Nur die Musik spricht – zum Vorteil der Werke
Die vier Sterne hätten angesichts der herausragenden Einspielungen, die unter anderem in der Box stecken auch fünf sein können. Angesichts der wenigen „Ausreißer“ nach unten sind vier Sterne aber insgesamt gesehen durchaus passend.
Bei Amazon Deutschland hat in dem halben Jahr seit der VÖ diese 21CD-Box mit Charles Rosen besprochen, wobei doch gerade Pianisten im Allgemeinen schnell Rezensionen herausfordern. Das scheint eine Nebensächlichkeit – und dennoch wirft sie ein Licht auf die Rezeption dieses Pianisten speziell und anderer Pianisten, welche Musik weniger „interpretieren“ denn „zeigen“ an sich.
Jeremy Siepman nennt seinen lesenswerten Beitrag zu Charles Rosen (samt Ausflug zu Marcel Proust) im Textheft „Ein Denker für Denker“ (8 Seiten in Deutsch) – und damit hat er tatsächlich einen ganz wesentlichen Punkt dieser Aufnahmen getroffen. Zudem ist Rosen nicht nur Pianist, sondern auch ernstzunehmender Autor (Vielseitigkeit war eine von mehreren Parallelen zu Glenn Gould), was seine Universalität unterstreicht.
Anders gesagt: Wer gefühlvolles romantisches Klavierspiel mit großen musikalischen Ansagen liebt, sollte auf jeden Fall die Finger von dieser Box lassen! Allerdings wird so jemand angesichts des gespielten Programms (immerhin bestehen streng genommen 8 der 21 CDs aus Musik des 20ten Jahrhunderts!) eh wohl kaum versucht sein …
Immer wieder lässt mich Charles Rosen in seiner absoluten Konsequenz der musikalischen Ausführung an Glenn Gould denken.
ALLE AUFNAHMEN IN DIESER BOX (samt persönlicher Anmerkungen und Sterne-Vergabe pro CD):
DISC 1 *** bis ****
• Ravel: Gaspard de la nuit - 3 poemes pour piano
• Ravel: Le Tombeau de Couperin
Leider macht Sony keine Angabe dazu, dass es sich hier bei der Einspielung von 1959 um eine Monoaufnahme (oder nur Mono-Veröffentlichung?) handelt. Das Klangbild ist für 1959 tatsächlich ein wenig mager. Schon in dieser frühesten Einspielung zeigt sich die (damalige) Modernität des Pianisten Rosen: eine stupende Technik und eine auffällig „nüchterne“ Sicht auf den sonst allgemein „sinnlich“ gespielten Ravel. Aber auch diese technische Schönheit ist auf ungewohnte Art sinnlich - eine kühle Schönheit, die durchaus nicht eines tiefen Verständnisses für diese Musik entbehrt. So ist Ravel ein Komponist des 20ten Jahrhunderts und nicht doch noch ein halbherziger Romantiker …
DISC 2 **
• Chopin: Ballade No. 4 in F minor, Op. 52
• Chopin: Scherzo No. 3 in C-sharp minor, Op. 39
• Chopin: Polonaise in A Flat major, Op. 53 No. 6
• Chopin: Mazurka No. 2 in C-sharp minor, Op. 6 No. 2
• Chopin: Mazurka No. 31 in A-flat major, Op. 50 No. 2
• Chopin: Mazurka No. 32 in C-sharp minor, Op. 50 No. 3
• Chopin: Nocturne No. 8 in D-flat Major, Op. 27 No. 2
• Chopin: Nocturne No. 5 in F-sharp major, Op. 15 No. 2
• Chopin: Nocturne No. 17 in B major, Op. 62 No. 1
Bei Chopin geht das Konzept nicht so gut wie bei Ravel auf. Hier wirkt diese Selbstdisziplin (oder Einstellung zum Musizieren) phasenweise doch etwas arg steif und nimmt der Musik etwas von ihrem Wesen. Das metrisch sehr grade Spiel mit wenig Klangzauber entbehrt auch m.E. etwas einer geistigen Auseinandersetzung mit dieser romantischen Musik oder die deutliche Korrespondenz mit der Seele, welches beides von Chopin doch in die Stücke „mit hinein komponiert“ ist. Nicht dass es kaltherzig oder langweilig wäre, aber Chopin erscheint mir hier ohne visionäre Ekstase, Trauer und Träumen doch etwas „sinnentleert“.
