Sehnlichst erwartet – Träume erfüllt!
Auf diese CD-Veröffentlichung warte ich eigentlich seit dem letzten Jahrtausend … ;-)
Jean Martinon und das Chicago Symphony Orchestra … was fällt mir dazu ein: das schwere Erbe der Nachfolge Reiners, geniale Schallplatten, viel Musik des 20ten Jahrhunderts, aber auch Schumanns Sinfonien, unüberbietbare(!) Aufführungen von Mahlers 3ter und 10ter und Hindemiths op.50 (alles live auf Rundfunkbändern, von denen die zwei Mahler hauseigen auf CD erschienen waren) - zudem böser Streit (Fraktionen im Orchester), Pressemacht (Martinon wurde wie schon 15 Jahre zuvor Kubelik durch unfaire Presse zermürbt) und eine akustische Eselei sondergleichen mit Langzeitfolgen (die Zerstörung der Akustik der Orchestra Hall bei dem Umbau des Saals in der Sommerpause 1966. Solti veranlasste in den frühen 80zigern einen "Rückumbau", der eine Teilverbesserung ergab) …
ZU DEN AUFNAHMEN
Bei der ersten Einspielung Martinons (CD 1) mit dem CSO ein Jahr nach der letzten Reiner-Platte wurde das Aufnahmegespann Mohr / Layton abgelöst von Habig / Keville, was sofort ein anderes Klangkonzept zeitigt. Wo bei den Reiner Einspielungen auf subtile Weise viel Nähe und Intimität zu den Instrumentengruppen und Solisten favorisiert wurde, hört man hier auf der ersten Martinon-LP eher die heute gebräuchlichere Klangphilosophie, die mehr vom Saaleindruck (der Zuhörer im Konzert) wiedergeben möchte. Auf dieser Platte ist das gut sehr überzeugend gelungen.
Einige der weiteren Martinon / CSO Aufnahmen mit dem Aufnahmeteam Scott / Goodman, welche die Mehrzahl der Produktionen betreut haben, zeigen aber wieder eine andere Aufnahmephilosophie: mehr das Isolieren von Klangereignissen, das Heranholen von Instrumentengruppen, was manchmal ein etwas inhomogenes Klangbild ergibt.
Aber im Vergleich zu Decca darf man loben, dass alle RCA-Aufnahmen nie kalt oder steril klingen und immer die natürliche Farbigkeit des Orchesters zu hören ist. Und im Vergleich zu den DG-Aufnahmen der 70ziger Jahre klingt das CSO auch wirklich nach CSO - und nicht nach „Mickymouse“… Die DG hatte damals kein glückliches Händchen, ein Bigsound-Orchester gut einzufangen. Auch klingen die Aufnahmen der DG mit Guilini und Barenboim leider eher stumpf, besonders die in der Orchestra Hall aufgenommen.
CD 1
Ravel: Daphnis et Chloé: Suite No. 2
Roussel: Bacchus et Ariade, Suite No. 2
Eine traumhafte Platte, noch in der Orchestra Hall mit der hervorragenden Akustik von dem Umbau aufgenommen. Der Ravel ist ein Klangrausch, der etwas herbere, aber ebenso klanglich-sinnliche faszinierende Roussel war 1964 eine wichtige Bereicherung des Katalogs. Bis heute finde ich diese Aufnahme unerreicht – ebenso wie auf jeden Fall in orchesterklanglicher Hinsicht den Ravel. In dieser ersten Martinon-Platte steckt noch einiger „Reiner“ drin – im besten Sinne.
Die Überspielung ist ausgezeichnet und sticht alle vorhergehenden „Versuche“ (z.T. LP-Transfers Haydn House, aber auch die an sich guten Locked in the Vault Reissues) klar aus - auch die Ravel / Martinon / CSO High Performance CD der RCA (siehe bei CD 8 mehr dazu), wo Daphnis als Dreingabe angehängt war.
