Loudon Wainwright III zieht Bilanz, bevor es andere für ihn tun müssen.
76 Jahre alt wird der Folk-Musiker und Vater seiner musikalisch talentierten Kinder Rufus, Martha und Lucy am 5. September 2022. 29 Platten hat der Unangepasste bisher in seiner Karriere seit 1970 eingespielt, "Lifetime Achievement" steht also für ein rundes Jubiläum und erscheint am 19. August 2022. Tatsächlich deckt die neue Musik den ganzen Bereich ab, in dem sich der in Chapel Hill, North Carolina, geborene Musiker und Schauspieler bisher getummelt hat. Darunter sind pure Solo-Aufnahmen, aber auch üppig arrangierte Songs. Wainwright ist ein brillanter Geschichtenerzähler, der zynisch, lyrisch oder sozialkritisch daherkommt und eine unverwechselbare Vortragsweise pflegt.
"Wenn ich keinen guten Song schreiben kann, dann schreib ich eben einen schlechten – einfach um dranzubleiben. Ich kann ja über alles einen Song machen, auch über diese Flasche hier – obwohl ich wohl doch lieber was über mich schreiben würde, wenn ich so drüber nachdenke", gestand er lachend im Jahr 2003 dem deutschen "Rolling Stone". Ganz der selbstverliebte Schelm, der er schon immer war. Humor, Aufrichtigkeit und romantische Dramatik sind Eckpfeiler seiner Texte, die manchmal wichtiger zu sein scheinen, als die Musik, die er Solo schon mal mit aufdringlich-peinlichen Grimassen vorträgt. Seine Berufung als singender Poet fand er, als er mit 17 nach San Francisco trampte, dort zunächst Yoga lernte, danach zu seiner Großmutter nach Rhode Island zog und im Yachthafen arbeitete, wo ihm ein alter Hummerfischer das Lieder schreiben beibrachte. Ihm widmete er auch seinen ersten eigenen Song "Edgar". Daraufhin zog es ihn in den New Yorker Greenwich Village-Stadtteil, ein Künstlerviertel, das als Brutstätte vieler einflussreicher Folk- und Bluesmusiker (unter anderem von Bob Dylan, Fred Neil oder The Blues Project) in den 1960er Jahren bekannt wurde. Heute ist Loudon Wainwright III eine Institution, die niemandem mehr etwas beweisen muss und deshalb darf er durchaus Bilanz ziehen und sich dabei musikalisch wiederholen. Seine Hardcore-Fans wird es nicht stören.
"I Been" erscheint mit Akustik-Gitarren- und Mundharmonika-Begleitung wie eine Bob Dylan-Parodie, "One Wish" kommt sogar ganz ohne instrumentelle Verstärkung aus und hört sich wie ein uraltes irisches Volkslied an. Knorrig-trockener, zuweilen bissiger oder mild gestimmter Gesang gibt den Songs trotz der sparsamen bis nicht vorhandenen Untermalung einen rebellisch-starrsinnigen oder verständnisvollen Anstrich. Da hat sich seit 1970 nichts dran geändert.
"It Takes 2" nimmt Bezug auf den Song "One Man Guy" aus 1985 und kommt zu dem Schluss, dass es zumindest auf Dauer doch nicht so toll ist, ein eigenbrötlerischer Egoist zu sein, sondern dass das Glück auch in einer respektvollen Partnerschaft gefunden werden kann. Will Holshouser begleitet den sentimental gestimmten Troubadour einfühlsam bei seiner geläuterten Liebeserklärung am Akkordeon.
Bei "Fam Vac" schlägt das Pendel dagegen wieder in Zynismus um: "Ich brauche einen Familienurlaub. Ich meine einen Familienurlaub allein. Ich packe das Auto, lade das Fahrrad und das Kajak ein. Und lasse die verdammte Familie zu Hause", heißt es da in diesem ironisch vorgetragenen Campfire-Song. "Jean Paul Sartre sagte, dass die Hölle die anderen Leute sind", singt Loudon zum Schluss. Bei ihm ist es anscheinend auch die Verwandtschaft und er zitiert als Beleg Leo Tolstoi: "Jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Weise unglücklich."
