücke sowie je nach Bedarf, entweder druckvollem oder sensiblem Zusammenspiel.