Von pauschal bis sehr inspiriert – und eine neue Fassung!
Mit der 4-CD-Box mit der 4ten, 7ten und 9ten (mit aktuellster Version des „Carragan-Finale“), den Einzel-CDs Sinfonie Nr. 5 und Nr. 6, der Doppel-CD Sinfonie Nr. 8 und einer weiteren Einspielung der Finfonie Nr. 4 (mit dem sogenannten „Volksfest-Finale“) und der hier besprochenen 3-CD-Box der Sinfonien Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 liegt ein kompletter Zyklus der offiziell gezählten Sinfonien Bruckners vor – also ohne die „Annullierte“ und die „Studiensinfonie“. Dem Dirigenten steht mit dem temporären handverlesenen Münchner Orchester Namens „Philharmonie Festiva“ ein gutes Ensemble zur Verfügung - ebenso in der Abtei Ebersbach ein erstaunlich sehr geeigneter (hohe Transparenz trotz Kirche!) Raum, den Aufnahmetechnik des Labels Profil für ein optimales Klangergebnis genutzt hat.
Hier die verwendeten bemerkenswerten Fassungen, die bis jetzt selten eingespielt wurden. Im Falle der Dritten handelt es sich um eine Ersteinspielung. Schon allein die Verwendung dieser Fassungen macht die Box zu einer wichtigen Veröffentlichung:
Sinfonie Nr. 1 c-moll WAB 101 („Linzer“ Fassung, unüberarbeitet 1966, Einrichtung: W.Carragan 1998) (live Juli 2011)
Sinfonie Nr. 2 c-moll WAB 102 (Urfassung 1872, Ed.: W.Carragan) (live Juli 2011)
Sinfonie Nr. 3 d-moll WAB 103 (Fassung 1874, Ed.: W.Carragan <unveröffentlicht>) ( live Juli 2011)
Nun in kürze die Sinfonien im Einzelnen (versehen mit differenzierter Sternchen-„Einzelschätzung“.
DIE ERSTE *** (für die verwendete Fassung wie bei allen drei Sinfonien *****)
Über die Verwendung der „Linzer Fassung“ von 1866 ohne Zutaten aus den späteren Jahren bin ich sehr glücklich. Diese sollte heute wirklich jeder Dirigent, der diese Sinfonie als das ursprüngliche „kecke Beserl“ aufführen möchte, verwenden! Die hochinteressante „Wiener Fassung“ von 1890 verändert den offiziellen Sinfonien-Erstling (besonders auch geistig) stark und alle kleinen Veränderungen, die Bruckner nach der Entstehung 1866 vorgenommen hat (schon ab 1869) und die stillschweigend immer noch als „Linzer Fassung“ gelten, gehen schon tendenziell - wenn auch noch nicht instrumentatorisch, so aber doch harmonisch - schon in die ganz andere Welt der späten Fassung.