CD 2
Varese: Arcana
Martin: Konzert für sieben Bläser, Pauken, Schlagwerk und Streicher
Diese Platte ist neben der Ravel / Roussel LP (CD 1) die einzige, die noch in der guten Orchestra Hall Akustik vor dem Umbau aufgenommen wurde. Arcana (mit viel Schlagwerk) ist hier ein Klangspektakel ohnegleichen. Hochinteressant ist natürlich der Vergleich mit der genau 30 Jahre später entstandenen Einspielung – im selben Raum (der mittlerweile wieder annähernd „rückumgebaut“ wurde) mit dem CSO aufgenommen. Wo es bei Martinon hochexpressive Ausbrüche gibt, lässt Boulez in 10% breiterem Tempo die klanglichen Ereignisse sich einfach entfalten. Beides hat etwas, wobei ich die zupackende Sichtweise von Martinon bevorzuge. Und der Klang der Aufnahme? Also 30 Jahre liegen da für meine Ohren nicht zwischen …
Der Frank Martin ist eine ganz andere leichter zugängliche Welt. Wunderbare Soli der Firstchairs des CSO, sehr gut aufgenommen (Scott / Goodman / Keville). Für mich in beiden Stücken eine Referenzaufnahme, sowohl musikalisch als auch aufnahmetechnisch - wohl für alle Zeiten.
CD 3
Nielsen: Sinfonie No. 4, Op. 29 "Das Unauslöschliche"
Nielsen: Helios Ouvertüre, Op. 17
Was für eine Platte! Intensiver, leuchtender, tiefer und visionärer wird man die beiden großartigen Stücke von Nielsen wohl nie mehr hören! Was für eine Platte …
Die neue CD-Überspielung überzeugt vollkommen. Ende 1966 schon in der umgebauten Orchestra Hall mit nun sehr trockener Akustik aufgenommen, hat bei Nielsen dieses Trockene und extrem Präsente auch eine starke Faszination. Die ungeheure physische Präsenz (Gewalt klingt ja nach grob, was nicht passt) erscheint nicht nur in dem „durchgeknallten“ Solo für zwei Paukisten des letzten Satzes wie ein Naturereignis. Aber auch die Intensität und atemberaubend irrwitzige Klanglichkeit der Streicher, herrliche Soli (Ray Still!) …
Als ob das „Unauslöschliche“ den Hörer nicht schon genug gepackt hätte, dann noch die romantischere Helios Ouvertüre mit einem Sonnenaufgang, wie man sich ihn edler und majestätischer nicht träumen lassen kann – auch dank der Kontrabässe, des großen Horn-Unisono und besonders Adolph Herseth und seiner Trompetengruppe. Alles zum niederknien … Das Mastering - hier von Richard King – der Aufnahme des Produzenten Scott und Technikers Goodman lässt keinerlei Wünsche offen! Die beiden die innerhalb der letzten 20 Jahre erhältlichen CD-VÖs (ASIN B000026GJ7 + ASIN B000EHQ8BO) waren zwar OK, sind dem aktuellen Mastering aber weit unterlegen. ABER: Dennoch nicht weggeben – wegen der 1ten Nielsen mit Previn / LSO und der 2ten Nielsen mit Gould / CSO. Letztere ist die Referenzaufnahme der 2ten!
Diese Platte gibt übrigens am besten den Eindruck wieder, den viele der unten angesprochenen leider nur zum Teil veröffentlichten Live-Mitschnitte bieten.
