Nichts ist, wie es scheint - aber alles, wie es soll?
So wenige Dinge sind sicher im Leben. (S. 125)
Nichts war, wie es schien; überall verbarg sich ein Hintergedanke, eine Täuschung. (Seite 490)
Meine Meinung
Mit der Prophezeiung der Erda „Alles was ist endet“ aus Wagners „Rheingold“ begann ich meine Rezension zur „Welt in Flammen“. Aber was ist wohl schlimmer: wenn etwas endet - oder wenn es nicht endet, sondern in immerwährendem Wandel ist, wenn ein altes Gleichgewicht erschüttert und ein neues nicht in Sicht ist, ja, wenn man nicht mal weiß, wie ein neues aussehen sollte?
Der Zeitraum, den die Handlung dieses Buches umfaßt, ist kurz - gerade mal knappe sechzig Stunden. Und doch sind es sechzig Stunden, die die (Buch-)Welt verändern, und die vielleicht auch manchen Leser verändern könnten. "Denn es ist nicht vorbei. Es fängt gerade erst an."
Es ist bewundernswert, wie es dem Autor wiederum gelingt, über einige hundert Seiten hinweg ein Szenario zu entwerfen, in dem scheinbar alles parallel läuft und doch irgendwie miteinander verwoben ist, was über weite Strecken weder die Figuren und schon gar nicht die Leser erkennen können. Wobei letztere den Vorteil haben zu ahnen, daß das irgendwie zusammengehören muß, weshalb sonst hätte der Autor das in sein Buch aufgenommen?
Wie schon in der „Welt in Flammen“ vermischt der Autor Fakt und Fiktion auf geradezu beängstigend reale Weise, so daß ich nicht immer sicher war, wo denn die Grenze zwischen beidem verläuft und, es sei zugegeben, Namen gegoogelt habe, zu denen die Suchmaschine kein Ergebnis liefern konnte, weil es sie schlicht nicht gab. Hier zeigt sich eines der wenigen Mankos des Buches, nämlich das fehlende Personenverzeichnis. Erst im Nachwort erfährt man, daß nur zwei auftauchende Personen historische Vorbilder haben.
Verteilt über die ganze Stadt ereignen sich Geschehnisse, treffen Menschen aufeinander, die für sich betrachtet eher unauffällig sind, im Gesamtbild jedoch anscheinend einem Plan gehorchen, der ein bestimmtes Ziel verfolgt. Dieses ist jedoch sowohl den Figuren wie dem Leser nicht ersichtlich; mit jedem anscheinend gelösten Geheimnis tun sich zwei neue auf, so daß ich es irgendwann völlig aufgegeben habe zu vermuten, wohin denn alles führen und wie das enden sollte.
„Der Turm der Welt“ ist seit Jahren das erste Buch, das ich wirklich linear von vorne bis hinten gelesen habe, ohne - wie ich das sonst zu tun pflege - zuerst das Ende zu lesen. Ich hatte das Gefühl, und das hat mich nicht getäuscht, daß es keinen Sinn machen würde, das Ende ohne die vorherigen Entwicklungen zu kennen. Denn daß am Ende eine eher komplizierte denn einfache Auflösung oder gar ein „und sie lebten glücklich bis an ihr Ende“ stehen würde, war von Anfang an klar.
Ein besonderes Bonmot für seine Stammleser - wenn man bei zwei Büchern schon von solchen sprechen kann - ist das Auftauchen eines guten alten Bekannten aus der „Welt in Flammen“, der natürlich hier in seinen jungen Jahren ist und, da er auf jeden Fall überleben mußte, eine gewisse Sicherheit ins Buch brachte.