Gerd Schaller zeigt sich in der Ersten wie auch den anderen beiden Sinfonien als Dirigent eher gemäßigter bis sogar breiter Tempi, was auch an der (auf der Aufnahme kaum spürbaren oder gar störenden) Kirchenakustik liegen mag. Da diese aber nur dezent zu hören ist, wirken die Tempi m.E. etwas zu breit – eigentlich eher der späten Wiener Fassung angemessen. Im Scherzo ist der von Bruckner beabsichtigte Tempowandel schon für jedermann an den Hauptangaben ersichtlich: aus „schnell wird „lebhaft“, und im Trio wird aus „langsamer“ nur noch „langsam“. Auch im Notentext wird immer wieder z.B. aus einem „mit vollster Kraft. Verzögernd“ (Buchstabe C) nur ein „langsam“ (in der Wiener Fassung Buchstabe F) usw. Schallers Tempi tendieren per se zur Wiener Fassung, was angesichts der Verwendung der endlich gereinigten 1866-Fassung natürlich kontraproduktiv ist und das Besondere bzw. den „Sinn“ der Komposition wieder verschleiert. Schade …
Es sind aber nicht nur die Tempi als solches. Das wahrlich sprunghaft phantastische des Kopfsatzes, das zarte des Adagios, der Biss des Scherzos und das komplexe Finale in all seinen Herausforderungen an Schattierungen, Farben und besonders gegen Ende auch an Visionen kommt einfach zu wenig plastisch, zu undifferenziert, woran auch eine nicht sorgfältig genug abgestufte Dynamik maßgeblich mit beteiligt ist. Wie gesagt: vielleicht ist manches ein Ergebnis der Akustik, aber dieses Wissen ist nicht hilfreich, um das Stück deshalb nun „frischer“ zu erleben. Denn besonders das Lebendige und Frische fehlt dieser Aufnahme. Schade …
Trotz dieser Mankos hört man natürlich eine Unzahl von Kleinigkeiten und ein paar Auffälligkeiten, die diese Einspielung neben der leider noch breiter agierenden Aufnahme mit Tintner als wichtig erscheinen lassen. Die „jugendliche“ (naja – Bruckner war bereits 42 Jahre alt!) Erstfassung ist bei Venzago und Steinäcker mit mehr Akzenten, mehr Drang, mehr stürmischem Feuer, härteren Akzente, auch einer angemessen kleineren Besetzung und oftmals luftigeren Klänge besser getroffen. Schade, dass diese beiden Dirigenten nicht diese Carragan-Ausgabe für ihre Einspielungen verwendet haben.
DIE ZWEITE *****
Diese Zweite hier ist meiner Empfindung nach die interpretatorisch am besten gelungene Einspielung dieser Box und ebenfalls wichtig wegen der Verwendung der ersten Fassung in der Carragan-Ausgabe, die bis jetzt auch noch nicht allzu oft auf Tonträger festgehalten ist - nämlich lediglich von Tintner, Young und Blomstedt.
Auch in der Zweiten (wie in allen drei Sinfonien hier) hält sich Schaller im Umgang mit den Tempi nicht wirklich an Bruckners Angaben. Bei der Ersten wie der Zweiten favorisiert Bruckner in der Erstfassung zügigere bis schnelle, in der zweiten Fassung eher gemäßigte bis langsame Tempi. Hier sind die Änderungen der hier eingespielten Erstfassung von 1872 zur zweiten Fassung von 1977:
Kopfsatz: Aus „Allegro. Ziemlich schnell“ wird „Moderato“, also gemäßigt.
Scherzo (mit langsamen Satz vertauscht): Aus „schnell“ wird „mäßig schnell“.
Langsamer Satz (mit Scherzo vertauscht): Aus „Adagio. Feierlich, etwas bewegt“ wird „Andante. Feierlich etwas bewegt“
Nur das „Finale. Mehr schnell“ des Finales bleibt bestehen.
Das thematische Material und Konzept der Zweiten verträgt das breitere Zeitmaß allerdings deutlich besser als die Erstfassung der Ersten. So gesehen hat Schaller da „Glück“.
Im ersten Satz überwiegt das melancholisch lyrische Element, der zweite Satz (aus einem Guss) gerät ganz großartig zu einem meditativen Gebet und das Finale fasziniert durch die durch die Rekonstruktion der Urfassung neu erschlossenen Kompositionsteile, die teilweise verstörend modern klingen. Da hört man schon Hans Rott und Gustav Mahler …
Die Zweite (im Grunde Bruckners vierte Sinfonie!) ist ein weit unterschätztes Werk und liegt hier in einer absolut überzeugenden Einspielung vor. Das letzte Wort ist aber bezüglich der Tempi und somit der Gesamtaussage noch nicht gesprochen . . .
