Raritärensensation mit Weltpotential - feuriges Plädoyer für den unbekannten Opernkomponisten César Franck
Die Studioaufnahme von Francks Oper Hulda aus dem Freiburger Konzerthaus gleich hinter dem Freiburger Theater erreichte mich bereits gestern, 17 Tage vor dem angekündigten Erscheinungsdatum, und ich habe sie, nach Lesen des ausgezeichneten Vorworts des Freiburger Musikdramaturgen Heiko Voss, auch gleich aufgelegt. Was schon bei der Inszenierung des Werks 2019 zu erkennen war (obwohl Bühnengeräusche manche Musikstelle übertönten und ein paar Umstellungen und Kürzungen an der Partitur vorgenommen waren), bestätigt sich hier: das Werk ist mehr als kennenlernenswert, und der Komponist und Dirigent Fabrice Bollon, der wußte, warum er sich so lange für eine deutsche Erstinszenierung 133 Jahre nach Vollendung der Oper einsetzte, dirigiert mit Feuer und einem heute selten, ja selten in der gesamten Geschichte der Tonaufzeichnungen zu erkennenden Verständnis für Franck. Ich bin sehr beeindruckt und empfehle diese Raritätensensation jedem Freund des Musiktheaters, César Francks und überhaupt der Musik, denn diese machtvolle Komposition hört sich spannend bis zur letzten Note an, selbst wenn man von der Handlung wenig weiß. (Und übrigens auch bei Französischkenntnissen vermutlich nicht alles versteht – die Artikulation mehrerer der Mitwirkenden könnte man als eines von wenigen Kriterien kritisch anbringen.)
Die Handlung wird perfekt im dreisprachigen Booklet zusammengefaßt. Die auf CD 2 und den Tracklisten angegebene Akteinteilung ist inkorrekt: der vierte Akt beginnt bereits auf CD 2 bei Track 8. Preis und Ausstattung der Kassette sind sensationell, eine deutsche Rohübersetzung des Librettos ist online herunterzuladen.
Heiko Voss liest die Handlung (die auf ein frühes Werk immerhin des späteren Nobelpreisträgers und langjährigen Konkurrenten Henrik Ibsens, Bjørnstjerne Bjørnson, zurückgeht) in einer aktualisierenden Weise, die mir sehr entgegen- und ganz sicher dem nahekommt, was der Komponist tatsächlich dachte. Ich glaube allerdings nicht, daß Franck „einer der größten Orgelvirtuosen des Jahrhunderts“ war (wohl Improvisator) und Wagner „so sehr bewunderte“. Dafür gibt es in der Biografie keine eindeutigen Hinweise. Beim Anhören der Hulda sollte man Wagner eher ausblenden. Fast ungeniert, jedoch durch latente Bänder verbunden (für die man die drei CDs mehrmals hören muß) bedient sich Franck konventioneller und neuartiger Elemente im Wechsel: konventionelle für die gesellschaftliche Schauseite der Handlung mit ihrer umfangreichen Chorpartie und einem eingelagerten, säuberlich in Einzelnummern untergliederten Ballett, und neuere für die verstörten, durch Menschenraub, Mord, Zwangsverheiratung und Rachegedanken aus dem Gleichgewicht geratenen Individuen. Diese Ebenen wechseln – eklatanter Gegensatz zu Wagner – so zügig und vielgestalt aufeinander, daß es mir wenigstens so erging, daß ich nicht eher pausieren wollte, ehe ich die 2h43m Spieldauer durchgehört hatte.
Voss läßt keinen Zweifel daran, daß Hulda das Werk eines Meisters ist und keineswegs an den Tücken eines minderwertigen Librettos, wie immer wieder zu lesen stand, scheiterte. Ganz im Gegenteil lassen sich kolonialismuskritische Züge erkennen, die auf eine gezielte, hoch politische Textwahl deuten und erklären würden, warum der Mensch und Künstler César Franck zeitlebens auf Distanz zu den einflußreichen Schichten seiner Zeit und also auch ihren Theatergewohnheiten ging. Menschenfreundlich in seinem Verhalten gegenüber dem einzelnen, blieb der freiheitsliebende aber bescheiden lebende Künstler unangepaßt im Hinblick auf die politischen Entwicklungen und ein harter Kritiker der Konsumgesellschaft. Dies bestätigt auch ein Blick auf die der Hulda vorausgegangenen Oratorien. Eine Ausnahmestellung bildet nur die aus einer Wutsituation im belagerten Paris erklärliche gleichnamige Ode patriotique, auf die Voss dankenswerterweise in diesem Zusammenhang hinweist. (Dieses wertvolle zehnminütige Orchesterstück mit Gesang durfte ich vor zwei Jahren im Hamburger Canticus-Musikverlag erstmalig edieren und, wegen des zu situationsgebundenen Textes, mit dem Angebot einer alternativen Besetzung der Gesangsstimme mit Saxophon oder Alternativen verbinden.)