CD 4
Bizet: L'Arlésienne Suite No. 1
Lalo: Le roi d'Ys - Ouvertüre
Bizet: L'Arlésienne Suite No. 2
Massenet: Thaïs (mit Staryk)
Bizets zwei L Arlésienne Suiten sind bei Martinon großgestige vitale Musik. Auch wenn natürlich fein und phantasievoll gespielt wird, so ist der Ansatz oft auch sehr zupackend. Manch einer würde das wohl von einem französischen Dirigenten anders erwarten. Aber Martinon erfüllt solche Erwartungen nie – und warum sollte er auch …
Es ist auch eine Platte der Soli: Oboe, Flöten und Flöten-Solo mit Harfe, Saxophon - Streicher mit Dämpfer, unerhörte Töne in den Mittelstimmen …
Höhepunkt ist für mich die Ouvertüre von Lalo, Tuba-Töne, Cello-Solo, Oboe, Trompeten-Stakkatoketten, Posaunen ... aber natürlich nicht nur wegen des unglaublichen Thrills der Virtuosität und Kraft, sondern auch wegen der sich wunderbar aufschwingenden Musik!
Alle Stücke dieser Platte sind April und Mai 1967 im Medinah Tempe aufgenommen – außer der Meditation mit dem damaligen Konzertmeister Stephen Staryk Dezember 1966 in der trockenen Orchestra Hall. Der Unterscheid fällt auf dieser CD deutlich auf – ein gutes Zeichen …
Es hat wieder das Team Scott / Goodman aufgenommen. Das Mastering zeigt relativ deutliches Grundrauschen und leichten quasi LP-Verzerrungen im ff - vielleicht wurde eine für die Bänder nicht ganz exakt passende Abspielmaschine oder Bandkopien verwendet?) stammt aus Japan (wohl für die VÖ von Tower Records von 2004) und ist akzeptabel. Ausnahme: Der Lalo ist viel besser gelungen - und dieses Mastering ist von Andreas K. Meyer. Abspielmaschine beim Bizet hin oder her – das Mastering dieser CD ist eindeutig bisher das beste vorhandene. Besonders die Haydn House LP-Überspielung hat sich damit nun erübrigt. Die Tower Records CD klingt tatsächlich sehr ähnlich, aber etwas flacher.
CD 5
Bartók: Der wunderbare Mandarin
Hindemith: Nobilissima Visione
Beide Stücke in Aufnahmen für alle Zeiten … Natürlich gibt es einige ausgezeichnete „Der wunderbare Mandarin“ Einspielungen … aber diese hier zu hörende extreme Klanglichkeit ist unüberbietbar. Da kommt auch Solti mit dem CSO viele Jahre später nicht ganz heran, schon wegen des weniger sinnlicheren Klangs der Decca-Aufnahme.
Von Hindemiths Nobilissima Visione gibt es noch viel weniger nennenswerte Platten – am ehesten wohl seine eigene mit dem Philharmonia Orchestra London. Auch hier ist es einfach ein Fest, das CSO mit diesem stiefmütterlich behandelten Meisterwerk hören zu können.
Martinon versteht beide Stücke vollkommen. Alles stimmt perfekt: Proportionen, Balance, Tempi, Ausdruck …
Aufnahmen aus dem Medinah Temple vom April und Oktober 1967. Die Sache mit dem Mastering von Hsi-Ling Chang ist dasselbe wie bei der CD 8: Es ist kaum zu glauben, dass das hier so gut klingende Mastering bei der High Qualitiy Ausgabe von vor 10 Jahren so verdorben wurde. Auch die japanische „RCA RED SEAL Vintage Collection“ Ausgabe klingt nicht so gut wie die CD in der Martinon-Box.
CD 6
Martinon: Sinfonie No. 4, Op. 53 "Altitudes"
Mennin: Sinfonie No. 7 "Variation-symphony"
Der Komponist Jean Martinon ist ebenso wie Peter Mennin für „normale“ Ohren „gut zu hören“. Gemäßigte Moderne, bei Martinon in der 4ten Sinfonie mit einem spirituellen Anspruch: Die „Altidudes“ benannte dreisätzige (letzte) Sinfonie Martinons war eine Auftragskomposition des CSO und steht inhaltlich für „den geistigen Aufstieg, den Aufstieg der Seele in eine unermessliche Unendlichkeit“ (Zitat aus dem Textheft).
Die Aufnahmen von 1967 aus dem Medinah Temple sind gut eingefangen.