DIE DRITTE ****
Die Dritte in der Fassung von 1874 gibt es bis jetzt nur in dieser Einspielung zu hören. Diese unbekannte vierte Fassung ist niemals veröffentlicht worden, denn sie ist im Grunde eine Zwischenstation Bruckners und somit ein Konstrukt. Die Dritte war die erste der Sinfonien Bruckners, anhand der ein Musikliebhaber schon in den 60ziger Jahren im Konzert hören konnte, was das Wort „Fassung“ bei diesem Komponisten bedeutet. Von der Dritten gab es (bis jetzt) drei bekannte Fassungen plus ein in den 70zigern entdecktes Adagio.
DE VIERTE FASSUNG und ein absolut INNOVATIVES HÖREN
Jetzt also eine vierte Fassung, die ebenso wie das zusätzliche Adagio aus vorhandenem Notenmaterial rekonstruiert wurde. Der „normale“ Hörer, der die im Konzert gespielten Werke genau kennt, wird nun noch mehr verwirrt. Das wäre eine negative Formulierung. Man kann es aber auch ganz anders sehen:
Wer die verschiedenen Fassungen dieser Sinfonie immer wieder „durcheinander“ hört, bekommt beim „Fernhören“ (also ohne akustische Quelle) eine Unzahl von Wahlmöglichkeiten, an Schnittstellen anders „abzubiegen“. Die Erinnerungen im Kopf bekommen keine feste Struktur, sondern es entsteht dort so etwas wie ein spezielles „Kompositionsstadium“.
Denn die verschiedenen Fassungen variieren neben Taktzahlen und neuen Ideen bzw. anderer Verarbeitung der alten Einfälle in der Instrumentation, Struktur, Gegenstimmen, Phrasen, Perioden und die Gesamtaussage des Werks. Somit hat Bruckner - wohl unbeabsichtigt - dem Werk und dem Hörer die Möglichkeit gegeben, dass lange noch nach seinem Tod durch das changieren der Fassungen ein Prozess stattfindet, sich selbstständig zu entwickeln. Das hat es bis jetzt noch nicht gegeben und somit hat Bruckner etwas „erfunden“, das einzigartig und innovativer als viele Bestrebungen von ganzheitlich und großdimensioniert denkender moderner Komponisten ist.
Konkret sind die Abänderungen gegenüber der dritten Fassung von 1873 besondere im ersten, zweiten und vierten Satz zu hören – oft im Aufbau der Perioden und der Länge der Phrasen.
Die Interpretation ist solide, aufmerksam und schafft auch ein klares Profil der Themen und Blöcke. Mit persönlich fehlt es etwas an Atmosphäre, aber die herzustellen und innerlich logisch zusammenzufügen, ist in der Dritten anscheinend ganz besonders schwer. Hilfreich wären da vielleicht etwas flexiblere Tempi gewesen (so wie eigentlich gefordert) und eine noch konsequentere Abstufung der Dynamik.
Eine Stelle möchte ich ganz besonders hervorheben, weil es einfach sehr gut gelungen ist:
Der gleichzeitig mit einer Polka gespielte Choral im Seitenthema ist optimal herausgestellt, so gut konnte ich das noch nie hören. Norrington und andere meinen, dass sich diese Durchsichtigkeit an der Notwendigkeit, diesen Abschnitt wesentlich schneller zu spielen, festmachen würde - was hier Schaller aber überzeugend widerlegt!
FAZIT
Diese CD-Box ist den Kauf schon allein wegen der Verwendung der kritischen Ausgaben und der Fassungen wert. Interpretatorisch bewegen sich die Einspielungen auf hohem Niveau: in der Ersten nicht ganz werkimmanent, in der Zweiten absolut überzeugend.
Wer sich mit Bruckner ernsthaft beschäftigt und wen besonders die Frage der Fassungen bewegt, der sollte unbedingt zugreifen. Einer der von mir vergebenen vier Sterne ist eindeutig den verwendeten Fassungen geschuldet.