Bitte mehr davon!
"Das verlorene Buch von Montamar" von Mari Ronberg ist vordergründig ein fantastischer, spannender Jugendroman mit einer superguten Idee, die jedoch ebenso Erwachsene begeistern dürfte, denn in einigen Details steckt so viel an Witz, Situationskomik, Ironie und humorvoller, augenzwinkernder Beschreibung des Schriftstellertums und Verlagswesens, dass dieses Buch, welches ich freundlicherweise vom Coppenrath-Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt bekam, allein schon deswegen einen besonderen Platz in meinem Bücherregal bekommen wird.
Der 592 starke, gebundene Schmöker hat ein sehr einladendes Buchcover mit leicht erhabener Schrift, dessen Bild schon einen kleinen Vorgeschmack auf die Geschichte bereithält: Ein halbfertig gezeichneter Jungenkopf, dessen Körper aber noch fast nur aus Buchstaben besteht. Die Geschichte selbst ist in Kapitel aufgeteilt, denen jeweils eine sehr anheimelnd wirkende schwarz-weiss Zeichnung von Neele Böckmann vorangestellt ist, die allein schon Lust auf's Weiterlesen macht. Warum wird das bei Büchern für Erwachsene eigentlich so selten gemacht?
Aber nun zum Inhalt in Kürze:
Der erfolgreiche Autor Wilhelm Münsterbach reist aus beruflichen Gründen - offiziell um Ideen für sein neues Buch auszuarbeiten - samt Tochter Tullia, Sohn Nick und Haushälterin Harietta zur Insel Montamar. Diese Insel ist nämlich etwas Besonderes, denn sie wird nur von Schriftstellern aufgesucht, die dort ihre Romanfiguren sozusagen "leibhaftig" entstehen lassen, kennenlernen, beobachten und perfektionieren können. Nach dem Wunsch des Vaters sollen auch bislang sein recht unbegabter Sohn - zumindest hält sich Nick dafür und glaubt auch, dass dies sein Vater tut - und seine schon recht vielversprechende Tochter, die gerade an ihrem ersten Roman arbeitet, in seine Fußstapfen treten und Nick ist daher zu einem Ferienkurs im "Figurisieren" angemeldet. Eigentlich sollte um diese Zeit ja die Mutter der Kinder, eine erfolgreiche Archäologin, zu einem Kurztrip nach Hause kommen. Doch dieser Besuch, eh schon selten genug, wurde aus terminlichen Gründen verschoben, wofür Nick dem Vater insgeheim die Schuld gibt.
Nicks Beziehung zu seinem Vater und zu seiner Schwester ist derzeit also nicht die allerbeste — normal für Jugendliche in dem Alter — Rebellenphase eben, wo erst einmal grundsätzlich alles abgelehnt wird, was andere mit oder für einen tun oder vorhaben, gleichzeitig aber das Lob und die gute Meinung anderer so immens wichtig für einen ist.
Daher versucht Nick dem Vater auf jeden Fall zu verheimlichen, wie neugierig er in Wahrheit auf die Insel und die Bewohner von Montamar ist. Sein erster Eindruck ist denn auch völlig verwirrend, zumal ihn kurz nach der Ankunft zwei Jugendliche auf dem Weg in die Unterkunft der Familie Münstermann überfallen und verkloppen wollen. Nur durch Levin Leroque, einem kräftigen Jungen etwa seines Alters, dessen Eltern einen Buchladen auf Montamar betreiben, kommt Nick nicht nur aus dieser bedrohlich wirkenden Situation frei, sondern beginnt mit der Zeit — genau wie der Leser des Romans — einige Zusammenhänge und spezielle Begebenheiten und Eigenschaften der Insel Montamar zu begreifen. Auch dem Ferienkurs bei der überstrengen Fräulein Schengensieck - die Ähnlichkeit mit der Prusseliese aus den Pippi Langstrumpf Romanen ist ganz sicher gewollt! - im Figurisieren kann Nick mit der Zeit durch Levin, die spätere Teilnahme seiner eigenen Schwester und durch die Romanfiguren, die sie allesamt erschaffen, immer mehr abgewinnen.
Denn Montamar ist ein komplexes, ausgeklügeltes Gesellschaftssystem der Beziehungen zwischen den Autoren und ihren Romanfiguren, welches auf den ersten Blick bis ins kleinste Detail durchdacht und geregelt zu sein scheint.