Der Roman ist eine Mischung verschiedener Genres, der sich in keine Schublade legen läßt. Abenteuer, Agenten, etwas Gefühl, Historie, Fiktion - all das geht eine vollkommene Symbiose ein, so daß ich mich immer wieder daran erinnern mußte, daß das eben genau das ist: ein Roman und kein historisches Sachbuch. Sätze, die ich zur „Welt in Flammen“ geschrieben haben und die auch hier unbedingte Gültigkeit beanspruchen. Dabei ist es dem Autor gelungen, die Stimmung der Zeit dermaßen gut einzufangen, so daß ich beim Lesen in der Tat das Gefühl hatte, mich eher im Jahre 1889 denn 2016 zu befinden. Genau so, wie es beschrieben wurde, haben die Menschen seinerzeit vermutlich gedacht und gehandelt, konnten auf Grund der sie umgebenden Zwänge gar nicht anders, wie im Buch zu lesen ist. Daß, wie ebenfalls im Nachwort erläutert wird, die eine oder andere technische Erfindung erst ein paar Jahre später erfolgte, tut dem keinen Abbruch. Schließlich - ich erwähnte es - ist das ein Roman, kein Sachbuch.
Wie sich das für einen guten Roman gehört, waren die Figuren so weit ausgeführt, daß ich von allen ein recht gutes Bild vor Augen hatte; nicht nur vom Äußeren, auch von deren Innerem. Was nicht bedeutet, daß nicht die eine oder andere von Ihnen mehr oder weniger große Geheimnisse hatte, die uns Leser nichts angehen und für das Verständnis nicht unbedingt gelöst werden müssen. Die Weltausstellung wurde in meinem Kopf lebendig, daß ich es durchaus bedaure, diese nicht persönlich besucht haben zu können. Aber neben der glitzernden Welt der „oberen Zehntausend“ scheint auch die Kehrseite, das andere Paris mit all seinen häßlichen und erschreckenden Seiten durch. Wo viel Licht, ist auch viel Schatten. Und es gab, wie wohl zu jeder Zeit, viel Licht.
Was das Buch für mich noch zu etwas Besonderem machte war, daß mir nie so deutlich wie hier der Begriff einer komplexen Welt vor Augen geführt wurde. Man hört oder liest zu heutigen Problemen immer wieder, alles sei komplex, aber niemand macht sich die Mühe, diese Komplexität näher zu erläutern. Das ist jedoch etwas, was der Autor hier quasi nebenbei vermittelt, denn so unterschiedlich die einzelnen Handlungsstränge und Figuren sein mögen, immer mehr wird auf teil erschreckende Weise deutlich, wie sehr sie miteinander verwoben sind, wie eines vom anderen abhängt und es bedingt - wie komplex das zugrundeliegende Muster ist, auch wenn es weder die Beteiligten noch die Leser immer gleich verstehen können.
Nach rund siebenhundert viel zu wenigen Seiten klingt das Buch dann langsam aus. Und genau das, dieses langsame Ausklingen, möchte ich ausdrücklich und sehr positiv erwähnen. Oft ist es heute so, daß die Auflösung kommt und schwupps, ist das Buch aus. Nicht so hier. Als Leser hat man ausreichend Seiten Zeit, das Ende und die Auflösung zu verdauen und sich von den Figuren zu verabschieden - prima, so sollte das eigentlich immer sein. Bei der Gelegenheit auch ein dickes Lob an den Verlag, denn die herstellerische Verarbeitung des Buches ist mustergültig. Das Buch liegt gut in der Hand, ließ sich vom Satzspiegel her gut lesen und ist nach dem Ende überhaupt nicht schief - so sollte eine gebundene Ausgabe sein!
Schließlich habe ich das Buch aber nicht ganz so ruhig geschlossen, wie ich dachte; auf der vorletzten Seite erwartet den Leser das, was ich eine Schlüsselszene bezeichnen würde. Zwar nicht das, aber doch die letzten Worte hat der Général Auberlon. Und die sind damals so wahr wie heute und in der Zukunft vermutlich ebenso. Ich würde mir wünschen, daß möglichst viele eben jene Ansprache lesen - und im Kopf behalten würden: "Denn dies ist nicht das Ende. (...) Es fängt gerade erst an."
Mein Fazit
Ein grandioses Buch über eine grandiose Ausstellung und das, was hätte passieren können. Und vielleicht irgendwann passiert ist.