Wie im alten Rom oder so könnte es gewesen sein
„Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben.“; mit diesen Worten beginnt das Lukas-Evangelium, und auch in der Apostelgeschichte wird jener Theophilus erwähnt, von dem man annimmt, daß er ein Heidenchrist war (vgl. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Anmerkung zu Lk 1.3; meine Ausgabe 2. Auflage, S. 1141). Um diesen Theophilus herum hat Randy Singer, der ansonsten eher Justiz-Thriller schreibt, seinen ersten historischen Roman aufgebaut.
Nun ist von diesem Theophilus kaum etwas bekannt, aber gerade deshalb ist er die geeignete Figur, quasi durch das Geschehen zu führen. Die Handlung setzt im „Elften Jahr der Herrschaft des Tiberius Julius Caesar Augustus“ ein, das ist etwa 25 n. Chr. Theophilus ist vierzehn Jahre alt und Schüler in Senecas Rhetorikschule. Der erteilt auf teils recht drastische Weise seinen Schülern Anschauungsunterricht. Einigen dieser Schüler werden wir im weiteren Verlauf noch begegnen, so etwa einem gewissen Gaius Caesar Augustus Germanicus, besser bekannt unter seinem „Spitznamen“ Caligula. Der Konflikt zwischen Theophilus und Caligula gleich zu Beginn des Buches wird für ihr Verhältnis zueinander in späteren Jahren bestimmend sein und Folgen zeitigen.
Als Theophilus Jahre später seine Karriere als Jurist beginnt, ist seine erste Anstellung die eines Assessors der Pontius Pilatus und Judäa. Hier treffen die in der Ausbildung gelernten hehren Ideale erstmals auf die rauhe Wirklichkeit und politische Ränkespiele, als einem gewissen Jesus von Nazareth der Prozeß gemacht wird. Singer öffnet dabei einen ganz anderen Blick, von der Seite Roms aus gesehen, auf das bekannte Geschehen. Der Pilatus des Buches hat mich dabei sehr an den aus dem Film „Das Ende der Götter“ erinnert.
Das Interessante an diesem Teil des Buches ist, daß Theophilus - ganz heidnischer Römer - mit etlichen Personen ins Gespräch kommt und sich beispielsweise von Nikodemus erklären läßt, was die Fangfrage an Jesus, ob man dem Kaiser Steuern zahlen dürfe, und dessen Antwort darauf unter Berücksichtigung des Kontextes eigentlich wirklich bedeutet. Oder die Stelle, an der Jesus sagt, „wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein“, wonach er sich setzt und in den Sand schreibt. Was, findet sich im Evangelium nicht. Singer gibt hier eine dermaßen verblüffend logische Erklärung, daß es eigentlich nur genau so gewesen sein kann.
Nach seiner Dienstzeit kehrt Theophilus zurück nach Rom und wird als Anwalt tätig. Inwieweit die beschriebene Art der Prozeßführung und Argumentation eher den heutigen oder den damaligen Umständen entspricht, vermag ich nicht zu beurteilen. Manches schien mir relativ modern zu sein, andererseits hat sich möglicherweise bei Gerichtsverfahren prinzipiell im Laufe der Jahrhunderte bzw. Jahrtausende nicht allzuviel verändert. Auch bin ich über einige Begriffe gestolpert, wie etwa „Kilometer“ oder einem „Trainer den Marsch blasen“.
Das Buch erstreckt sich über einen zeitlichem Rahmen von über vierzig Jahren; dem Autor gelingt es dabei, ein Gefühl für die verstrichenen Jahre entstehen zu lassen. Im Personenverzeichnis sind die historischen wie die fiktiven Menschen angegeben; ein diagonales Nachlesen über deren Daten zeigte mir, daß Singer sich relativ gut an die überlieferten Geschehnisse hält. Wobei es sich von selbst versteht, daß er vieles dazu ersinnen mußte. Denn über die Verhandlung gegen Paulus vor Nero gibt es sicherlich keine wörtlich mitgeschriebenen Protokolle. Zumindest keine überlieferten.
Zwar merkt man durchaus, daß der Autor im Hauptberuf Jurist ist, jedoch hält sich das Fachliche in den für einen Roman, zumal einen historischen, notwendigen und sinnvollen Grenzen. Er entwirft ein Bild davon, wie es seinerzeit gewesen sein könnte und gibt auch eine Erklärung für die Entstehung sowohl des Lukas-Evangeliums wie auch der Apostelgeschichte. Wobei natürlich offen bleiben muß, inwieweit dies der Phantasie des Autors geschuldet oder ein historischer Kern darin enthalten ist.
Je weiter das Buch voran schreitet, um so mehr zeichnet sich ab, worauf es hinauslaufen wird, und das war streckenweise hart zu lesen. In einem Epilog rund zweihundertfünfzig Jahre später klingt das Buch versöhnlich aus.
Alles in allem hat mich das Buch in eine längst vergangene Welt, die vor meinem inneren Auge lebendig wurde, entführt, und eine Möglichkeit beschrieben, wie es gewesen sein könnte. Mit Figuren, die so lebensecht waren, daß mich das Gefühl überkommt, nun alte Freunde und Bekannte verlassen zu müssen. Ein Buch, das sich wirklich lohnt zu lesen und noch längere Zeit nachwirken wird.
Kurzfassung
Ein lesenswerter, dichter und spannungsgeladener Roman mit Handlungsorten in Judäa und Rom, der die ersten Jahrzehnte unserer Zeitrechnung zum Leben erweckt.