DISC 3 ****
• Stravinsky: Serenade in A for Piano
• Stravinsky: Sonata for Piano
• Schoenberg: Klavierstück, Op. 33a
• Schoenberg: Klavierstück, Op. 33b
• Schoenberg: Suite for Piano, Op. 25
• Stravinsky: Movements for Piano and Orchestra
Das sind Komponisten, die dem Spiel Rosens mehr entgegenkommen. Der UK-Rezensent Scratcher hat angemahnt, dass Sony bei dieser VÖ wieder mal(!) die Chance verpasst hat, die Strawinsky-Sonate endlich mit der Wiederholung zu veröffentlichen. Ein Kommentar dazu erhellt noch Schlimmeres, auf das ich nicht näher eingehen möchte. Da sind extrem kluge und kompetente Menschen in England am Rezensieren. Das fällt gegenüber Amazon Deutschland immer wieder auf …
Bei allen Stücken dieser CD fällt die überragende Fähigkeit Rosens auf, Strukturell zu hören und das auch in einer klaren klanglichen Form zu vermitteln. Wer mit der Klaviermusik von Schönberg und Strawinsky etwas anfangen kann (oder den Versuch wagen möchte), findet hier eine durch und durch erfüllte Einspielung. Die „Movements“ (knapp 9 Min) mit Strawinsky am Pult sind natürlich schon öfters andernorts veröffentlicht worden.
DISC 4 ****
• Carter: Double Concerto for Harpsichord and Piano with Two Chamber Orchestras
• Kirchner: Concerto for Violin, Cello, Ten Winds and Percussion
• Carter: Piano Sonata
Carters Doppelkonzert (mit Ralph Kirkpatrick am Cembalo) liegt hier in einer exquisiten ersten Einspielung vor. Auch aufnahmetechnisch wurde hier gute Arbeit geleistet, ebenso bei dem mich nicht so ganz überzeugenden Stück Leo Kirchners. Die Sonate von Carter finde ich in der noblen Zurückhaltung und feinen Poesie sehr hörenswert. Rosen verzichtet auf allzu große Expressivität, was zwar etwas „Thrill“ nimmt, aber den Hörer das Stück leichter verstehen lässt.
DISC 5 ****
• Debussy: 12 Études pour le Piano
Auch hier bleibt sich Rosen treu: Klarheit, Struktur, Verständlichkeit – daraus erwächst die Schönheit der Musik. Also kein raffinierter Klangzauber, aber ein faszinierender kühler Hauch des Fremden, welcher – so gespielt – immer noch um diese Werke weht. Es ist - wie öfters bei Bach festzustellen - eine Musik der „Ideen“, mehr für den Mit-Denker als ein „passives“ Auditorium geschrieben und vorzutragen. Die Aufnahmetechnik unterstützt hier und in allen Rosen-Aufnahmen der Columbia durch ein eher trockenes Klangbild ohne viel Raumklanganteile diese Sicht auf die Musik.
