Bestimmt die Vergangenheit die Gegenwart?
Wie schon das Vorgängerbuch „Das Mädchen von Herrnhut“ spielt auch dieses Buch auf zwei Zeitebenen: der erste Teil beginnt 1922, der zweite im Jahre 2011. Beide Abschnitte sind, was Umfang und Handlung betrifft, vollwertige Romane. Die Autorin hat mich im ersten Teil so tief in die Geschichte hineingezogen, daß ich mich, als sie nach 265 Seiten am Ende angelangt war, nur schwer von den Figuren, die ich durch aufregende und gefährliche Zeiten hindurch begleitet hatte, verabschieden konnte.
Bisher noch nie ist es mir bei einem Buch mit zwei Zeitebenen passiert, daß ich in der späteren dermaßen noch die frühere im Kopf hatte, dauernd daran denken mußte, daß Sarah und ihre Lieben längst verstorben und ihre Gräber möglicherweise schon lange eingeebnet sind. Nur Erinnerungen in Form von Überlieferung oder das, was sie in irgendeiner Form hinterlassen haben, zeugt noch von ihrer Existenz.
Und doch beeinflußt die Vergangenheit, auch wenn wir sie nicht kennen, vielleicht nicht mal erahnen, die Gegenwart mehr, als uns bewußt, manchmal möglicherweise auch lieb ist. Das beginnt schon beim Prolog im Jahre 1327 v. Chr., der auf den ersten Blick seltsam erscheinen mag, aber Geschehnisse ins Rollen bringt, die noch dreitausend Jahre später die Geschicke von Menschen beeinflussen.
Um die Entdeckung des Pharaonengrabes des Tutenchamun herum hat Elisabeth Büchle eine immer spannender und verworrender werdende Handlung entworfen, die Fakt (die Entdeckung und Freilegung des Grabes) und Fiktion so geschickt vermischt, daß man sich bisweilen unwillkürlich fragt, weshalb in den Annalen jener Zeit nicht eine Lady Alison und ihr Mündel Sarah auftauchen. Dabei hält die Autorin sich, wie sie an anderer Stelle schrieb, in Bezug auf die Ereignisse um das Pharaonengrab an die überlieferten Berichte, so daß man das Gefühl hat, direkt dabei gewesen zu sein.
Zeit, Figuren, Ägypten wurden dermaßen lebendig und treffend beschrieben, daß ich, als dieser Teil langsam ausklang, das Gefühl hatte, tatsächlich bei jenen Ereignissen dabei gewesen zu sein und mich von guten Freunden verabschieden sollte.
Dieses Gefühl des Abschieds hat mich den ganzen zweiten Teil hindurch begleitet, vor allem dann, wenn auf die Ereignisse des ersten Abschnitts Bezug genommen wurde. Erst nach und nach kommen die Verbindungen, für uns Leser eher als für die Figuren, zutage. Dabei ist es der Autorin gelungen, etliche Überraschungen unterzubringen. Die Handlung hat hier ein deutlich höheres Tempo, was auch der modernen Welt geschuldet ist.
Das ganze Buch, vor allem aber den zweiten Teil hindurch, zieht sich ein Humor, der mich immer wieder zum laut Auflachen brachte, und so ein angenehmes Gegengewicht zu der bisweilen doch recht großen Spannung bietet. Frau Büchle hat einfach ein Händchen und Gespür für die richtigen Paarungen, seien es nur Liebes-, Freundes- oder Kollegenpaare. Bei ersteren hat mir, wie schon in ihren früheren Büchern, besonders gefallen, daß sich Beziehungen nicht hopplahopp, sondern langsam entwickelt haben.
Es ist natürlich nicht unbedingt ein Nachteil (aber zum Verständnis keine Voraussetzung), wenn man Daniel und Emma, Rahel und Falk im Vorgängerband schon mal begegnet ist und sie dadurch besser einschätzen kann, in Bezug auf ihre Entwicklung - oder auch Nichtentwicklung. Falk etwa hat sich so sehr nicht verändert, ist vielleicht sogar noch eine Spur frecher und übermütiger geworden und sorgte bei mir alle paar Seiten für lautes Auflachen. Zumal er in Duke, der „Zufallsbekanntschaft“ von Rahel, einen weitgehend ebenbürtigen Gegenpart gefunden hat.
Da die Vorliebe von Sarahs Familie für Ägypten bekannt ist, gerät sie in Verdacht, unbefugt Gegenstände aus dem Grab des Tutenchamun zu besitzen und zu verkaufen, was Europol auf den Plan ruft. In der Folge entwickelt sich ein Verwirrspiel, bei dem der Leser bald noch weniger durchblickt als die Figuren selbst. Fast jeder gerät im weiteren Verlauf in Verdacht, und bald weiß man nicht mehr, wem man eigentlich noch trauen kann.
So, wie im ersten Teil die Welt des Ägypten der frühen zwanziger Jahre lebendig wurde, so wirklich wurde dann die Welt in und um London (sowie zunächst Berlin) des 21. Jahrhunderts. Fast so etwas wie Wehmut befiel mich, als es dann zum „direkten“ Vergleich Kairo früher und heute kam. Wie schon das „Mädchen aus Herrnhut“, geht auch dieses Buch mit einem filmreifen Showdown, der die aktuellen politischen Ereignisse des Jahres 2011 mit einbezieht (Stichwort arabischer Frühling) zu Ende.
Was dieses Buch aber vom „Mädchen“ unterscheidet, ist der noch deutlichere Einfluß der Vergangenheit auf die Gegenwart, das Aufzeigen von Parallelen und Beeinflussungen, die vorhanden, selbst wenn sie den betroffenen Personen überhaupt nicht bewußt sind oder bewußt sein können. So fallen immer wieder Parallelen zwischen der Handlung in 1922 und derjenigen des Jahres 2011 ins Auge und wie die Menschen früher wie heute sich ähnlichen Problemen und Schwierigkeiten jeder für sich selbst aufs Neue stellen und diese bewältigen müssen.
Daneben spielt das Thema der Vergebung eine Rolle; Sarah und später auch Rahel müssen jede für sich die Erfahrung machen und entscheiden, wie sie damit umgehen, wie weit sie gehen, womit sich für den Leser die Frage stellt, wie er (oder sie) es denn damit hält.
Im Nachwort gibt es einen Hinweis der Autorin, daß möglicherweise noch ein Buch nach kommt. Nachdem Rahel ihre Geschichte hat, bleibt vom alten Quartett nur noch Falk übrig. Auf seine Geschichte bin ich besonders gespannt.
Beendet wird das Buch durch einen Epilog, der den Kreis schließt und endgültig verdeutlicht, wie die Vergangenheit auf die Gegenwart Einfluß nimmt, was den einen oder anderen zum Nachdenken über die Einflüsse früherer Zeiten und Generationen auf das eigene Leben veranlassen kann. Unbedingte Leseempfehlung.