Jetzt erst recht! Ian Fisher möchte mit seinen sensiblen Liedern Mut machen.
Wo nimmt dieser Mann nur alle seine Ideen her? Ian Fisher ist nicht nur ein fleißiger Komponist mit einem großen Repertoire, sondern er bringt alles mit, was einen talentierten Musiker auszeichnet: Ein feines Händchen für eigenständige, geschmeidige Melodien und anziehende Refrains, sowie ein Gespür für interessante Arrangements und poetische Texte mit konkreten Hintergründen, die es zu erforschen gilt. Und alle diese Komponenten werden dann noch von einer charmanten und markanten Stimme zusammengehalten.
Erste Überlegungen zur Verwirklichung der Ideen für "Burnt Tongue", die zwischen 2019 und 2022 entstanden, gab es bereits im Winter 2020: Eigentlich sollten die neuen Songs als Home-Recordings veröffentlicht werden, doch dann gab es die glückliche Fügung, dass Ian seinen durch das Projekt Tour Of Tours bekannten Kollegen Jonas David als spirituellen Partner und Co-Produzenten gewinnen konnte. Die beiden Künstler bauen auf dem weitläufig-eindringlichen Sound des letzten Studio-Albums "American Standards" aus 2021 auf, erweitern das musikalische Ausdrucks-Spektrum aber noch durch andere delikate Instrumentierungen und raffinierte Ausgestaltungen.
Zehn Songs und drei kurze Instrumental-Titel haben es schließlich auf "Burnt Tongue" geschafft: Entwurzelung und der Wunsch nach Veränderung, aber auch ein Schrei nach Hilfe prägen unter anderem inhaltlich den Song "I'm Burning". Fisher betätigt sich als dokumentarischer Erzähler, der seine Emotionen nicht unterdrücken kann oder will und deshalb auch sentimentale Passagen zulässt. Das Ganze spielt sich in einem malerischen Rahmen ab, der exotischen Weltmusik-Folk, sphärischen Ambient-Country und entspannten Smooth-Jazz einbezieht. Das Stück tariert nachdenkliche und selbstsichere Momente elegant aus, so dass ein leicht schwingender, mondän-entrückter Klangeindruck entsteht.
Für "How Far" werden schwirrend brummende Töne als Hintergrund-Dekoration herangezogen. Dadurch wird die Konzentration manchmal von der lieblich-leichten Folk-Pop-Ausrichtung abgelenkt. Wieder geht es thematisch darum, dass jemand seine Wurzeln verloren hat und gegen seinen Selbsthass ankämpft.
Jeder Mensch verabscheut seine Schwachstellen. Es ist deshalb eine sinnvolle Lebensleistung, sich mit ihnen zu arrangieren, um sie akzeptieren zu können. Das ist eine der lyrischen Botschaften des behutsam gesungenen "Achilles' Heel". Der angedeutete Break-Beat-Takt schabt und kratzt an der hübschen, sanften Melodie, kann die Harmonie aber nicht wesentlich stören. Die Fusion von gediegener Holprigkeit und weichem Wohlklang führt zu einer Neutralisierung des unrunden Einflusses und der klebrigen Süße, so dass ein interessanter Pop-Song mit Kanten und Liebreiz entsteht.
Hilflosigkeit ist ein sehr bedrückendes Gefühl. Besonders, wenn man einem geliebten Menschen nicht so beistehen kann, wie man möchte. "Meine Hände auf ihren Schultern von hinten. Als könnte ich sie beschützen. Aber ich kann es nicht. Als ob ich ein Feuer aus Asche machen könnte", heißt es in "Fire Out Of Ash". Für diese Situation wird ein sehnsüchtiger, wehmütiger Country-Sound entwickelt, bei dem die Pedal-Steel-Gitarre dicke Tränen weint und die Betroffenheit zu reiner Schönheit gedeiht.
Der Gesang für "One Way Out & No Way Back" wurde künstlich auf historisch getrimmt und hört sich an, als würde er aus einem alten Grammophon kommen. Die traditionelle Country & Western-Begleitung bleibt dezent im Hintergrund und unterstützt die traurige Stimme dabei, eine größtmögliche Empathie zu erzeugen. Es geht hier schließlich darum, sich zwischen einer Beziehung oder der persönlichen Freiheit zu entscheiden.
Mit "Driftwood & Tires" erschafft Ian Fisher einen sehnsüchtig-liebevollen Track, bei dem elektronische und akustische Töne eine friedvoll-ausgeglichene Verbindung eingehen. Ian erzählt eine Geschichte aus seiner Jugend, die zum Titel "Burnt Tongue" geführt hat: Als er mit seinen Freunden versuchte, am Ufer des Mississippi mit nassem Treibholz ein Feuer zu machen, entzündete sich der Dampf des verwendeten Zündstoffs und verbrannte sein Gesicht.