DISC 6 ****
• Schubert: Sonata in A Major for Piano, D. 959
• Mozart: Rondo in A Minor, K. 511
Es ist schon auf den erste Blick irgendwie überraschend, dass Rosen Schubert für eine Schallplatte ausgesucht hat. Aber es kommt bei aller Tendenz zum zeigen dessen, was Schubert hier auch dem PIANISTEN abverlangt und an Technik in die große A-Dur Sonate reinpackt, kein virtuoses Geklingel wie bei manchen rein spielfreudigen Klavierspielern heraus. Das verschränkte Laufwerk wird zu einer Aussage, wie sie sonst bei Schubert nicht zu hören ist. Ansonsten fällt meist nur extreme Virtuosität des Scherzos auf. Bei Rosen bekommt die ganze Sonate bezüglich einer Aussage im Rasanten von Figuren einen großen Zusammenhang. Das wird nicht jedem gefallen, aber ich finde es bereichernd auch in diese Richtung bei Schubert zu denken. Und es ist absolut überzeugend vorgetragen! Der langsame Satz mit seinem chaotischen Mittelteil fügt sind endlich in das Ganze, auch das Finale ist absolut überzeugend. Zudem ist die A-Dur Sonate kein Werk der Zerknirschung oder des Grübelns wie die B-Dur …
Mozarts Rondo – man ahnt es schon – ist ebenfalls nicht zerdehnt und zergrübelt, aber dennoch von einer Schwermut und Morbidität durchzogen.
DISC 7 **
• Schumann: Davidsbündlertänze, Op. 6
• Schumann: Carnaval, Op. 9
Auch wenn sich wie bei der ersten Chopin-CD stichhaltige rationale Argumente(!) für diese ziemlich nüchterne Spielweise finden lassen mögen, so ist auch diese Platte eine der gefühlt(!) schwächeren dieser gesamten Columbia-Aufnahmen mit Charles Rosen. Hölzern wie der Klang des Klaviers ist auch die Empfindung, die dabei rüberkommt …
Im Carnaval gibt es durchaus Momente die nicht nur mehr quirlig, sondern schon eher hudelig sind. Das retardierende und weltabgewandte Moment kommt generell etwas zu kurz. Das oftmals nur in Zeitlupe stilisiert Tänzerische - als quasi Echo aus der Ferne oder dem Unterbewusstsein - ist meist allzu derb und direkt ausgespielt.
DISC 8 ****
• Liszt: Don Juan Fantasy
• Liszt: Sonetto No. 104 del Petrarca
• Liszt: Hungarian Rhapsody No. 10
• Bartók: Improvisations on Hungarian Peasant Songs, Op. 20 (Sz. 74)
• Bartók: Etude, Op. 18, No. 1
• Bartók: Etude, Op. 18, No. 2
• Bartók: Etude, Op. 18, No. 3
Liszts Don Juan Fantasie zählt für mich eher zu den effektvollen „Klingelstücken“ Liszts - aber vielleicht bin ich da einfach Banause … Rosens nervös virtuoses und etwas abruptes Spiel nimmt etwas von der Salonhaftigkeit, weshalb die Fantasie aber dennoch nicht zu meinen Lieblingsstücken von Liszt mutiert. Ganz anders verhält sich das mit der herberen Klangsprache des Petrarca Sonetts 104, das Rosen straff und kräftig zum Klingen bringt. Die Ungarische Rhapsodie ist wieder übersichtlich und federnd gelungen und lässt in der beachtlich umgesetzten Virtuosität (z.B. die Dynamik der Glissandi) ein wenig an den phantastischen Georges Cziffra denken. Das macht Spaß zu hören…
Die „Rückseite“ der Platte ist dann eine ganz andere (ungarische) Welt – Bartok … absolut adäquat gespielt. Hauptsächlich dafür (und die Liszt Rhapsodie) vier Sterne.