Der Digital-Transfer ist ausgezeichnet. Die LP hatte in den mit bekannten Pressungen nicht diese räumliche Weite. Ob das alles bei der LP verschluckte feine Informationen sind oder ob da doch ein wenig nachgeholfen wurde? Jedenfalls klingt es … Den semiprofessionellen LP-Transfer des Labels Haydn House kann man nun getrost völlig vergessen.
CD 7
Weber: Klarinettenkonzert No. 1 f-moll, Op. 73 (Benny Goodman, Klarinette)
Weber: Klarinettenkonzert No. 2 Es-Dur, Op. 74 (Benny Goodman, Klarinette)
Eine Interpretation durch Martinon, die eine gute Balance zwischen den romantischen und klassischen Anteilen der Kompositionen Webers herstellt, in den schnellen Sätzen mit einer Tendenz zum Strengeren. Die zwei Konzerte sind (wenn es kein Druckfehler ist) exakt im Abstand von einem Jahr aufgenommen worden (Mai 1967 und Mai 1968). Das Klangbild ist heller und klarer als bei der RCA CD-VÖ von 1987. Dennoch kann man auf diese alte CD-Ausgabe nicht weggeben, da dort noch das Nielsen Klarinettenkonzert mit Morton Gould / CSO (ebenso mit Goodman als Solisten) mit drauf ist. Also zumindest als Verehrer des Orchesters oder Goodmans …
Leider ist für mich Benny Goodman die Schwachstelle der an sich sehr schönen Einspielung. Mein persönlicher Eindruck hat nichts damit zu tun, dass der Meister des Swing sich auch aufs klassische gleis bewegte. Ich bin prinzipiell gegen jegliche Einordnung oder klassifizierende Wertung. Mein “Unwohlsein” macht sich auch nicht am Musikalischen (er konnte sicher mit den Stücken etwas anfangen), sondern allein am Klanglichen fest. Sein eher spitzer, heller und in Grunde „abgedrückter“ Ton passt so wenig zu diesem Orchester, dass es zwei völlig verschiedene Klangliche Welten ergibt. Die Aufnahme „klassischer“ Musik mit Benny Goodman war übrigens keine Eintagsfliege oder Laune von Goodman (vielleicht eher schon eine Marotte), sondern er hat diese Auseinandersetzung sehr ernsthaft und permanent betrieben. Zeugnis davon geben Aufnahmen von (und mit!) Bartok, Mozart, Brahms, Weber, Nielsen …
CD 8
Ravel: Rapsodie espagnole
Ravel: Alborada del gracioso
Ravel: Ma mère l'Oye
Ravel: Introduction and Allegro for Harp, Flute, Clarinet, and Strings (mit Druzinsky, Peck und Brody)
Ravel ist der am prominentest vertretene Komponist aller Martinon-Aufnahmen in Chicago, wobei sich der Dirigent selbst durchaus nicht zuallererst mit dem französischen Repertoire identifizierte. Bei der „Rapsodie espagnole“ und der „Alborada del gracioso“ drängt sich natürlich der Vergleich mit der ein paar Jahre früher entstandenen Einspielung mit Fritz Reiner und quasi denselben Musikern auf (Reiner hat allerdings in der Orchestra Hall und Martinon im Medinah Temple aufgenommen) und – man ahnt es – der alte Reiner hat bei allem Unterschieden des Musizierens und der generell divergenten Auffassung von „Französischem“ die Nase vorn. Seine Aufnahme klingt nicht ganz so aufnahmetechnisch weit aufgelöst, aber der Unterschied ist sehr gering. Aber die Frische des Musizierens, die Farbigkeit, das rhythmische Leben, die Phantasie, die Freiheit in den Tempi: Hier lässt Reiner in allen Punkten Martinon doch hinter sich … Ich freue mich aber dennoch sehr, dass es beide Einspielungen gibt, schon wegen dieser vielen Ausnahmemusiker, die damals das CSO ausmachten.
