Harmonischer Pop mit Substanz und Widerhaken ist das gelungene Konzept von "Freeze Where U R".
"Freeze Where U R" zeigt auf, was möglich ist, wenn Seelenverwandte zur richtigen Zeit zusammen finden, um gemeinsam ihre losen Ideen zu fertigen Songs zu formen. Dann können aus Rohdiamanten Edelsteine entstehen. Dieses Phänomen gelang Brisa Roché & Fred Fortuny auf beeindruckende Weise. Getrennt voneinander bewiesen sie schon ihr Talent, als Duo schwingen sie sich zu ungeahnten Möglichkeiten auf. Die beiden Musiker trafen sich bereits vor zehn Jahren, verloren sich danach zwar nie gänzlich aus den Augen, fanden aber erst jetzt Zeit, um ihre Entwürfe zu einem Werk zu fusionieren: Die Stücke sorgen für wohltuende Assoziationen, bringen Vergangenes zum erstrahlen, lassen die Gegenwart glänzen und auf eine schillernde Zukunft hoffen. Die Künstler demonstrieren mit ihren Kompositionen eine schöpferische Reife auf Basis langjähriger Erfahrungen und statten ihre Lieder originell und geschmackvoll aus.
Aber wer sind die Protagonisten hinter diesem stimmigen Pop-Album? Brisa Roché wurde 1976 in einem Haus am Strand von Nord-Kalifornien geboren. Ihre Hippie-Eltern zogen in die Berge, als sie 13 war und dort musste sie ohne Strom und fließendes Wasser klar kommen. Mit 16 ging sie von zuhause fort und erlebte in Seattle die Grunge-Welle. Danach zog es sie nach Paris, wo sie den Jazz und das Chanson aufsaugte und 2005 ihr erstes Album auf dem renommierten Blue Note-Label einspielte. Im Anschluss pendelte sie immer wieder zwischen Kalifornien und Frankreich, wodurch die Singer-Songwriter der 1970er Jahre, die sie durch ihre Eltern kennen gelernt hatte, präsent blieben.
Diese Prägungen bestimmen grundsätzlich das Verständnis vom Songaufbau, von Harmonie und von sensibler Dynamik. Brisas Potential war schon früh - selbst auf dem unausgegorenen "Invisible 1" von 2016 - zu erkennen, aber längst noch nicht formschön ausgeprägt. Seitdem kam es jedenfalls zu einer enormen künstlerischen Entwicklung, weshalb "Freezy Where U R" jetzt in seiner anspruchsvollen und abwechslungsreichen Schönheit erstrahlen kann. Aber Brisa hat auch noch ein anderes Anliegen umsetzen können: „Ich habe über Momente und Themen aus unterschiedlichen Abschnitten in der Lebensgeschichte einer Frau geschrieben – betrachtet durch die emotionale Linse meines aktuellen Lebens, meines Daseins im Hier und Jetzt. Emanzipation, nostalgische Gefühle für längst vergangene Liebschaften, Wut auf Männer, Trennung und Unabhängigkeit in der Arbeit, immer neue Kapitel, die man anfängt, das Auflehnen gegen die Sklaverei, die der technologische und virtuelle Fortschritt mit sich bringen.…“ Diese Inhalte werden in den neuen Songs behandelt und sorgen auch im poetischen Bereich für ein zuverlässig hohes Niveau.
Genau so wichtig für dieses Projekt ist Fred Fortuny als gleichberechtigter Partner, der zwar aus dem Hintergrund zu agieren scheint - wie auch das Cover-Foto der Platte suggeriert - aber in seiner Rolle des spirituellen Direktors mindestens so entscheidende und richtungsweisende Impulse lieferte, wie es George Martin für die Beatles tat. Außerdem hat er als Arrangeur, Komponist, Musiker, stilistisches Gegengewicht und Seelsorger einen erheblichen Anteil am Gelingen von "Freeze Where U R". Bisher ist der zurückhaltende Künstler allerdings relativ selten in Erscheinung getreten. Von Ende der 1980er Jahre bis hinein in die 1990er Jahre war er als Bassist, Gitarrist und Keyboarder Mitglied der französischen Power-Pop-Band Love Bizarre, die offensichtlich von den Beatles, den Kinks und Big Star beeinflusst war. Zuletzt arbeitete er oft mit dem französischen Autor, Komponisten und Performer Da Silva zusammen.