Apropos Hölle: Für "Hell" findet der launige Musikant noch eine weitere Definition, die das Fegefeuer beschreibt. Die Hölle sei kein ferner Ort, meint er, eigentlich haben wir sie alltäglich auf Erden. Bei dieser filigranen Bluegrass-Ballade bringen die bewährten, virtuosen Musiker Chaim Tannenbaum (Background-Gesang und Banjo) sowie David Mansfield (das musikalische Wunderkind der legendären Alpha Band, Mandoline) feingesponnene, wohlüberlegt gesetzte Töne ein.
Für "Little Piece Of Me" wird die Besetzung noch weiter ausgedehnt: LW3 (Gesang, Banjo, Percussion, Handclaps), Chaim Tannenbaum (Banjo), David Mansfield (Geige), Tony Scherr (Bass), Rich Pagano (Schlagzeug, Handclaps) und Dick Connette (Handclaps) verwandeln die Komposition in einen gut gelaunten Country-Folk-Song, bei dem Wainwright auf seine besondere sarkastisch-überzogene Art in die Rolle eines Obdachlosen schlüpft, der jeden Tag, den er überlebt, feiert: "Viele, die ich geliebt habe, sind aufgestanden und gestorben. Aber ich bin ewig, könnte man sagen. Ich bin unsterblich, vielleicht für heute", singt er vergnügt.
Der traditionelle, ruhige Folk-Blues "No Man`s Land" ist eine Bühne, die sich Loudon gerne aussucht, um seine Geschichten zu erzählen, weil ihm hier auch die Möglichkeit geboten wird, mit seinem Gesang zu improvisieren. Deshalb könnte das Lied zu einem Live-Favoriten werden.
Was ist das für ein Gefühl, wenn du in deinen Heimatort zurückkehrst, wo du jemanden zurückgelassen hast, der dir immer noch nicht gleichgültig ist? Sorgst du dich, hast du Gewissensbisse, bist du froh, die Chance zu bekommen, um alte Wunden schließen zu können? Diese Gedanken verarbeitet die schöne, sanfte, mit Bass, Schlagzeug und zwölfsaitiger Gitarre delikat ausgestattete Ballade "Back In Your Town".
Wo lebt man besser: In der Stadt oder auf dem Land? Darüber gibt es je nach Standpunkt kontroverse Ansichten. Wainwright berichtet in "Town & Country", dass seine Mutter Angst vor der Stadt hatte. Sie war auf dem Land aufgewachsen und die Stadt hielt sie für zwielichtig und beschissen. Sein Vater arbeitete in der Stadt und er mochte es, dort Ärger herauszufordern. Gefahr war wohl sein zweiter Vorname. Loudon selber genießt in diesem Stück auch zunächst den städtischen Trubel und die Vielfalt, aber es fallen ihm auch unangenehme Seiten auf. So sieht er in einem Restaurant eine Ratte, die so groß wie eine Katze ist und er muss letztendlich feststellen: "Bringt mich raus aus der Stadt, sie ist zu verrückt für mich. Ich brauche Bäume, etwas sauberes Wasser. Ich möchte einen Kamin in einen Schaukelstuhl einbauen. Was ich jetzt weiß ist, die Stadt ist zu beschissen für mich." Aber kaum ist er wieder auf dem Lande, kommt die Sehnsucht nach den Versuchungen der Großstadt wieder durch. Häufig möchte man eben genau das haben, was man grade versäumt. Die Band begleitet diese Szenerie mit einem ausschweifenden, jazzigen Rhythm & Blues, bei dem die Bläser, die Orgel und die E-Gitarre für instrumentelle Glanzlichter sorgen.