DISC 9 ***** plus zusätzlichen ***** für die Hammerklaviersonate … : - )
• Beethoven: Sonata No. 31 in A-flat major, Op. 110
• Beethoven: Sonata No. 29 in B-flat major, Op. 106 "Hammerklavier"
Gleich der Anfang von op. 110 zeigt, wo es mit Rosen lang geht: Die umspielende Tonkette ab Takt 12 gerät nicht zu rauschender Klanglichkeit, sondern bleibt ganz klar und diszipliniert in der Struktur. Rosen bleibt sich und seiner Einstellung zum Musizieren immer und überall treu … Was für ein großartiges ausgeleuchtetes „Allegro molto“ des (extrem heiklen) zweiten Satzes, was für eine Klangrede des Rezitativs des „Adagio ma non troppo, dann ein herb unverzärtelter und flüchtiger Klagegesang. Daraus erwächst schon förmlich der Vorwärtsdrang des großen Schlusssatz mit der Fuge, welche ihre Klarheit auch aus der genauen Umsetzung der angegebenen Dynamik bezieht. Das „ermattet, klagend“ des eingeschobenen „Arioso“ ist genau getroffen, die Artikulation genau erreicht. Dann das Anschwellen der Akkorde vor der Fuge ohne eigenwillige Ritardando oder Accelerando. Die Umkehrung der Fuge entwickelt einen großen ekstatischen Sog bis zum letzten Ton – ein ganz großartige Interpretation. u.a. einfach durch die genaue Umsetzung der Angaben Beethovens!
Die Hammerklaviersonate ist mit Wiederholung der Exposition zu hören. Wieder eine unglaubliche Klarheit der einzelnen Stimmen in dem polyphonen Geflecht, was bei anderen oft zum Gewirr gerät, nicht nur in der Fuge. Und alles immer mit einem konstanten Fluss und Stringenz. Rosen ist es jederzeit möglich, das eh schon rasante Tempo noch etwas anzuziehen und nach vorne zu gehen – aber nicht als billiger Effekt, sondern um die Spannung und Linie der Musik noch zu schärfen und ausgearbeitete Höhepunkte zu setzen. Dabei verliert nichts an Klarheit oder auch nur ein wenig der peinlich genau beachteten differenzierten Dynamik. Schon beim Kopfsatz kommt man als Hörer kaum aus dem Staunen heraus, im Scherzo wird’s fast noch „schlimmer“ …
Das Adagio sostenuto glänzt wieder mit seiner sinnvollen Dynamik, die kaum wo so deutlich zu hören ist wie bei Rosen. Die Idee der Umsetzung des Espessivos in Takt 26. Das „con grand'espressione“ ab Takt 28 ist für Rosen kein „Schwimmen im Klang“ und kein Dauer-Forte. Beethoven schreibt ja auch ein Crescendo aus dem Piano heraus und nach ein paar Takten schon wieder Decrescendo. Andere Pianisten machen da mehr mit „internen Rubati“, z.B. eine gleichmäßige linke und eine freie rechte Hand, aber Rosen hat seine eigene Sicht. Der zweite Anlauf der „Klage“ ab Takt 87 gewinnt gegenüber dem ersten ab Takt 27 deutlich an Intensität. DAS ist die große Kunst, solch einen langen und komplexen Satz zu formen und die Spannung nicht aus der Hand zu geben. Das Grundtempo ist zügig, aber nie verhetzt. Das neuerliche „con gran'espressione“ bei Takt 118 zeigt, dass Ausdruck nichts mit Lautstärke oder Gewalt oder überhaupt Gewolltem zu tun hat.
Dann die genaue Umsetzung der Tempi in der Einleitung zur Fuge: „un poco piu viviace“, dann ein einfaches „Allegro“, dann „accelerando“ zum „prestissimo“ – und die fuge in echtem „Allegro RISOLUTO“. In der äußerst flotten Fuge dann die Akzente, Dynamikveränderungen, die Farbgebung der Einzelstimmen. Nichts verschwimmt, nirgends eine Bewusstseins- oder Aufmerksamkeits-Trübung, sinnvolle erfüllte Gestaltung bis in den allerletzten Winkel des Riesenwerks. Und immer das Halten des Spannungsbogens bis zum letzten Ton, mal mit minimalen Tempo- oder Dynamikveränderungen. Die Kunst andauernd eine leichte Beschleunigung zu hören, die eigentlich gar nicht da ist … Es ist einfach UNGLAUBLICH!
