Beeindruckende Ersteinspielung eines Meisterwerks!
Endlich besteht die Gelegenheit, Porporas „Polifemo“, den man stets nur in Verbindung mit der zu Recht hochgerühmten Arie des Acis aus dem 3.Akt („Alto giove“) kannte, einmal in Gänze zu hören. Und man fragt sich verwundert, warum dieses veritable Meisterwerk erst jetzt seine Weltersteinspielung erfährt, handelt es sich doch um eine der phantasievollsten und mit einer kurzweiligen und leicht nachzuvollziehenden mythologischen Handlung auch für einen Menschen des 21. Jahrhunderts dankbarsten Opern ihrer Zeit. Wie schon bei „Germanico in Germania“ und „Carlo il Calvo“ zeigt sich Porpora nicht nur auf Augenhöhe mit Händel, sondern übertrifft ihn m.E. in vielen Punkten sogar. Eine so hohe Anzahl an ausdrucksvollen Accompagnatos, eine so reiche Instrumentierung und einen so dicht und konzise in Richtung des Durchkomponierten konzipierten dritten Akt wie hier vorliegend, findet man bei Händel erst in den deutlich später entstandenen Oratorien. Und auch so manche Arie jenseits des inzwischen fast schon zu häufig gesungenen „Alto giove“ erweist sich als Juwel der an der Grenze des vorklassisch- galanten Stils stehenden spätbarocken Belcantokunst.
Die Interpretation der hochwertig und liebevoll ausgestatteten Box (inklusive Libretto mit deutscher Übersetzung) ist durchweg erstklassig, jede Kritik mithin subjektiv und auf hohem Niveau.
Problematisch erschien mir v.a. die Besetzung der 1734 von Farinelli gesungenen Partie des Acis mit dem zur Aufnahmezeit schon über 40 Jahre zählenden Yurij Minenko, einem für Countertenöre kritischen Alter. Die sich mit ihrem Wechsel von langen Legatobögen, rasanten Koloraturketten und großen Sprüngen oft an der Grenze des Darstellbaren befindliche Rolle, die permanent zwischen Sopran- und Altregister changiert, bewältigt Minenko in der tieferen Lage hervorragend. Insgesamt liegt sie allerdings etwas zu hoch für ihn, was leider deutlich auf Kosten der Intonation geht. Vor etwa 10 Jahren wären Franco Fagioli oder Ann Hallenberg hierfür ideal gewesen. Es stellt sich also wieder einmal die Frage, ob es immer die beste Idee ist, Kastratenpartien mit Countertenören zu besetzen.
Julia Lezhneva als Galatea war mir besonders bei den freien Dacapo-Verzierungen wie schon öfters zu manieriert und überengagiert. An ihren herausragenden technischen Fähigkeiten besteht aber keinerlei Zweifel.
Die kleineren Partien, zu denen auch die nicht besonders dankbare Titelrolle des Zyklopen Polyphem zählt, der insgesamt nur eine größere Arie im ersten und zwei kurze Ariosi im dritten Akt zu singen hat, sind exzellent besetzt.
Der Star der Aufnahme ist jedoch M.E. Cencic, der in der einst von Senesino verkörperten Rolle des Odysseus eine wahrhaft vollendete gesangliche und darstellerische Leistung vollbringt.
Mit der Herangehensweise von George Petrou und seiner Armonia Atenea bin ich auch diesmal nicht wirklich glücklich: Müssen diese teils völlig überdrehten Tempi, dieses Ausloten extremer Spitzentöne, diese gellenden Sforzati und unnatürlichen Ritardandi wirklich sein? Ich würde mir wünschen, dass sich bald einmal eine etwas weniger unter Hochspannung stehende Interpretation alter Musik auf breiter Front durchsetzt, denn Porporas geniale Partitur ist bedeutend genug, um auf übertrieben modische Knalleffekte verzichten zu können. Insgesamt schwankt meine Bewertung zwischen vier und fünf Sternen, passt aber wegen des hohen diskographischen Wertes besser in die obere Kategorie. Klare Kaufempfehlung für diesen beeindruckenden „Polifemo“ !