"Island" ist eine wunderschöne, sehr langsame und sehr innige Angelegenheit, die in ihrer Intimität und Verletzlichkeit an den herrlich bittersüßen Song "You Can`t Fail Me Now" erinnert, den Wainwright zusammen mit Joe Henry für den Film "Knocked Up" (2007) geschrieben hat. Das wortreiche "It" wird a cappella von Loudon und Chaim Tannenbaum vorgetragen. Der Text ist eine Aufzählung von Sachen, die "Es" mit dir machen wird. Und was ist dieses "Es" nun? Das pure Leben wahrscheinlich.
"Hat" ist eines der Lieder, die Loudon Wainwright für und über seine Kinder geschrieben hat. So wie "Rufus Is A Tit Man" und "A Father And A Son", die Rufus Wainwright gewidmet sind oder "Pretty Little Martha", "Five Years Old" und "Hitting You" für Martha Wainwright. "Hat" wurde von seiner Tochter Lucy Wainwright-Roche inspiriert, denn das erste Wort, das sie sagen konnte war "Hat". Das brachte Loudon zum Nachdenken und ihm fiel ein, dass ein Hut so viel mehr ist als nur eine Kopfbedeckung. Er spendet Schatten und schützt vor Niederschlag. "Bewahre dein großes Geheimnis darunter - ich meine dein Gehirn", gibt er seiner Tochter noch mit diesem ausladenden Pop-Folk als Hinweis mit auf den Weg.
Loudon Wainwright III blickt auf sein Lebenswerk zurück und fragt sich: Habe ich meine Zeit verschwendet? Hätte ich noch mehr Songs schreiben sollen? Meine Zeit läuft ab, aber was erwarte ich noch vom Leben? Und die Antwort ist: Liebe! Der Song "Lifetime Achievement" und eigentlich das ganze Album ist durchzogen von der Erkenntnis, dass die Liebe der Klebstoff ist, der unsere Zivilisation zusammen hält. Das kann man drehen wie man will. Und der Song dreht sich als Country-Walzer im dreiviertel Takt und verströmt ein Maximum an Altersweisheit und Milde.
"How Old Is 75?" fragt sich Wainwright und sinniert darüber, dass sein Vater viel zu jung mit 62 Jahren abtreten musste. Aber wer kennt schon die Abmachung zwischen uns und Gott und lassen sich eventuell bei guter Führung neue Bedingungen aushandeln? Zunächst bestimmt hier ein Banjo das Tempo und sorgt für die nachdenkliche Stimmung. Dann schleichen sich allmählich melancholische Streichinstrumente ein und ein weicher Flaum legt sich über das Geschehen, der alle Befürchtungen einhüllt und eine von Dankbarkeit erfüllte Ruhe tritt ein. Das zur Ukulele vorgetragene, simple, lustige "Fun & Free" ist an Rufus gerichtet und mündet in der Empfehlung: "Verbringe das Leben, als wäre es ein Einkaufsbummel." Und so tritt neben die Besinnlichkeit auch die Heiterkeit und macht den musikalischen Kosmos von Loudon Wainwright III komplett.
Wer den Mann sowieso schon schätzt, der wird auch "Lifetime Achievement" mögen und hoffen, dass danach noch viele weitere Ideen abgesondert werden. Wer ihn noch nicht kennt, der hat nun Gelegenheit, in seine von Klamauk, Sozialkritik und Schwermut geprägte Welt einzutauchen. Wainwright lässt uns noch wissen: "Sobald das Album gemastert und veröffentlicht ist, höre ich es mir nie wieder an, wenn das überhaupt möglich ist. Ich habe das "Lebenswerk" mittlerweile ziemlich satt. Trotzdem hoffe ich, dass es euch gefällt!" Ja, es hat gefallen! Schön, dass Loudon Wainwright III seinen speziellen Humor und sein Talent immer noch aus vollem Herzen großzügig verteilen kann.