Für Sophie Hunger ist "Halluzinationen" ein anderes Wort für Musik.
Halluzinationen sind optische oder akustische Sinnestäuschungen, die durch Erkrankungen des Zentralen Nervensystems oder durch chemische Substanzen hervorgerufen werden. Sie können aber auch eine völlig neutrale Ursache haben. Einen wachen, vor Aktivität sprühenden Geist zum Beispiel. Der kann bei der in der Schweiz geborenen und derzeit in Berlin lebenden Künstlerin Sophie Hunger auf jeden Fall vorausgesetzt werden. Die 37 Jahre alte Frau ist mehrsprachig aufgewachsen und zeigte im Zuge ihrer bisherigen Veröffentlichungen ein ausgesprochenes Talent für unerwartete Wendungen und unkonventionelle Stilbrüche in der Musik.
Das siebte Album "Halluzinationen" entstand an nur zwei Tagen in den berühmten Abbey Road-Studios in London. Und das wieder unter der Regie des Produzenten Dan Carey. Es knüpft also im Prinzip da an, wo die letzte Platte "Molecules" von 2018 aufgehört hat, für die allerdings ein Entstehungsprozess von sechs Wochen nötig war.
Das aktuelle Werk wurde insgesamt sechs Mal mit fester Band ohne Overdubs eingespielt und eine Auswahl daraus fand jetzt den Weg auf den vorliegenden Tonträger. Ein Großteil der verwendeten Aufnahmen stammt aus dem vierten Take, also dem ersten Durchlauf am zweiten Tag, als die Produktion eigentlich schon im Kasten war und eine gewisse Anspannung in Lockerheit überging.
Was diesen Liederzyklus mit dem Vorgänger verbindet, ist der auffallende, prägende Einsatz von elektronischen Instrumenten. Was die Musik vorrangig unterscheidet, ist der aktuelle, intensiv-attraktive Einsatz eines richtigen Schlagzeugs von Julian Sartorius, was wesentlich zur Lebendigkeit der Stücke beiträgt.
"Liquid Air", der Titel des Openers, ist ein Begriff aus der Berliner Kneipen-Szene. Es handelt sich dabei um einen angesagten Pfefferminzlikör (auch "Berliner Luft" genannt), durch den das Thema "Nachtleben" nach dem Song "I Opened A Bar" von "Molecules" nochmal aufgegriffen wird. Als Untermalung bildet sich ein Funk-Swing heraus, der aufgrund seiner Brüche und Tempowechsel - verbunden mit kreiselnder Space-Age-Elektronik - ein packendes Wechselspiel aus Melodie-Seligkeit und rhythmischem Knistern aufbaut. Es lebe die Vielfalt!
"Finde Mich" macht als zackiges Jazz-Chanson eine gute Figur. Das Piano bestimmt den treibenden Puls und das Schlagzeug spielt dazu elastische Figuren, die von Sophie gesanglich individuell unterschiedlich ausgepolstert werden. In der Lyrik begegnen sich die Begriffe "Wahrheit und Wahn", die die Komponistin in einen thematischen Zusammenhang gebracht hat. In einer besseren Welt wäre das Lied ein Hit!
Mit dem Song "Halluzinationen" taucht die Musikerin wieder offensiv in ihre schon oft praktizierte kontrastreiche Welt ein. Die Musik beginnt mit eckig-zickigen Tönen, nimmt aber später nach Harmonie gierende Passagen auf, um sich im Anschluss wieder in einen Wechsel aus Unbequemlichkeit und Sympathie-Bedürfnis zu begeben. Textlich wird dieses Konstrukt mit Schilderungen, die sowohl Abscheu wie auch Begeisterung ausdrücken, garniert. Ein Hoch auf die gemischten Gefühle!
Das pulsierend-quirlige Piano verbreitet im Track "Bad Medication" eine gewisse präzise Klarheit und autoritäre Ordnung, die im Allgemeinen der Klassik zugeschrieben wird. Die weiteren Beteiligten sind eifrig damit beschäftigt, die Stimmung kunstvoll aufzulockern, ohne Übermut walten zu lassen. Yin trifft auf Yang!
Eine gewisse Eile befällt "Alpha Venom". Geräusche, die sich wie eine schnaufende Dampflok anhören, geben dem Electro-Pop zusätzlich den Anschein, rasch ein Ziel erreichen zu wollen. Dennoch gerät das Lied nicht aus den Fugen und wird diszipliniert zu Ende gebracht. Ein Triumph des Willens!
Der nicht nur sprachlich merkwürdige Titel "Rote Beeten Aus Arsen" bezieht sich auf eine Suppe, die in dem geschilderten Zusammenhang von einer fiktiven, rationalen, desillusionierten deutschen Frau gekocht wird. Deren nicht grade schmeichelhaftes Psychogramm liegt dieser intensiven, romantisch-düsteren Piano-Ballade inhaltlich zugrunde. Die Seele kann ein dunkles Loch sein!
Es folgt ein Kontrast: Das tanzbare, zweckoptimistische "Everything Is Good", will gute Laune unbedingt mit einer hüpfend-leichten Melodie erzwingen. Der Titel referenziert auf eine Zeichnung von David Shrigley, bei der drei Daumen überdimensional in die Höhe gestreckt werden. Humor ist, wenn man trotzdem lacht!
Bei "Maria Magdalena" geht es um eine Prostituierte, die Sophie aus dem Fenster ihrer Wohnung beobachtete, was bei der pfiffigen Musikerin eine fantasievolle Vorstellung (oder nennen wir es "Halluzination") über ihre Motivationen ausgelöst hat. Der gewählte Jazz-Folk-Hintergrund hat Biss, lässt sich aber auch treiben und vermengt Elektronik und Akustik so eng, dass die Unterschiede irrelevant werden. Freiheit im Denken lässt alle Schranken fallen!
Eine ähnliche Instrumentierung mit höherem Tempo gibt es bei "Security Check" zu hören. Der Jazz räumt dem Pop ein wenig mehr Platz als zuvor ein, bleibt aber spielbestimmend. Und wenn dann noch schaumige Schwebe-Klänge erklingen, verschmelzen Realität und Traum miteinander. Was wäre das Leben ohne Illusionen?
Konzentration und Ruhe bestimmen "Stranger", das zunächst einsam am Piano mit eindringlichem Gesang versehen wird: Die Stimme wirkt dabei traurig, erzählt nüchtern oder transportiert sehnsüchtige Erwartungen. Erst gegen Ende sorgen ein himmlischer Chor und ein kaum merkliches Schlagzeug dafür, dass der Song die Bodenhaftung verliert und sich in der Unendlichkeit auflöst. Aber Alles ist mit Allem verbunden und so geht nichts verloren!
Für Sophie Hunger ist "Halluzinationen" ein anderes Wort für Musik, wie sie im ZDF-Morgenmagazin am 27.08.2020 verriet. Wenn das so ist, dann sollen die Klänge also wie eine Droge wirken. Töne können sowohl geistige wie auch körperliche Impulse erzeugen, die gewöhnliche Musik-Erlebnisse vergessen lassen. Durch triviale und ungewöhnliche Einfälle, die manchmal unbedarft miteinander verheiratet werden, wird so für allerlei substanzielle Unterhaltung gesorgt.
Für mich ist "Halluzinationen" das bislang überzeugendste Werk von Sophie Hunger geworden, denn ihr ist eine erfrischende Balance zwischen prickelnder Spontanität und gediegener Reife gelungen. Schade nur, dass die anregende Reise bereits nach 36 Minuten zu Ende ist.