ehrliches Musizieren, großes Verständnis
Im Grunde war meine Besprechung nur als eine kleine Ergänzung zu der informativ und wohltuend klar und doch zugewandt geschriebenen Rezension von FIDELIO gedacht, dem ich in den meisten Punkten zustimme - auch im weiteren Sinne der Sicht aufs Ganze. Nun ist es och wieder etwas Größeres geworden … :-)
Wichtig ist mir als Musiker, Dirigent von Amateurorchestern und noch vorrangig dazu Liebhaber der Musik Bruckners vorneweg zu betonen, dass in dieser Gesamtaufnahme der Sinfonien Bruckner (ohne Studiensinfonie, aber mit „Nullter“) mit dem österreichisch-italienischen Dirigenten Roberto Paternostro hier jederzeit "ehrliches Musizieren" (ein Lieblingsausdruck Arturo Toscaninis) und die Liebe und das Verständnis für die Musik Bruckners zu spüren ist.
Nun ein paar der Sinfonien im Detail:
DIE ZWEITE
Was (neben einem kurzen Störton) am Anfang gleich auffällt, ist die schöne Akustik, in die sich die Musik und Aufnahme perfekt hineinbegibt. Man ist gleich von der lyrischen Anlage des Kopfsatzes gefangen. Das Seitenthema könnte vielleicht etwas deutlicher artikuliert und das dritte Thema etwas schärfer umrissen sein – aber das ist natürlich durchaus Ansichtsache. Das Andante entfaltet sich durchaus wie vorgeschrieben „feierlich, etwas bewegt“. Viele Dirigenten nehmen das deutlich breiter, was aber deshalb nicht per se „richtiger“ ist. Die innere Ruhe sehe ich bei diesem Satz als ganz entscheidend an – und das haben Paternostro und die Reutlinger ziemlich gut hinbekommen. Die gemeinen Solo-Horn Stellen sind gelungen, wenn auch von der Intonation nicht perfekt. Im Konzert ist das sicherlich so gut wie gar nicht aufgefallen, auf CD ist halt alles extrem peinlich genau (und immer wieder) zu hören. Ist aber marginal … Der Schluss ist leider (oder ist es in diesem Falle gut so?) mit Klarinetten-, nicht mit Horn-Solo. Das Scherzo ist relativ breit und ein wenig schwerfällig genommen, hat aber dennoch ausreichend tänzerischen Schwung. Ds Trio ist nicht wie vorgegeben „etwas langsamer“, sondern im Tempo des Scherzos gehalten. Anders wäre es wohl angesichts des breiten Scherzos auch wohl nicht möglich gewesen. Das Finale zeigt an manchen Stellen, wie tückisch schwer Bruckner schon da komponiert hat! Alles wird aber souverän gemeistert, auch wenn das manchmal ein wenig auf Kosten des letzten Quäntchens Phantasie und Freiheit. Viele Stellen sind aber ganz traumhaft gelungen, z.B. die weltentrückte Streicherstelle nach F ebenso wie die „Rückerinnerungen“ kurz von Ende der Sinfonie.
DIE DRITTE
Für mein Empfinden hat sich hier Paternostro im Kopfsatz tatsächlich etwas „verrechnet“, was das Grundtempo und die Binnentemporelationen anbetrifft. Es ist die einzige Sinfonie, die mir in diesen wesentlichen Punkten nicht schlüssig erscheint. Alles wirkt ein wenig zäh behäbig und zu gleichförmig. Allerdings muss man sagen, dass Bruckner in dieser dritten Fassung unlogische Tempoangaben gemacht hat: Zu Anfang heißt es „Mehr langsam. Misterioso“. Dann gibt es einen Takt vor B ein „ritenuto“ und bei B steht „Tempo I“. Hier nehmen die meisten Dirigenten ein neues, leicht beschleunigtes Tempo, obwohl es doch wohl eher „erstes Tempo, also Tempo des Anfangs“ bedeutet? Allerdings heißt es dann bei C „ursprüngliches Tempo“ … das ist schon verwirrend. Die Philharmonie Reutlingen macht auch an manchen Stellen verständlich, warum die Wiener Philharmoniker das Stück als „unspielbar“ abgelehnt hatten … :-)
Der zweite Satz kommt etwas zu direkt (auch zu laut – da fühle ich mich an Inbal erinnert) und wenig „lang gezogen“ (Spielanweisung) daher. Die Nähe zum Tristan könnte etwas spürbarer sein. Es fließt auch nicht so recht in den ersten Violinen (ab B, besonders 9 nach B wirkt recht steif). Natürlich ist das alles „Meckern auf sehr hohem Ausdrucksniveau“. Im Scherzo wird man gewahr, dass manche der wahrgenommenen Schwachpunkte an der direkteren Mikrophonpositionierung als bei anderen Sinfonien liegen könnte. Dadurch entsteht das Eckige. Das Trio ist ziemlich „un-ländlerisch“ genommen. Das Finale schlägt sich wacker, ohne den Gesamteindruck nochmal deutlich verändern zu können. Dazu sind manche Stellen etwas zu sehr buchstabiert (z.B. für die Streicher komponierte Echowirkungen).