Die mehr als manche ausführliche Biografie über Franck verratende Einführung trifft in dem einen Punkt nicht ganz zu, daß die Komposition der zweiten reifen Oper des Komponisten, Ghiselle, kompositorisch nicht mehr abgeschlossen worden sei. Dies betrifft nur die Instrumentation, die nach seinem Tod von seinen Schülern geradezu verblüffend gut vervollständigt worden ist. Da ich durch den niederländischen Konzertmitschnitt das Werk inzwischen in dieser Gestalt studieren durfte, bietet sich ein Vergleich an: Gegenüber dem abgerundeten, Wünsche nach einem emotional ausatmenden Ende befriedigenden Musikdrama Ghiselle endet die Musikdrama und Grande opéra verknüpfende Hulda schroff, beinahe abgeschnitten. Dieser Eindruck mag durch das mir hier zu rasch angezogene Tempo Fabrice Bollons gefördert werden, könnte aber auch im Konzept Francks grundgelegt sein: Der Komponist wollte die in der Handlung angelegten Verstörungen und Verwüstungen nicht mit einem runden Schluß bedienen. Die Handlung ist beherrscht von wechselseitiger Zerstörung und endet in einem Akt der Selbstzerstörung – Zeichen des Krieges, des Kapitalismus und des Kolonialismus – und spiegelt sich in einer Musik, die beinahe auseinanderfällt. Hier haftet diesem unglaublich spannenden Werk vielleicht ein Rest Experimentalcharakter an. Mehrfaches Wiederhören mag zur Klärung je nach Geschmackslage beitragen. Franck wäre ein halbes Jahrhundert später vielleicht in die Atonalität übergegangen. Selbst bis zu den sinnverwandten Schlüssen bei Salome oder Elektra einige Jahrzehnte später war noch ein Weg zurückzulegen, aber der Mangel kann, was bei Franck-Interpretationen leider öfter passiert, an dem arg scharf genommenen Tempo liegen.
Mit dieser erstrangigen Veröffentlichung geht mir persönlich ein seit den 1970er Jahren gehegter Wunsch in Erfüllung. Die exzellente Erstproduktion der ursprünglichen Hulda, aufgenommen und herausgegeben im vollen Bewußtsein ihrer repertoiregeschichtlichen Verantwortung, hat eine enorme Verbreitung verdient. Das Werk sollte, nach der aktuell immer noch anhaltenden Zwangspause und einer hoffentlich einmal wieder möglichen Renaissance der freien Theaterkultur, an allen großen Häusern die Runde machen.
Klauspeter Bungert
Trier, den 23. September 2021
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Nachtrag (4. Oktober 2021)
Nach mehrfachem Anhören des Werks bestätigt sich für mich ein weiteres Mal, daß Franck zu den Komponisten gehört, die ihren Kritikern wohl doch immer überlegen bleiben. Mich faszinieren die Klarheit der Schreibweise, die Integrität der Ausführung. Jeder minimalste Übergang ist aufs erlesenste gelöst, jeder Augenblick erweist die proportional richtige Entscheidung.
Kennzeichnend für die formale Anlage der Hulda ist das immer wiederkehrende Zurückfallen des thematischen Materials zum Ausgangspunkt sowohl innerhalb kleiner Motivzellen wie getrennt über mehrere Takte. Die Füllung der Zwischenräume erfolgt durch drehthematische Wendungen. Ununterbrochen entstehen mit schier unerschöpflichem Einfallsreichtum Varianten dieser beiden Elemente. Franck arbeitet unablässig mit seinem minimalen Material, in einer Ökonomie und Dichte, die ohne idiomatischen Anklang an der durchbrochenen Arbeit Haydns und Beethovens anknüpft.
Das proportional schwankende Wechselspiel der Kontrastelemente durchzieht alle Ebenen der Partitur und läßt sie umso einheitlicher erleben, je mehr man sie kennt. Das zurückfallende Element ist, in Begriffen des Librettos, konnotiert mit „Schicksal“, das drehthematische mit „Liebe“. Das zurückfallende symbolisiert die gesellschaftliche Konvention, das drehthematische den individuellen Protest.
Gesellschaft und die ihr entgegenstehende Gefühlswelt alternieren zunächst in leicht unterscheidbaren, harmonisch entwickelten Großabschnitten. Das gesellschaftliche Element krönt im Ballet allégorique mit seinen deutlich abgesetzten Einzelsätzen und regelmäßigen Melodieperioden. Hiernach aber setzt, unter strenger Wahrung des subthematischen Ausgangsmaterials, eine Art formaler Selbstdemontage, bewußt herbeigeführten Kohärenzverlustes ein. Die nach dissonanzenreichen Entwicklungen konventionell einlenkenden Bestätigungen der neuen Tonart c-Moll in den abschließenden 60 Sekunden betonen den Rückfallmodus: die Gesellschaft behält das letzte Sagen. Nach einem kurzen Schreckensmoment zeigt sie unbeirrt ihre starren Mauern.