TONDICHTUNG versus SYMPHONIE
Vorneweg: Wenn es (abgesehen von der vergriffenen großartigen Aufnahme mit Wyn Morris) ernsthafte Konkurrenz an Einspielungen des "Titan" von 1893 zu Hengelbrock gäbe, hätte diese Einspielung von mir „nur“ 4 Sterne erhalten. Viel Erfreuliches und Hoffnungsvolles stehen neben Unerfülltem und leider zu wenig textlich exakter Informationen angesichts der Erstaufnahme der „Neuen kritischen Gesamtausgabe“.
KEINE SINFONIE, SONDERN TONDICHTUNG
Wenn man die CD in den Händen hält, fällt als erstes gleich ein Ungereimt auf. Da steht geschrieben:
- Mahler Sinfonie No.1 "Titan" Version Hamburg 1893 -
Das stimmt so keineswegs. Das erste große rein sinfonische Werk Mahlers heißt in der Version von 1893 im Untertitel "Eine Tondichtung in Symphonieform". Es ist hier NICHT die erste Sinfonie eingespielt, auch wenn RÜCKWIRKEND gesehen das Notenmaterial zum großen Teil identisch ist. Viele Details und Konzeptionelles der Tondichtung hat Mahler in der „Weiterbildung“ zur ersten Sinfonie verändert: Instrumentierung, Besetzung, Artikulation, Dynamik, Tempi, Einfügen von Wiederholungen (was im Kopfsatz das Vorhandensein einer hauptsonatensatzmäßigen Exposition verdeutlichen sollte), einfügen neuer Nebenstimmen usw., aber auch das Streichen eine ganzen Satzes, was das Werk prinzipiell verändert.
VERGLEICHSEINSPIELUNGEN
Ich ziehe zum Schreiben dieser Rezension vier weitere Einspielungen der Fassung von 1893 heran, die ich hier im Wesentlichen kurz kommentieren möchte:
Wyn Morris / New Philharmonia Orchestra (ASIN: B00008ETZK)
Eine großartige Einspielung, der unbedingt eine ordentliche wertschätzende Wiederveröffentlichung zu wünschen wäre! In Sachen Feuer und Vision unerreicht!
Antony Hermus / Philharmonisches Orchester Hagen (ASIN: B007LLIAIU)
Eine Aufnahme mit ganz eigenem Reiz, natürlich in erster Linie eher wegen Hans Rotts „Suite für Orchester E-Dur“ ein Muss.
Szolt Hamar / Pannon Philharmonic Orchestra (da ist „1893 Weimar“ angegeben) (ASIN: B0009292FI)
Sehr trockenes klares Klangbild, ein hoffnungsvoller differenzierter Anfang, aber letztlich m.E. doch blass im Dirigat und Orchesterspiel (z.B. kreuzbraven Trompeten).
Jan Willem de Vriend / The Netherlands Symphony Orchestra (ASIN: B00303WQE2)
Sehr weit entferntes Klangbild, daher die Streicher teilweise etwas schwach. Eine Aufnahmen mit Meriten, auch durch das Orchesterspiel, aber auch mit
Die Einspielung mit Ruud habe ich aus klanglichen Gründen nicht berücksichtigt, Neuhold kenne ich nicht und Förster verwendet zumindest nicht die Fassung von 1893. Die „hybriden“ Einspielungen der 1. Sinfonie mit hinzugefügtem „Blumine“-Satz (Ormandy, Mehta, Norington u.a.) sind nicht berücksichtigt.
EIN PAAR UNTERSCHIEDE DER TONDICHTUNG UND DER SINFONIE
Ich spreche jetzt hier weiter im Text von TONDICHTUNG und SINFONIE, um die beiden Fassungen zu unterscheiden.
Es geht schon mit dem allerersten Ton los: Die Fassung von 1893 beginnt mit dem frühlingszarten morgendlichen „ewigen a“ noch nicht ausschließlich im Flageolett. Dann erscheint ein überzeugendes Blechbläser-Fernorchester (welches eine komplett neue zusätzliche Klangebene öffnet), das Hauptthema (das Lied „ging heut Morgen übers Feld“ ist darin verarbeitet) wird nicht wiederholt, was ich als die weitreichendste Abweichung von der Sinfonie finde: So fügt sich dieses Thema in den Reigen der Klangereignisse und Themen ein und wird nicht übermäßig betont, was in der Sinfonie für Mahler ungewöhnlich wie mit dem Zeigefinger wirkt und in der Sinfonie retardierend wirkt. In der Tondichtung hat der Satz einen ganz natürlichen erzählerischen Fluss.