DIE ACHTE
In der Tat ein Höhepunkt der Gesamteinspielung. Zur Klimax des ersten Satzes hin entsteht ein mächtiger Sog, auch klanglich visionär und atemberaubend bis zum Satzende. Das Scherzo hat unglaublichen Schwung und ist absolut kurzweilig. Wie oft ermüdet das Scherzo schnell nach dem ersten Satz – nicht so hier. Nach diesem zweiten Satz sind die Erwartungen des Hörers an das Folgende extrem gestiegen (zumindest erging es mir so). Das wunderbar ausgespielte Adagio kann diese noch voll erfüllen, auch wenn ich mir in diesem Riesensatz noch zwingender gewünscht hätte, dem Finale – so gut und überzeugend es auch gespielt ist – fehlt gegenüber dem Kopfsatz etwas die letzte Kraft. Insgesamt aber ein großartiges Zeugnis, dass es nicht der Berliner Philharmoniker oder des RSO Stuttgart bedarf, um die „Krone der Sinfonik“ (H. Wolf) in ihrer Fülle und Vision erlebbar zu machen. Das Konzerterlebnis war sicherlich phänomenal. Mir hier besonders unverständlich ist der wieder mal sehr verhaltene Schlussapplaus …
DIE ANNULLIERTE
Ohne Hetze und doch mit Drive beginnt der Kopfsatz. Eher kontemplativ breitet Paternostro das Seitenthema aus. Dadurch einsteht eine größere Spannung als bei Dirigenten, die dem Seitenthema weniger Zeit lassen. In der Coda achtet Paternostro wieder mal sehr auf die internen „Echowirkungen“ der Streicher, wo hohe Streicher und Celli nicht synchron komponiert sind. Viel Ruhe im zweiten Satz, alles darf sich entfalten. Dieser nicht ganz „zielgerichtete“ Satz gewinnt durch das Ausspielen der schönen Einfälle und Momente. Lediglich die heikle Choralstelle für zwei Hören und Fagott ist nicht ganz sauber. Das Scherzo schwingt tänzerisch und lässt trotzdem die ihm innewohnende Dramatik nicht vermissen. Das Innehalten des Trios ist gut gelungen, die Coda klingt durch die dumpfe Pauke etwas verwaschen. Die Einleitung des Finales habe ich schon schmerzlicher und sehnsüchtiger gehört, aber
TE DEUM
Hier muss ich „Fidelio“ doch widersprechen. Die Aufführung ist aufnahmetechnisch recht gut, ja sogar sehr geschickt eingefangen. Es ist immer zu bedenken, dass es sich um eine Live-Aufführung in einer Kirche handelt! Auch die Aufführung selbst ist beachtlich: die Leistung des Orchesters und mit ein paar kleinen Abstrichen auch des Chores. Das Solistenquartett singt sauberer wie auf manch berühmter Studioeinspielung – außer vielleicht die Eröffnung von „in te Domine speravi“, wo auch der Chor ein wenig schwächelt. Was ein Wunder bei der mörderischen Stimmführung Bruckners … Die Tenorpartie ist und bleibt einfach faszinierend – undankbar. So richtig was zum „festsingen“ … Zumindest ist hier alles da und man muss keine Angst haben, dass in der nächsthöheren Sequenz des „Salvum fac populum“ der Spitzenton nicht mehr kommt. Natürlich gefallen Klangfarbe und Sangesart des Tenors bestimmt nicht jedem …
Zwei drei Stellen habe ich im Verständnis des Stücks tatsächlich neu entdeckt. Für die Ektase des Schlussteils fehlen allerdings einfach die physischen Mittel des Chores und somit kann auch das Orchester nicht alles geben. Somit nimmt Paternostro klugerweise eine würdevoll gesetzte Schlussphrase …
AUFNAHME UND KIRCHENAKUSTIK
Sowohl vom Dirigenten wie auch der Tontechnik wurde optimal mit der Akustik der Basilika Weingarten umgegangen – ja, diese dient sogar zum Vorteil des Ganzen (musikalisch und klanglich), was in vergleichbaren Fällen eigentlich nie der Fall ist! Die Balance ist gut, man hört fast alle Details der zum Teil sehr komplexen Strukturen. Der Umgang Paternostros mit Pausen in der Akustik ist traumwandlerisch. Auch die Dynamikverhältnisse sind zum größten Teil bestens beachtet (was in solch einem Raum ja besonders schwierig ist).