Fred hörte in einem Urlaub auf Mallorca im Jahr 2000 zum ersten Mal "Tapestry" (1971) von Carole King, was für ihn eine Offenbarung war. Dieser Sound ist jetzt oft ein leitendes Licht, das "Freeze Where U R" bevorzugt erhellt. Seit diesem Urlaub träumt Fortuny davon ein Album aufzunehmen, das vom Laurel Canyon-Sound solcher Künstler wie The Byrds oder The Mamas & The Papas und von erfahrenen Songwritern wie Jimmy Webb beeinflusst ist. Diesem Ziel ist er nun sehr nahe gekommen.
Das Album beginnt kurioserweise mit dem "Last Song". Warum sollte man ein Pferd nicht auch mal von hinten aufzäumen? Inhaltlich geht es um die Verarbeitung einer zerbrochenen Beziehung. Es werden sozusagen letzte Worte gesprochen und Bewältigungsstrategien ausprobiert, bevor das Thema zu den Akten gelegt werden kann. Das Lied wurde reich und detailverliebt instrumentiert, treibt schwelgerische Gefühle auf die Spitze, verwendet zwischendurch ruhige Sequenzen zur Spannungssteigerung und seltsame, hohe Chorstimmen zur Betonung der Extravaganz. Der Gesang drückt dazu feierliche Eleganz und ein individuelles Jubeln aus, wie es Joni Mitchell gerne als Stilmittel benutzt. Ganz große Klasse! Auch "You Were Mine" ist fantasievoller, anspruchsvoller Pop für Erwachsene, der als Bezugspunkt ausdrucksstarken Gospel-Folk-Jazz-Gesang präsentiert, wie er von Laura Nyro ("Wedding Bell Blues") kultiviert wurde.
"Tempted Tune" und "Blue Light" wurden maßgeblich von den amerikanischen Musicals der 1940er und 1950er Jahre - wie "Showboat" - beeinflusst, die bei der musikalischen Sozialisation von Fred Fortuny eine große Rolle spielten. Diese kurzen, romantischen Retro-Vaudeville-Nummern stützen sich voll und ganz auf die sympathische Wirkung einer ausdrucksvollen Stimme in Verbindung mit einem einfühlsamen Piano. Sie verbreiten eine Behaglichkeit aus einer guten alten Zeit, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Und "Blue Light" klingt zusätzlich noch wie eine demütige Verneigung vor Billie Holiday.
"Don't Want A Man" scheint dafür gemacht worden zu sein, groß inszeniert zu werden. Ein üppiges Bühnenbild, allerlei Tänzer und diverse Musiker erscheinen vor dem geistigen Auge, wenn dieser ausladende Show-Pop der besseren Sorte ertönt und mit hymnisch-würdevollem und lustvoll-verzücktem Lead-Gesang bestückt wird. Der Track "Freeze Where U R" bekommt Anregungen von der experimentellen Phase der New Wave- Szene aus den End1970er Jahren verliehen, als schräge Samples ausprobiert wurden und die suggestiv-monotone Elektronik des Kraut-Rock ein Revival erhielt. Bei Brisa Roché stehen Can und ganz besonders deren 20minütiges "Yoo Doo Right" vom "Monster Movie"-Album aus 1969 nämlich hoch im Kurs. Für die Komposition "Freeze Where U R" werden dröhnende, perkussiv verfremdete Maschinenklänge zu Gehör gebracht. Sie klingen so übermächtig, als hätten Roboter die Weltherrschaft übernommen. Genau die gleichen Effekte benutzte übrigens das Art-Rock-Genie Peter Hammill für sein "A Motor-Bike In Afrika", das auf "The Future Now" aus 1978 zu finden ist.