Ansonsten gibt es in Mahlers Sinfonien nur im Kopfsatz der Sechsten eine Wiederholung der Exposition, was dort wesentlich besser passt, denn dort gibt es einen ganz klar gegliederten „klassischen“ Sonatenhauptsatz und die Sonatenform ist u.a. auch Gegenstand der Aussage des Werks.
Apropos retardierend: Als Grund der Eliminierung des zweiten Satzes „Blumine“ durch Mahler wird meist angegeben, dass der Komponist diesen Satz als „zu leichtgewichtig“ für die Sinfonie empfunden hätte. Das „Schwärmerische“ des Satzes mag ein Grund sein, aber wenn es für Mahler so klar gewesen wäre, dann hätte er sich nur EINMAL und nicht zweimal hin und her entscheiden zu brauchen. Denn auf der anderen Seite besteht ein starker Bezug dieses Satzes zum Gesangsthema des Finales. Dort erscheint in gereifter Form, quasi dem kindlichen Frühling entwachsen und durch Leid verwandelt ein Teil daraus.
Vielleicht ist die letztliche Streichung der „Blumine“ in der Sinfonie auch aus dramaturgischen Gründen erfolgt: Der erste Satz beginnt ja äußerst verhalten aus dem Nichts und endet (in der Tat dort schon „unter vollen Segeln“) mit einem stürmischen Ausbruch, der eine äußerst stimmige Fortführung der beschwingten Stimmung im „Ländler-Scherzo“ findet. Diesen Bogen bremst der „Blumine“-Satz tatsächlich komplett aus: Bei einer Tondichtung ins epische Format passend, bei einer Sinfonie doch eher störend. Die Entscheidung fiel Mahler bestimmt nicht leicht, auch weil durch die Eliminierung der „Blumine“ das Gegengewicht der ersten (1.2.3.Satz) zur zweiten (4.5.Satz) Abtheilung und somit die grundsätzliche Zweiteilung (Grundstimmung, Aussage) des Werks empfindlich gestört wurde.
Im Ländler-Scherzo gibt es noch keine Wiederholung der ersten 43 Takte wie in der Sinfonie.
Beim ersten Satz der zweiten Abtheilung („Todtenmarsch in Callots Manier“) sind die Abweichungen von der Sinfonie zur Tondichtung vielleicht am unscheinbarsten.
Das Finale „Dall'Inferno“ weist wieder mehr Unterscheide auf: Stimmverläufe, Nebenstimmen, Dynamik. Es gibt ein zwei Stellen, die in der Sinfonie geschickter und mit dichterer Textur gelöst wurden, aber ebenso umgekehrt übezeugende andere Lösungen. Die Schlusssteigerung ist etwas „heroischer“ als in der Sinfonie, in der mehr leerlaufende Hohlheit oder Hysterie zu spüren ist.
Insgesamt kann man über Mahler in mehrerer Hinsicht staunen. Die TONDICHTUNG hat an manchen Stellen noch etwas von der Welt der Kantate „Das klagende Lied“. So sind viele Besonderheiten des Werks, welche in der Sinfonie nicht ganz plausibel sind (eben z.B. woher das so sehr „erinnernde“ Gesangsthema stammt) nun völlig klar. Die Proportionen sind für eine mehrsätzige Tondichtung perfekt, die Gesamtaussage m.E. noch beeindruckender und überzeugender als in der Sinfonie. Die SINFONIE wiederum bietet noch mehr Raffinesse und ist „klassischer“ – eben tatsächlich in eine Sinfonie gewandelt. Die Souveränität des mittlerweile erworbenen Handwerkzeugs ist einmalig. Aber es ist auch unglaublich, wie sehr sich Mahler in seinen späten Jahren (die letzte Überarbeitung stammt von 1910 – ein Jahr vor dem Tod des Komponisten) bei den mehrmaligen Veränderungen in das jugendliche Werk hinein gefühlt hat.
Insgesamt möchte ich bei aller Liebe zur SINFONIE (so habe ich Mahler überhaupt kennen und lieben gelernt – als Decca Eclipse LP mit Kubelik und dem WPO von 1954) sagen, dass die TONDICHTUNG letztlich vielleicht noch einen Tick überzeugender und schlüssiger angelegt ist. Nun – ich möchte beide nicht missen …
DIE AUFNAHME - DIRIGAT UND ORCHESTER
Dirigat und Orchesterspiel scheinen gut zu harmonieren: Sehr sorgsam im Detail, alle Extreme meidend. Shcon im Kopfsatz kommt die Klanglichkeit des NDR S.O. gut zum Tragen: Farbig, durchsichtig, ein wenig spröde mit nicht allzu großen Möglichkeiten in der Dynamik. Das Orchester befolgt aber äußerst genau die wohl seriös erprobte Artikulation und Agogik. Was die Streicher und auch Bläser im Ländler-Scherzo da gemeinsam an Raffinesse und Schwung erzeugen macht Laune. Das Gesangsthema im Finale ist ungemein sprechend, fast schon wie eine orchestrale Arie. Da spüre ich das besondere Gespür des Dirigenten, der Musik als Klangrede sieht.