Wunderbar, wie auf dieser Martinon-CD die hervorragende gelungene Aufnahme in allen Feinheiten erklingt! In diesem Detailreichtum und unverfärbter Natürlichkeit habe ich die großartige Einspielung von „Ma mere l Oye“ oder Introduction et allegro“ noch nie hören können. Diese beiden Stücke sind für mich in diesen Interpretationen absolute erste Wahl – „Ma mere“ direkt neben Monteux und Munch.
Die XRCD von JVC (ASIN: B002GZM3FC) ist eine Alternative für „Feinsthörer“: Sie klingt an manchen Stellen noch „standfester“, ist aber nicht so weit im Panorama (somit vielleicht noch genauer am Original) und nicht so sehr präsent wie die hervorragend gelungene neue Überspielung. Bei der XRCD kommt alles ein kleines bisschen mehr verhangen aus der Tiefe des Raums. Wer es nicht allzu klar auf dem Präsentierteller mag, hat in dieser kostspieligen japanischen Ausgabe von 2009 eine echte Alternative. Ich höre, dass sie deutlich anders klingt, aber nicht würde ihr nicht das Prädikat „besser“ geben.
Die HP-Ausgabe (ASIN: B00004TCPS) der amerikanischen RCA von 2000 kann beiden anderen CD-Transfers nicht das Wasser reichen. Eine schockierende Erkenntnis bietet diese CD im Direktvergleich mit der hier neuen aber: Beide verwenden das Remastering von Hsi-Ling Chang, was vom Höreindruck her wahrlich nicht zu glauben ist! Ein schlagender Beweis dafür, dass NACH dem Mastering noch jede Menge manipuliert wird, also – wie bei der Ausgabe von 2000 – an gut Gelungenem wieder weggenommen werden kann …!
CD 9
Bizet: Sinfonie C-Dur
Mendelssohn: Ein Sommernachtstraum (Ouvertüre Scherzo Notturno Hochzeitsmarsch)
Wie wichtig ist diese CD-Veröffentlichung! Bis jetzt gab es den Mendelssohn mit Martinon und dem CSO nur in eine an sich gut gelungene semi-professionelle Überspielung durch Haydn House. Das Problem war aber bei allen Transfers dieser CD von Schallplatten (eben nicht von originalen Bändern) die Verzerrungen im Hochzeitsmarsch und beim Bizet schon ab dem Scherzo und im Finale.
Man mag bei Martinon in der Ouvertüre des Sommernachtstraums das Allegro als zu steif, eckig und hart empfinden oder überhaupt in den vier Sätzen die weit ausladende romantische Attitüde vermissen. Aber das war eben seine sehr konzentrierte und streng gefasste Art des Musizierens. Andererseits: In welcher anderen Aufnahme ist je solche eine Qualität des Streicherspiels erreicht worden? Wo ist solch eine Fülle von phantastischen Soli zu hören (z.B. die Flöte am Ende des Scherzos), wo klingt das Notturno schon so schlicht und dennoch tief? Wo klingen die Trompeten im Hochzeitsmarsch so auffahrend und festlich, das tiefe Blech so klar und kräftig ohne die Musik schwer zu machen?
Die C-Dur Sinfonie von Bizet ist einfach nur herrlich! Straff, quirlig witzig, mit einer unglaublich kontrollierten und einheitlichen Bogentechnik der Streicher im Finale. Es gibt ein paar wirklich erfüllende Einspielungen des Werks – z.B. vom ganz späten Stokowski. In speziellen Punkten wird diese Aufnahme hier meines Erachtens aber für alle Zeiten unerreicht bleiben.
Die Überspielungen auf CD ist bei beiden Stücken sehr gut gelungen. So gut war weder der Mendelssohn noch der Bizet bis jetzt in der Martinon-Aufnahme je zu hören!
CD 10 - Bonus:
Casadesus: Konzert für Klavier und Orchester, Op. 37 (1969) (mit Orchestre National de L'O.R.T.F.)