Die Liebe einer Mutter verblasst nie. Diese Messlatte setzt der Protagonist in "A Mother’s Love" als Maßstab für seine Beziehungen an. Dringlich leidende Töne der Pedal-Steel-Gitarre deuten einen entstehenden Konflikt an, die Gefühlslage befindet sich aber überwiegend im Gleichgewicht. Eine Leidenschaft für sinnliche, bitter-süße Klänge wurde schon unter anderen Voraussetzungen von Michael Dinner in seinem Referenz-Werk "The Great Pretender" aus dem Jahr 1974 in Vollendung zelebriert und kommt auch bei "A Mother’s Love" formvollendet zu Ehren.
Für die sanft-beschwingte, Trost spendende Rockabilly-Ballade "I'll Be There" kann ein Maximum an mitfühlender Freundlichkeit aufgeboten werden: "...und wenn du das Gefühl hast, du fällst, dann ist hier eine Hand. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst". Wohl dem, der solche Freunde hat!
"If I Show I Do I Do" steigt in die Untiefen menschlicher Beziehungsprobleme ab. Es steckt indessen jede Menge positive Energie in dem Song, was sich in einer beweglichen Lebendigkeit äußert. Die Stimmung sprudelt trotzdem nicht vor Glück über, weil Ian gesanglich auf die Bremse tritt. Aber der unbändige Optimismus lugt dennoch an jeder Ecke hervor.
Sollte man das Kind in sich unterdrücken, wenn man älter wird? In "Quiet Down Boy In Me" zwingt sich der Protagonist dazu, scheint damit aber nicht zufrieden zu sein. Ganz langsam bewegt sich der Soundtrack zu diesem Befinden voran und bildet dadurch einen behaglich-gütigen Schlusspunkt unter einem hervorragenden, schlüssig abgestimmten Singer-Songwriter-Album, das - wie schon erwähnt - noch durch drei atmosphärisch dichte, kurze Instrumental-Titel ("Skit 3", "Skit 6", "Skit 11") verfeinert und pikant abgerundet wird.
Neben Ian Fisher (Gesang, akustische Gitarre, Produktion) wirkten noch Jonas David (Produktion, Gitarre, Schlagzeug, Keyboards, Horn), Ryan Thomas Carpenter (Keyboard, Banjo, Bass), Richard Case (Pedal-Steel Gitarre, Gitarre), Salvo Seucces (Klarinette, Saxophon, Marimbaphon, Vibraphon) und Salvo Puma (Gitarre bei "Achilles' Heel") an den Aufnahmen mit.
"Burnt Tongue" hinterlässt einen homogenen Eindruck, bei dem ruhig ablaufende Lieder und eine Mischung aus überlieferten und eigenwilligen Klangfarben vorherrschen. Die Einspielungen fanden auf Sizilien statt und damit zum ersten Mal in einer Studio-Atmosphäre, die Ian glücklich machte. Deshalb wohl die unverkrampfte, feinfühlige Grundstimmung, die eine besondere kreative Ausgeglichenheit ermöglichte. Den introvertierten Liedern werden durch den verführerischen Schmelz in Ians Stimme - der ähnlich auch bei Joey Burns (Calexico) oder Daniel Romano zu finden ist - Milde und Güte verliehen, so dass die Melancholie einen tröstenden Aspekt vermittelt.
Es gibt allerdings auch eine nach Erkenntnis suchende Seite in den Stücken, die durch das Cover-Bild, bei dem sich Farben wild miteinander vermengen, symbolisiert wird. Eine solche Sicht wird auch durch die Texte vermittelt: Ian Fisher charakterisiert die Inhalte seiner Lieder nämlich als "Themen, mit denen sich viele von uns in diesen seltsamen Zeiten auseinandersetzen mussten. Sie beinhalten die Navigation durch neue Lebensumstände und die Auseinandersetzung mit uns selbst und unserer Vergangenheit. Das führt zu einer ehrlichen Einschätzung des Zustands, in dem wir uns befinden, und ist ein hartnäckiger, menschlicher Aufruf zum Mut, weiterzumachen".
Der in dem 4.000-Seelen-Kaff Ste. Genevieve in Missouri aufgewachsene und seit 2008 in Europa lebende Ian Fisher ist mit der Plattensammlung seines Vaters groß geworden. Darin befanden sich möglicherweise auch solche innovativen und unkonventionellen Songwriter wie Van Dyke Parks, David Ackles oder Tom Rapp (Pearls Before Swine). Zumindest verwirklicht der Wahl-Europäer mit "Burnt Tongue" ein reifes, kreatives Gesamtbild mit beeindruckenden, zu Herzen gehenden Songs auf höchstem Niveau, die im Pop-, Folk- und Country-Umfeld angesiedelt sind!