Sobald ein Schriftsteller sich nämlich eine Figur bzw. deren Eigenschaften ausgedacht hat, wird sie anhand dieser Eckdaten zum Leben erweckt — eben figurisiert. Dabei gilt: Je mehr Daten vom Autor vorgegeben wurden, umso lebensechter tritt die erschaffene Figur auf. Sind hingegen wenige Daten vorgegeben, erscheint die Romanfigur umso durchsichtiger...wobei allerdings noch „nachgebessert" werden kann durch eine Entwicklung der Figur im jeweiligen Roman des erschaffenden Autors. Die Romanfiguren selbst wissen davon allerdings nichts, sondern agieren getreu den Vorgaben des Autors. Naja, besser gesagt, FAST immer getreu den Vorgaben des jeweiligen Autors, denn sie genießen auch einen gewissen eigenen Entwicklungs-und Handlungsspielraum, den der Autor nicht immer vorhergesehen hat, gehorchen aber in den meisten Fällen wie Marionetten ihrem Erschaffer, wenn dieser das befiehlt. Und außerdem wachen Zensoren, allen voran der Oberzensor Maximus, der mit Nicks Vater offenbar sehr befreundet zu sein scheint, über die Romanfiguren und de-figurisieren diese sogar falls das mal notwendig wird.
Es existiert sogar noch eine zweite, kleinere Insel, auf der die Romanfiguren unter strengster Bewachung isoliert gehalten werden, die mit ihrem unberechenbaren, meist aggressiven, ja sogar mordlüsternen Verhalten für Montamars Gesellschaftssystem gefährlich werden könnten.
Soweit die Theorie!
Denn natürlich gibt es kein System, welches nicht irgendwo Schwächen oder Schlupflöcher hat. Und schon kurz nach ihrer Ankunft auf der Insel merkt Nick, dass irgendetwas faul ist auf Montamar und dass sein Vater offenbar aus ganz anderen Gründen auf die Insel wollte. Erstens existiert noch gar kein weiteres Buch, wegen dem sein Vater nach Montamar hätte kommen müssen und zweitens benimmt er sich zunehmend merkwürdiger, trifft sich heimlich mit dem Oberzensor und hat ganz offensichtlich große Probleme.
Während Nick, nach dem ersten zaghaften Figurisierungsversuch, einer Gestalt mit einer Mischung aus Jack Sparrow und dem gestiefelten Kater aus den Shrek-Filmen, allmählich Gefallen am Figurisieren findet und bei der Entwicklung der Romanfiguren für den gesamten Ferienkurs auch der Spaß nicht zu kurz kommt, es auch in Montamar unglaublich viel zu entdecken und zu erforschen gibt, was mit seinen neuen Freunden, der recht gut entwickelten Romangestalt Robyn, der Nick alle Eigenschaften verpasst, die er selbst gerne hätte, erst so richtig Freude macht und er nun sogar eine bessere Beziehung zu seiner eigenen Schwester bekommt, geschehen um seinen Vater herum immer mehr geheimnisvolle Dinge. Ja, es wird sogar eingebrochen bei den Münsterbachs und später sogar sein Vater entführt...und all das hat mit einem Buch zu tun, dass sehr wichtig ist für Montamar und das auf keinen Fall in die falschen Hände geraten darf.
Mehr sei hier nicht über den Inhalt verraten, um die Spannung und die Freude am eigenen Lesen nicht vorweg zu nehmen.
Außer, dass Mari Ronberg mit "Das verlorene Buch von Montamar" einen wirklich tollen und spannenden Abenteuerroman, der Jugendliche ganz sicher ansprechen wird, haben auch erwachsene Leser ganz sicher Freude an so manchem ironisch erdachten Detail und bekommen gleichzeitig einen sehr guten Einblick, wie man das Bücherschreiben an sich handhaben sollte: mit viel Fantasy figurisieren, figurisieren und nochmal figurisieren.
Schade, dass es Montamar nicht wirklich gibt. Ich zumindest würde mir das zu gerne mal selbst anschauen. Zum Glück und zur Freude aller Leser schreibt Mari Ronberg aber schon eine Fortsetzung, die ich zumindest mir ganz sicher nicht entgehen lassen werde. :-)
Eine amüsierte Vermutung zum Schluß noch von mir: ich glaube, die Autorin hat sich in diesem Roman auch gleich selbst noch in der Figur der liebenswert chaotischen Strohhutdame, die so wundervoller Wortschöpfungen mächtig ist, etwas verewigt? ;-)
Nun, vielleicht erfahre ich ja irgendwann nochmal, ob diese Vermutung stimmt. Alles in allem auf jeden Fall ein sehr, sehr empfehlenswertes Buch.