Paganini-Stokowski: Moto perpetuo
Ravel: Pavane pour une infante défunte
Ravel: La Valse
Ravel: Boléro
Diese letzte CD ist natürlich ein Highlight für den Chicago-Enthusiasten. Aber DAS liegt natürlich nicht an dem Klavierkonzert von Casadesus mit dem Orchestre National de ORTF. Für mich ist es erschütternd, wie nach ein paar Stunden CSO ein Orchester auch bzw. eher nicht klingen kann… Zugegebenermaßen aber auch nicht grade geschickt aufgenommen. Aus welch unerfindlichem Grund diese Aufnahme in die Box übernommen wurde? Wahrscheinlich nur, weil es halt eine Columbia-Aufnahme ist - wo Martinon ansonsten später doch nur noch für die EMI Aufgenommen hat.
Hier sind drei Stücke von Ravel versammelt, die auf CD (außer wieder in Semiprofessionellen LP-Überspielungen) zu haben waren. Die „Pavane“ und „La Valse“ waren auf zwei der Sonder-LPs „Chicago Marathon“ der RCA in den Siebzigern in den USA zu bekommen, der Bolero nur auf einer Ravel „Greatest Hits“ (LSC 5002) mit verschiedenen Interpreten veröffentlicht.
Martinon nimmt die Pavane in ruhig fließendem und flexiblem Tempo und gibt den Solisten alle Freiheit sich zu entfalten. Fritz Reiner hat ein paar Jahr zuvor eher das gleichmäßig ernst Schreitende des Stücks betont. Ein interessanter Vergleich, was die Musiker aus beiden Ansichten machen – nicht nur wegen des Unterschieds des Hornsolos von Farkas und des jungen Clevenger. Reiner gibt dem Stück mehr Geschlossenheit, bei Martinon ist es rhapsodischer. Eine gute Aufnahme aus dem Medinah temple.
La Valse ist in dieser eigentlich unveröffentlichten Einspielung eine wichtige Bereicherung des CSO-Katalogs. Martinon nimmt das Stück (trotz seiner manchmal etwas eckigen oder ruppigen Art) für seine Verhältnisse ungewöhnlich „französisch“ (oder wienerisch?) – wirklich als einen Valse, wenn auch am Ende sehr schnell und expressiv-exzessiv. Wie ein Trompeter ein ganzes Orchester dieses Klangvolumens(!) dominieren und anführen kann – samt Crescendi, Decrescendi, Rubati usw. Dieser expressiv wagemutige Principal mit Stahlnerven namens Herseth wird wohl DIE Ausnahmeerscheinung unter Trompetern bleiben.
Geht’s noch abgedrehter? JA! Bei Reiner (live – natürlich auch mit dem CSO!) geht am Ende in La Valse die Welt unter – oder eben zumindest die Gesellschaft des 19ten Jahrhunderts - und ich befürchte heute noch beim Hören, dass angesichts des Ausbruchs klanglicher Brutalität (was ist schon der Sacre dagegen*g*?) am Ende die Orchestra Hall hätte einstürzen können … Martinon machte seine Einspielung übrigens im Medinah Temple.
Der Bolero, den Reiner ja nicht aufgenommen hatte, ist auch ein Zeugnis der souveränen Orchesterkunst des CSO im März 1966 – noch in der „guten“ Akustik der Orchestra Hall aufgenommen. Das Tempo ist leicht nach vorne gerichtet (mal mehr, mal weniger - das schwankt vom Empfinden her), 13:45 min Spielzeit ist außergewöhnlich zügig. Der Bolero wiegt hier weniger wie in viele Aufführungen / Einspielungen sonst, aber er swingt ungemein. Martinon gibt der „Orchesterstudie ohne Musik“ (zwei Zitate Ravels zu einer Aussage zusammengefasst) spanisches Temperament, gegen Ende (noch weit vor der Modulation!) eine erregte freudige Erwartung (ansonsten gibt’s ja oft fatalistische Galeeren-Stimmung) – und das Ganze mit einer gewissen modernen Kühle und spanischen Strenge. Für mich ist das DIE Aufnahme des Bolero schlechthin – trotz der zwei schönen Münch/BSO-Einspielungen und ein zwei anderer. Martinon schafft es, dass man das Stück ernst nimmt – auch emotional.