Das sind Beethoven-Aufnahmen, bei denen die Vergabe von fünf Sternen eigentlich viel zu wenig ist …
DISC 10 ****
• Chopin/Rosenthal: Minute Waltz in Thirds
• Strauss/Godowski: Wine, Women and Song
• Mendelssohn/Rachmaninoff: Scherzo from "A Midsummer Night's Dream"
• Schubert/Liszt: Soirée de Vienne No. 6
• Strauss/Tausig: You Only Live Once ("Man lebt nur einmal")
• Kreisler/Rachmaninoff: Liebesleid
• Bizet/Rachmaninoff: Minuet from "L'Arlésienne Suite No. 1"
• Strauss/Rosenthal: Carnaval de Vienne
Es ist schon speziell, dass ein hochstrukturiert spielender Pianist wie Rosen gerade solch ein hypervirtuoses Programm spielt, das sonst gerne „Fingerer“ pflegen. Aber anderseits - zumindest heute ist das mittlerweile normal: Ein Hamelin tut das ja auch …
Rosen kann das auf jeden Fall, wenn auch Wahnwitz, Schmalz und Schmäh der Kompositionen vielleicht auch etwas mehr davon im Spiel erfordern. Rosen zeigt aber durchaus Sinn für diese Musik, eben auf seine etwas intellektuell distanzierte Art.
DISC 11 Chopin *** Liszt ****
• Chopin: Concerto No. 2 for Piano and Orchestra in F Minor, Op. 21
• Liszt: Concerto No. 1 for Piano and Orchestra in E-Flat Major
Das Chopinkonzert ist unaufgeregt, ohne Mätzchen und wohltuend „normal“, aber halt auch ohne das Besondere oder etwas romantisch Faszinierendes.
Das Lisztkonzert empfinde ich als glücklicher gelungen, vielleicht auch, weil die Orchesterbegleitung abwechslungsreicher ist und mehr Effekte ermöglicht. Hier trauen sich Dirigent und Pianist mehr Expressivität zu zeigen. Ich bin dankbar für die gute Aufführung, denn allzu viele wirklich „seriöse“ Einspielungen gibt es nicht von diesem Konzert gar nicht.
DISC 12 **** bis *****
• Debussy: Images, Book I
• Debussy: Images, Book II
• Debussy: Estampes
• Debussy: La Plus Que Lente - Valse
• Debussy: Hommage à Haydn
• Debussy: Berceuse Héroïque
• Debussy: L'isle Joyeuse
Bei der zweiten Debussy-Platte wagt sich Rosen an vielschichtigere Seiten des Komponisten als bei der ersten Einspielungen (Etudes). Wenn man auch hier das unromantische bzw. „un-impressionistische“ Spiel Rosens einfach akzeptiert, dann gewinnt man aus seinen Aufnahmen viel neue Eindrücke über diese Meisterwerke der Klavierliteratur 20ten Jahrhunderts. Möglicherweise mag dem einen oder anderen etwas fehlen, aber m.E. stört auch nichts bei dieser interessanten und aufschlussreichen Sichtweise von Debussys Musik. Ich persönlich schätze diese „Modernisierung“, die sich im Grunde sich nur genau an den Notentext hält, überaus!
DISC 13 *****
• Carter: Variations for Orchestra
• Carter: Double Concerto for Harpsichord and Piano with Two Chamber Orchestras
Nochmals Carters „Double concerto“, sieben Jahre nach Rosens erster Einspielung mit dem der breiten Öffentlichkeit ebenso kaum bekannten Dirigenten Prausnitz aufgenommen. Lässt sich die Entscheidung einer weiteren Einspielung übers Hören ergründen? Als erstes fällt gleich die farbigere und detailreichere Aufnahmetechnik und das virtuosere und sicherer aufspielende Orchester auf. Prausnitz war ein erfahrener Dirigent neuerer Musik, bei der EMI gibt es z.b. sehr gute Aufnahmen mit Schönberg und Busoni. Die neue Aufnahme von Carters Doppelkonzert von 1968 sticht die erste Einspielung von 1961 bei weitem aus.