Über diesem Gerumpel hinweg singt Brisa ungerührt, ausgeglichen und ruhig. Sie sorgt so für ein Sound-Bild, das zwei völlig unterschiedliche Seiten enthält, als würde Yin mit Yang um Vorherrschaft kämpfen. "Woman With A Star" und "Window Gun" sind stilvolle Übungen in Harmonielehre. Mit Hilfe von Soft-Rock- und Folk-Pop-Elementen entstanden diese Lieder, die so leicht daher kommen, als könnten sie in Milch schwimmen. Wobei sie durch ihre prägnanten Melodien ohne Weiteres einen Ohrwurm auslösen können.
So verdreht, wie das Wortspiel "I Yove Lou" ist, ist auch die Musik zu diesem Track. Hier werden Tonfragmente zufällig zusammengefügt, die aus der Betätigung des Sendersuchlaufs eines Radios zugesteuert zu sein scheinen. Das ist eine Übung in alternativer Aufmerksamkeitssteigerung, die dem Ablauf eine unruhige, aber anregende Brisanz verleiht. Die optimistisch gestimmte Ballade "I Do Not Need Repair" zapft sowohl Late-Night-Jazz wie auch barocke Klassik und coolen Rhythm & Blues an. Deshalb klingt das Stück auch so eigenständig, intelligent und ungewöhnlich.
Das kunstvoll verschnörkelte "The Pattern" sendet Morse-Signale ins All und lässt exotisch-surreale Klang-Landschaften entstehen. Dennoch wirkt das Stück zutraulich und nahbar. Art-Pop für Hirn und Seele. Das hat was von der sensiblen Pop-Avantgarde von Julia Holter. Das feinfühlige "Quite Clean" verströmt hingegen Reinheit, Offenheit und ausgeglichene Gelassenheit, so dass der fragil-spartanisch instrumentierte Song sowohl zerbrechlich-verletzliche wie auch ernsthaft-beharrliche Momente besitzt. Schönheit entsteht eben auch aus Bescheidenheit heraus.
Deuten die bislang verwendeten Beschreibungen und Formulierungen etwa auf Lobhudelei, Übertreibung und Fehleinschätzung hin, wo doch die anderen Werke der Künstler nicht diese vollständige Überzeugungskraft besaßen? Wohl kaum, denn die individuelle Art der Präsentation und die kreative Umsetzung der Ideen von Brisa Roché & Fred Fortuny lassen keinen Zweifel an ihrer professionellen, überlegten und überlegener Vorgehensweise zu.
Die Mischung macht die überzeugende Wirkung aus. "Freeze Where U R" ist deshalb so unterhaltsam und interessant, weil das Album als Gesamtkunstwerk mit facettenreicher Mosaik-Technik zu betrachten ist. Eingängige, einnehmende Pop-Songs stehen neben provokativ ausgerichteten Stücken. Der Pop ist dabei nicht zu süßlich und die Wagnisse sind nicht zu kopflastig ausgefallen. Ausgewogenheit ist das Gebot der Stunde, Anregung der Sinne trotzdem eine Pflicht. Brisa Roché & Fred Fortuny haben sich als Traumpaar des anspruchsvollen Pop profiliert, wobei der Anspruch darin besteht, bewährte Konstellationen und innovative Kreationen so zu fusionieren, dass beim Hörer nie der Eindruck entsteht, aufgewärmte Retro-Kost oder sinnentleerte Fingerübungen serviert zu bekommen. Das ist vollauf gelungen. Vielleicht ist "Freeze Where U R" schon jetzt eines der Pop-Alben des Jahres.