Diese „CSO-Nachlässe“ sind allesamt Masterings aus Japan. Die dazugehörende originale CD habe ich allerdings nicht gehört. Ich glaube mich auch an eine gemischte Ravel CD zu erinnern … Das Mastering könnte - zumindest bei Bolero - vielleicht noch einen Tick besser sein. Aber das ist schon „Jammern auf höchstem Niveau“ …
Und da ist auf CD 10 noch meine absolute Lieblingsaufnahme der „unveröffentlichten“ Stücke mit Martinon, welche auch auf einer „Chicago Marathon“ Platte enthalten war und die Russ Oppenheim als LP-Transfer ganz ordentlich auf CD gebracht hat:
Das „Moto perpetuo“ von Paganini in der Bearbeitung von Friederick Stock. Auf der aktuellen hier besprochenen CD-VÖ hört man endlich die subtil-hintergründige Bläser-“Begleitung“ (eine Bezugnahme auf den Finalsatz der „Eroica“ - eine Idee Stocks) in allen Schattierungen. Das „Wunder“ leisten natürlich die hohe Streicher – das müssen sie einfach hören! … An den hellen Klang der Streicher, durch die Überspielung leider etwas „weiß“ geraten (da steckt im Originalband bestimmt noch mehr Farbe drin), muss ich mich allerdings erst noch gewöhnen: die mit bekannte Platte und CD-Ausgabe (ROCD 0039) klang deutlich gedeckter, aber dafür ging manches in den Bläsern verloren.
Zu Stock jetzt etwas mehr:
EINE KLEINE EHRUNG DES ZWEITEN DIRGENTEN DES CSO - FREDERICK STOCK
Geigenhimmel, sprühender Witz und Glück pur ist die Bearbeitung des „Moto Perpetuo“ von Paganini durch Frederick Stock (1872-1942), den Chefdirigenten für 37 Jahre beim CSO (1905-1942). Diesem großen Dirigenten und auch Komponisten (in etwa Brahms-Nachfolge, aber nicht epigonal) ist nicht genug zu danken. Er hat den Boden für das Weltklasse-CSO bereitet, hat anscheinend damals schon der Vorgängergeneration von Herseth, Still und all den anderen großartigen Musikern von den Mitte Fünfzigern bis etwa zur Jahrtausendwende das außergewöhnliche Feuer mit Vision mitgegeben.
Die etwa 10 CDs umfassende Sammlung seiner Aufnahmen bei Columbia und RCA wären es wert, auch in einer kleinen Box geehrt zu werden. Schubert „Große C-Dur“, Brahms 3te, Beethoven 4tes und 5tes (mit Schnabel), Mozart 38te und 40te, Tschaikowsky 5te, Nussknackersuite und Violinkonzert (mit Milstein – sensationell!), Chausson Sinfonie, Saint-Saens Cellokonzert (mit Piatigorsky), Strauss Zarathustra und dritter Satz Aus Italien, Dohnányi Suite, Bach „St Anna“ Präludium und Fuge BWV552 und h-moll Suite (mit Liegl) – und kürzere Kompositionen von Bach, Enesco, Glasunow, Goldmark, Sibelius, Wagner, Walton u. a. und ein sinfonischer Walzer des Dirigenten.
Ob sich Sony (die das alles ja in ihren Archiven hat) dazu ermuntern lässt?
BOOKLET UND BOX
Das Booklet birgt einen deutschsprachig fünfseitigen Text von Christoph Schlüren. Nicht uninspiriert oder platt, mit ein paar Einsichten, aber insgesamt nicht wirklich erhellend. Natürlich hatte Martinon durchaus Probleme mit dem Orchester in Chicago. Dann gab es da wie schon erwähnt den Umbau der Orchestra Hall …
Die Auflistung der CDs am Ende des 43seitigen Heftes ist wie immer bei Sony sehr gewissenhaft genau.