Die „Variations for Orchestra“ mit Prausnitz und dem New Philharmonia Orchestra sind eine ausgezeichnete Aufnahme und somit eine willkommene Alternative zu den zwei Einspielungen mit dem CSO mit Levine und Boulez.
DISC 14-15 *****
• Bach: Ricercare a 6 voci from A Musical Offering, BWV 1079
• Bach: Ricercare a 3 voci from A Musical Offering, BWV 1079
• Bach: Die Kunst der Fuge, BWV 1080
Die Kombination Bach und Rosen - das weckt nach dem Hören von Beethoven, Bartok und anderen eine Menge Erwartungen. Charles Rosen ist Glenn Gould in seiner Fähigkeit der Wahrnehmung und der Umsetzung dessen ähnlich und durchaus ebenbürtig - und doch ist sein Interpretationsansatz und seine Klangvorstellung fundamental anders. Er ergründet auf dem Klavier Bachs kontrapunktische Meisterwerke ebenso mit einem glasklaren und virtuosen, aber dennoch nie kalten Spiel. Anders als Gould wahrt er auch immer die große Linie und vernachlässigt nie die Sinnlichen Aspekte der Musik. Der Contrapunctus II der „Kunst der Fuge“ ist übrigens seltsamerweise etwas höher im Pitch (Tonhöhe) als die anderen Contrapuncti – vielleicht wegen eine anderen zum Transfer verwendeten Quelle? Zwei großartige Platten!
DISC 16 **** bis *****
• Bach: Aria mit 30 Veränderungen, BWV 988 "Goldberg-Variationen"
Nochmals eine ausgezeichnete Bach-Platte! Hier verschmilzt das konsequente Spiel Rosens auf wunderbare Weise mit dem Werk.
DISC 17 ****
• Haydn: Piano Sonata No. 36 C minor Hob. XVI:20
• Haydn: Piano Sonata No. 31 A flat major, Hob. XVI, 46
• Haydn: Piano Sonata No. 18 in G minor Hob XVI: 44
Rosens freies und leichtes Spiel auf dieser Haydn Platte hat mich doch überrascht. Vielleicht liegt dieser Höreindruck auch an der angenehm räumlichen und etwas weniger direkten Aufnahmetechnik. Kleiner Nachteil dieser sehr modern klingenden Einspielung ist ein etwas abgedunkelter klang, der minimal etwas von den feinsten Details der Linien deckt.
DISC 18 ****
• Beethoven: Sonata No. 27 in E minor for Piano, Op. 90
• Beethoven: Sonata No. 29 in B-flat major, Op. 106 "Hammerklavier"
• Beethoven: Sonata No. 28 in A Major for Piano, Op. 101
Es überrascht zuerst einmal, dass Rosen nach der phänomenalen Einspielung von 1964 diese Sonate (ebenso wie die op. 110) im Jahr 1970 nochmals aufgenommen hat. Vielleicht ja in dem Rahmen, dass die sechs letzten Sonaten technisch möglichst einheitlich klingen. Vielleicht auch wegen Rosens Interpretationsansatzes, der mittlerweile noch apollinischer geworden ist. Der Klang ist noch feiner und ausgefeilter, das Spiel leichter und quirliger, aber ich vermisse das Zwingende und Unbedingte der ersten Einspielung. Dennoch ist nochmals eine erstaunliche Aufnahme gelungen, ebenso mit den anderen beiden Sonaten.
