Ambitionierter Ansatz, aber nicht erfüllt!
Ambitionierter Ansatz, aber nicht erfüllt!
Hier liegt nun Andreas Reize Einspielung/Rekonstruktion der Fassung I der bachschen Johannespassion (BWV3 245.1) von 1724 vor.
Positiv anzumerken ist, daß sich unter Reize der Thomanerchor in Richtung historisch informierter Aufnahmepraxis bewegt, längst überfällig, auch verschwindet der gefällige Biller-Sound, gut so. Sehr gut sind die Musiker der Akademie für Alte Musik Berlin und der Einsatz der großen Kirchenorgel, den Bach verwendet nachweisbar keine heute üblicherweise verwendete Truhenorgel.
Die Thomaner machen ihren Job knabenchortypisch gut, aber nicht herausragend (auch ist der Chor zu groß besetzt). Das kann man ihnen aber nicht zum Vorwurf machen. Bachs Knaben waren zwischen ~15 bis 21 Jahre alt, und in dieser Altersspanne durchaus noch nicht in der Mutation. Aufgrund der heute viel frühe einsetzenden Mutation sind die heutigen Knabensoprane/-alt aber erst 8 - 12 Jahre alt. Der Unterschied im musikalische Bildungsstand, sowohl vokal als auch instrumental, und der Möglichkeit die Texte zu reflektieren macht sich dadurch zuungunsten der jüngeren Sänger bemerkbar.
Zumal Bach (auch) falsettierende Männersänger einsetzte, wie z. Bsp. der äußerst kritische und genaue Bachforscher Hans-Joachim Schulze bzgl. der Sopranpartie in der Caffee-Cantate feststellt!
Quelle: Ey! Wie schmeckt der Coffee süße, Ev. Verlagsanstalt ISBN 978-3-374-02299-1; S. 57/58.
Die erste Altarie (Von den Stricken) besetzt Reize mit einem sehr guten Countertenor, er beherrscht die Arie sehr gut, und kann sie auch reflektieren. Die zweite Altarie (Es ist vollbracht) besetzt er dann mit einem Knabenalt, dessen Timbre aber eher einem Sopran entspricht, und altersbedingt, nicht in der Lage ist die Arie emotional und psychologisch, auch technisch zu fassen. Warum da nicht wieder den Countertenor singen lassen?! Ähnlich bei den Sopransoli, von den Sängern so gut als möglich gesungen, aber eben nicht erfaßt. Die Männersolisten machen ihre Aufgabe sehr gut und sicher wären sie besser, wenn man sie machen lassen würde, gleiches gilt für die Akademie für Alte Musik Berlin. Aber sie müssen der Intention Reizes folgen.
An dieser Stelle könnte man die Rezension enden, und sagen, es ist eine ordentliche Aufnahme, von denen es (zu)viele gibt, anhörbar, aber nicht packend.
Wäre da nicht noch...
Schon der Werbetext suggeriert Besonderheiten, die aber nicht erfüllt werden, bzw. an den musikhistorischen Tatsachen vorbeigehen.
Andreas Reize unternimmt den Versuch die 01. Fassung von 1724 zu rekonstruieren, laut Werbetext die allererste Einspielung dieser Fassung. De facto ist es so, daß schon im Jahre 2004 Jos van Veldhoven BWV3 245.1 in der sehr guten/genauen Rekonstruktion von Pieter Dirksen aufnahm, veröffentlichen auf SACDs bei Channel Classics (CCS SA 22005) im Jahr 2005. Diese ist in jeder Hinsicht die gelungenste Aufnahme, Prüfstein für weitere Aufnahmen.
Philipp Pierlot folgt 2011 (Mirar 201, MIR 126), Alexander Weinmann 2012 (Atma ACD2 2611), & Minkowski 2017 (Erato 01902956854058). Mehr oder weniger konsequent rekonstruiert /gelungen, das Niveau Veldhovens erreichen sie bzgl. der Rekonstruktion, als auch interpretatorisch, nicht.