Die CDs kommen in der (mittlerweile erfreulicherweise ja schon gewohnten) originalen Cover-Art daher, stabil genug und auch gut zu entnehmen. Allerdings vermisse ich bei solchen VÖs immer die originalen Plattentexte. Auf den Einzel-CD Ausgaben sind sie meistens sehr gut von Stefan Lerche ins Deutsche übertragen.
Die CD-Transfers sind allesamt wie schon beschrieben sehr gut.
Die etwa 4 cm dicke Box sieht ansprechend aus (wobei ich auf jeden Fall ein anderes Foto genommen hätte!) und ist stabil.
KAUFEMPFEHLUNG??? Was für eine Frage . . .
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NACHTRAG – PLÄDOYER UND AUFRUF
Nochmals eingehender zu den schon erwähnten Live-Mitschnitten mit dem CSO durch den Rundfunks von Chicago (heute WFMT), die zum allergrößten Teil immer noch unveröffentlicht in den Archiven langsam ihren Geist aufgeben, wenn sie niemand liebevoll digitalisiert. Tonbänder haben nur eine begrenzte Lebensdauer (Kopiereffekte, Rückbau der Magnetisierung, dadurch immer höheres Grundrauschen und schwächere Höhen).
Diese Bänder bergen das Großartigste (und das meine ich hier in musikalisch-KLANGLICHER Hinsicht), was Mikrophone je vor die Membran bekommen haben. Aber wer könnte eine Restaurierung / Digitalisierung bewerkstelligen? Von 1986 bis 2008 hat das Orchester mit Hilfe von Stiftungen usw. 22 Doppel-CDs (also insgesamt 44 Scheiben) und zwei Boxen mit 12 und 10 CDs aus den Rundfunkarchiven von Frederick Stock bis Pierre Boulez veröffentlicht. Bei diesen 66 CDS scheint es zu bleiben, denn mit der Gründung des hauseigenen Labels CSO-Resound, welches aktuelle Einspielungen des Orchesters herausgibt, sind alle historischen VÖs eingestellt.
Also keine weiteren Kubelik, Reiner, Stokowski, Gould, Hoffman, Martinon, Guilini, Leinsdorf, Solti, Barenboim, Levine, Boulez, Sargent, Ansermet, Rosbaud und vieler anderer mehr … Schade, denn es gäbe noch einige Sternstunden zu heben – was hier nicht nur einmalige Dirigentenleistungen beinhaltet, sondern dazu ein glückliches Zusammentreffen unüberbietbarer orchestraler Möglichkeiten, traumhaft eingefangen von den Tontechnikern des WFMT Radiosenders von Chicago.
Ich kann nicht mehr tun, als den langsamen Verfall eines bedeutenden „akustischen Weltkulturerbes“ anzumahnen…! Das ist nicht übertrieben, denn es dreht sich hier nicht nur um ein Zugänglichmachen von guten Interpretationen unter vielen anderen guten Interpretationen von klassischen Stücken woanders auf der Welt, sondern um eine im Grunde bis heute nicht in den Raum gestellte Frage:
Was ist (auch physiologisch-physikalisch!) an klanglicher „Perfektion“ (und somit auch an Klarheit, harmonischem Verständnis und elementarer Expressivität) überhaupt für ein Sinfonieorchester überhaupt MÖGLICH!? Meines Erachtens hat das Chicago Symphony Orchestra (besonders in Konzerten der 50ziger bis 80ziger Jahre) die menschenmögliche Antwort gegeben ...
Wenn Sie diese Box (z.B. dem Nielsen) hier in diesem Sinne hören (und unter diesem Aspekt Aufnahmen vergleichen), dann ahnen oder verstehen Sie vielleicht, was ich mit der Fragestellung meine …