DISC 19 **** bis *****
• Beethoven: Sonata No. 30 in E major, Op. 109
• Beethoven: Sonata No. 31 in A-flat major, Op. 110
• Beethoven: Sonata No. 32 in C minor, Op. 111
Nochmal Beethoven - inklusive der alternativen Einspielung von op. 110 von 1970. Auch wenn sich bei den sechs letzten Sonaten das Einmalige der Aufnahmen von 1964 nicht wiederholt, so bin ich doch dankbar diese vier anderen Sonaten mit dem großartigen Pianisten hören zu können. Es sind ungemein stimmige und ausgefeilte Interpretationen, die keinerlei Vergleich zu scheuen brauchen. Besonders hervorstechend finde ich die gesangliche Qualität in den langsamen Sätzen. An lyrischer Qualität und „laissez-faire“ hat Rosen in den Jahren deutlich dazu gewonnen. Er lässt sich mehr Zeit zum Ein- und Ausschwingen der somit oft weicheren und manchmal zarten Klänge, was nachdenklichen Stücken, wie es eben streckenweise die letzten Beethoven Sonaten sind, gut ansteht. Der Aufnahmeklang dieser sechs Sonaten ist ausgezeichnet.
DISC 20 *****
• Boulez: Piano Sonata No. 1
• Boulez: Piano Sonata No. 3
Die zweite und dritte Sonaten von Boulez (die zweite Sonate gibt es mit Rosen auch auf CD) sind ganz die Domäne des intellektuellen und sehr in der neueren Musik versierten Pianisten. Wohl dem Komponisten, der solch einen Interpreten als Fürsprecher hat. Der Klang der Aufnahme ist hervorragend!
DISC 21 *****
• Webern: Fünf Lieder aus "Der siebente Ring", Op. 3
• Webern: Fünf Lieder, Op. 4
• Webern: Four Pieces for Violin and Piano, Op. 7 (1910)
• Webern: Three Pieces for Cello and Piano, Op. 11 (1914)
• Webern: Vier Lieder für Singstimme und Klavier, Op. 12
• Webern: Quartet for Clarinet, Tenor Saxophone, Violin and Piano, Op. 22
• Webern: Drei Gesänge aus "Viae inviae", Op. 23 von Hildegard Jone
• Webern: Drei Lieder für Singstimme und Klavier, Op. 25 nach Gedichten von Hildegard Jone
Wer Webern liebt und nicht die Einzelausgabe, sondern nur die große Sony CD-Box mit Boulez hat, der bekommt hier die wichtige Ergänzung der Gesamtaufnahme von Weberns Werk. Kammermusik mit Stern , Piatigorgsky, Harper und anderen als Partner von Charles Rosen. Eine nach wie vor wichtige Platte!
CD-REMASTERING UND PRÄSENTATION
Die CD-Remasterings sind wie fast immer die letzten Jahre bei Sony sehr gut. Die Aufnahmen haben wie schon geschrieben ein tendenziell trockenes Klangbild. Es gibt ein leichtes Bandhiss (also Rauschen) und bei den ersten Einspielungen ist das Alter der Produktionen nicht zu überhören. Das alles stört aber nicht wirklich.
Den Text von Jeremy Siepman habe ich schon erwähnt, die CDs sind wie bei allen Sony-Boxen in Zusammenstellungen der originalen LPs in Textheft nochmals abgebildet und mit allen wichtigen Aufnahmedaten verstehen.
Die CD-Box ist ausreichend stabil und optisch ansprechend aufgemacht.
Die Aufnahmen klingen übrigens wie zumeist eher frühe Stereo-Aufnahmen über Anlage besser und natürlicher im Panorama als über Kopfhörer.
FAZIT
Wer nachspürenswerte Querverweise von älterer und neuerer Musik mag, Bach, Beethoven und Musik des 20ten Jahrhunderts liebt und wer ein Klavierspiel bevorzugt, welches nicht nur das Ohr befriedigt, sondern auch die Struktur von Werken hervorhebt und das Reflektieren über Musik fördert - dem sei diese 21CD-Box wärmstens empfohlen!