Überhaupt: die leichte Sprödigkeit, das Zügige und dennoch sehr Genaue der Einspielung passt absolut zusammen. Manchmal gibt es auch ganz glückhafte Ausbrüche, die fast spontan wirken *g*
Die Trompete in „Blumine“ spielt mit reichem Ton, aber sehr deutsch verhalten. Insgesamt hätte ich mir etwas mehr (Klang)Zauber (auch im Pianissimo) in diesem sehr vielseitigen Satz gewünscht. Doch Hengelbrock richtet (mit zügigem Tempo) das Hauptaugenmerk stark auf die Struktur und Thematik, was auch überzeugend gelingt. Wieder gibt es ein „Fragezeichen“ im letzten Takt: Gehört das sonst zu hörende Harfen-Arpeggio nun dorthin oder nicht? Bei Hengelbrock ist es nicht zu hören … Schade, dass die Partitur der neuen kritischen Ausgabe noch nicht zu kaufen ist.
Der dritte Satz der Tondichtung (in der Sinfonie der zweite) ist das Ländler-Scherzo. In der Aufnahme von mit de Vriend beginnen die Celli und Bässe MIT PAUKEN (was ich so noch nicht kannte), bei Hengelbrock ohne diese. Eine der Stellen, an denen im Text mal ein konkreter Hinweis angebracht gewesen wäre.
Erfreulich ist, dass die erste und zweite „Abtheilung“ durch eine kleine Pause getrennt ist. Immerhin liegen zwischen beiden gefühlt vergangene Jahre oder gar Jahrzehnte!
Der vierte (in der Sinfonie dritte) Satz – hier bezeichnet mit „Gestrandet! Todtenmarsch in Callots Manier“ ist in sehr zügigem, aber nicht verhetztem Tempo gehalten. Vielleicht ein wenig hanseatisch unterkühlt, aber dafür sehr deutlich und klar … Und diese Klarheit, welche die gesamte Aufnahme durchzieht, ist auch der große Vorteil der Einspielung!
Das Finale „Dall'Inferno“ lässt dann aber doch (wie auch bei den meisten neueren Einspielungen der Sinfonie) die letzte Entäußerung vermissen. Da wird bei Walter / NYP, Horenstein / LSO, Ancerl und einigen anderen Altmeistern schlicht um das Leben gespielt.
ABER: Endlich gibt es eine Aufnahme der Fassung von 1893 in der 1) neuen kritischen Ausgabe, bei der man wenn die Partitur erhältlich ist, 2) so gut wie alles klar mit verfolgen und hören kann. Nichts ist unpassend, unüberlegt, auch klanglich ist Mahler getroffen (das Wort „Mahler-Sound“ mag ich gar nicht), nur der letzte Funke fehlt mir persönlich im Finale. Aber den kann man ja – wenn die 1893ziger-Fassung mal ganz im Kopf ist - dann selbst hinzufügen.
VERWENDUNG DER NEUEN KRITISCHEN GESAMTAUSGABE
Schön, dass Hengelbrock die neue kritische Ausgabe des „Titan“ für seine Einspielung verwendet. Schade ist (da die Partitur ja noch nicht zum Verkauf angeboten ist), dass das Textheft so vage bleibt in den Besonderheiten. Ich denke, dass viele der Käufer dieser CD schon in die Materie eingetaucht sind und zumindest an den auffälligen Stellen, die von anderen Einspielungen der 1893er-Fassung (es gibt mindestens schon sieben!) abweichen, informiert sein möchten.
KLANG DER AUFNAHME
Der Klang der Aufnahme ist sehr ordentlich, nicht zu weit entfernt wie bei de Vriend oder dumpf undifferenziert wie bei Ole Kristian Ruud oder strohtrocken wie bei Szolt Hamar. Die Balance der Stimmen ist gut eingefangen. Nur wenig Nebenstimmen oder Klangereignisse sind unterbelichtet..
FAZIT
Für den an Mahlers Entwicklung Interessierten und den, der bei der Ersten schon immer das Phantastische und Epische geschätzt hat, unverzichtbar! Auch für den Glücklichen, der die Wyn Morris Einspielung sein eigen nennt, würde ich Hengelbrock zusätzlich empfehlen. Allein schon wegen des Klangs der Aufnahme und der so gewissenhaft umgesetzten Umsetzung der „Neuen kritischen Gesamtausgabe“.