BWV3 245.1 war laut musikwissenschaftlichem Befund ohne Traversflöten besetzt, daran hält sich Veldhoven, z. Bsp. im Eingangschor, der dadurch viel fataler klingt. Die erste Sopranarie besetzt er deswegen sinnvoll mit Streichern. Reize setzt jedoch Traversflöten in dieser Arie ein, wie in den späteren Fassungen. Somit eben nicht wie in BWV3 245.1 von 1724.
Die Sätze 1- 10 musiziert er in der nicht revidierten Fassung von 1724 bzw. 1725, soweit so gut & richtig.
Jedoch erlaubt Andreas Reize massenweise (in der ganzen Aufnahme) freie Verzierungen, Umspielungen notierter Noten, so daß ohne Kenntnisse der original Noten nicht klar ist, was nun von Bach stammt. Störend sind insbesondere bei den Recitativen ständig arpeggierende Noten im Basso continuo, vor allem zu Beginn fast Takt weise (so etwas kenne ich nur, wenn Kirchenmusiker die schlechte Intonation ihrer Chöre oder Solisten retten wollen), sowie eingefügte/angehängte Takte mit solchen Verzierungen, sie stören den Fluß der bachschen Intention. Solche "Überverzierungen" (Manirismen) kritisieren schon Musiktheoretiker & Komponisten des 17. & 18. Jhds. z. Bsp. Mattheson, aber auch Händel. Dieser hielt angeblich deswegen sogar eine Sopranistin kopfüber zum Fenster hinaus, weil sie sich nicht an seine notierten Noten hielt.
Richtigerweise setzt Reize die große Kirchenorgel ein, das Klangbild wird dadurch angenehm verändert. Problem ist aber, daß er diese zusätzlich frei improvisierte Notengirlanden spielen läßt, zusätzlich ein bis zwei improvisierende Takte bei den Schlußfermaten der Choräle, aber auch mittendrin bei Choralzeilenenden. Dadurch wird die Architektur der Choräle zerstört, Sinnzusammenhänge im Text unterbrochen, die Harmonik und der bachsche Subtext (mathematischer bzw. gematrischer Natur/Zahlensymbolik) torpediert. Übrigens ein unguter Trend, dem z. Bsp. auch sein werbeumtriebiger schweizer Landsmann Rudolf Lutz, in seinen handwerklich einigermaßen guten Bach-Aufnahmen, frönt.
Allerdings beruht dieses auf einem (bewußten?) Mißverständnis der Quellen. Solche frei improvisierte Takte wurden nur beim einstimmigen Gemeindegesang gespielt, aber nicht beim vierstimmigen Choral einer Kantate oder eines Oratoriums.
Man will halt auffallen!
Man könnte nun weitere Punkte nennen, so z. Bsp. einige Merkwürdigkeiten der ersten Sopranarie, die eigentümlichen Echo-Stellen, offenbar gibt es einen Echo-Sopran, wo steht dies in den Noten Bachs? Natürlich kann man eine forte-piano Differenzierung machen, aber wir sind nicht im Weihnachtsoratorium, wo es explizit gefordert ist! Vergleichen sie mal in dieser Arie den A-Teil mit dem Dacapo-A-Teil! Was fällt auf?
Mein Fazit steht fest:
Es ist eine handwerklich ordentliche Aufnahme.
Solisten, Instrumentalisten & Chor geben im Rahmen der Randbedingungen ihr Bestes.
An dem eigenen Prüfstein Andreas Reizes, die Fassung von 1724, BWV3 245.1 zu repräsentieren, scheitert die Einspielung, da sie dem musikwissenschaftlichen Forschungsstand nicht folgt und durch Reizes Zusätze verunklart. Ohne die (völlig unnötigen) Extravaganzen/Manierismen Andreas Reizes würde er sicher seinem eigenem Prüfstein, die Fassung BWV3 245.1 zu rekonstruieren, näher kommen.
Leider eine verschenkte Chance.
Für mich eine entbehrliche Aufnahme.
Hören sie Veldhoven!