Für diese Punkte 5 Sterne – da wurden Maßstäbe gesetzt!
Ach ja – den Applaus hätte ich eher weggelassen, auch wenn er natürlich das Liveerlebnis dokumentiert. Aber gegenüber den wunderbar engagierten Aufführungen wirken die Beifallsbekundungen – ja: eher lustlos … und hinterlassen unterbewusst die Botschaft „naja – so gut war's wohl doch nicht“.
IN RELATION GESETZT
Soll heißen: <Paternostro und die Philharmonie Reutlingen versus „die Großen“ Bekannten>.
Das schreibe ich ganz bewusst so provokant – denn es gibt ja auch „Kategorien“ bei der Hörerschaft:
1. Den "unbelasteten" mehr oder weniger "Zufallshörer" interessiert nicht, welches Orchester ein "klassisches" Musikstück spielt. Solange das Ohr nicht geschult ist, wird dieser Hörer auch nicht wissen, ob ihn etwas an der Musik selbst oder am Orchesterspiel, der Interpretation oder der Aufnahmetechnik stört. Er versucht einfach in der Musik etwas zu finden, das ihn anspricht.
2. Der ernsthaft Interessierte und "Lernwillige" hört und kauft oftmals mehr oder weniger nach bekannten Namen oder auf Empfehlung (meine Erfahrung aus Jahrzehnten Verkauf im Tonträger Klassik). Sein Bestreben ist im weitesten Sinne Verständnis der Musik. Vielleicht vergleicht er auch schon hie und da mal Interpretationen.
3. Der "Kenner" der Materie reagiert meist auf solch eine Einspielung wie diese hier ENTWEDER "wohlwollend" und vergibt quasi einen Bonus. Er lobt die Einspielung, die ja trotz der "Einschränkungen" gar nicht schlecht oder sogar erstaunlich gut ist. ODER er legt die CD gleich nach ein paar Takten Höreindruck beiseite, da er sich darin bestätigt fühlt, dass solche anspruchsvolle Musik nur die hochkarätigsten Ensembles spielen oder aufnehmen sollten.
Ich persönlich gebe etwas ganz anderes zu bedenken:
Das Musikstück wird (mit Hilfe der Probenarbeit, welche allerdings nur die Voraussetzungen schafft!) in der Aufführung zum Leben erweckt und zeigt in der Wahrhaftigkeit der Intentionen des Dirigenten und der Musiker EINE Möglichkeit seiner Lebendigkeit, bevor es nach dem letzten verklungenen Ton wieder zu auf Papier geschriebenen Strichen wird. Wie Vielfältig und farbig dieses Leben ist, wie stark und differenziert der Charakter dieser "Musikstück-Person" ist, hängt natürlich auch von den Möglichkeiten der Darstellung der Musiker und der wesentlichen Durchdringung des Stücks durch den Dirigenten ab. Aber die Möglichkeiten sind kein Garant für Wahrhaftigkeit und Vielfalt!
Das Erlebnis eines Live-Konzertes und auch das Hören auf CD macht sich auch stark daran fest, wie hoch die Bereitschaft des Hörenden ist innerlich MITZUGEHEN. Wenn man ganz im Werk und dem geschehen aufgeht, gibt es eine Zeit mehr und auch keine Gedanken – schon gar nicht an „Vergleiche“ oder Wertungen. Da ist der unbelastete Hörer u.U. näher am Geschehen als der Kenner.
FAZIT
Dieser Brucknerzyklus ist m.E. eindeutig auf der erfreulichen Seite der vielen Veröffentlichungen von Gesamtaufnahmen des sinfonischen Schaffens des Meisters. Es gibt keinerlei interpretatorischen „Unsinn“, es wird immer mit Liebe zum Detail, mit Verständnis und auf sehr hohem Niveau musiziert. Der Dirigent Paternostro weiß, was jedes Werk will und wie er es mit dem Orchester in der Kirchenakustik umsetzen kann. Die Musik atmet zumeist frei, zeigt die lyrischen und dramatischen Aspekte. Struktur und „emotionaler Sinn“ befinden sich nicht im Widerspruch. Vieles gelingt äußerst persönlich, auch Schwächeres (was es wohl in jeder Gesamteinspielung gibt) ist immer noch bemerkenswert gut.
Und:
ÄPFEL UND BIRNEN
Eigentlich wären vier Sterne zu vergeben – aber dann könnte man anhand dieser keine Relation z.B. zur Vierten mit Klemperer / Philharmonia Orch. oder Neunten mit Guilini / CSO herstellen. Wie sollte man sonst auch herausragende Einzelleistungen der Musiker in den Spitzen-Orchestern, die nochmal eine ganze zusätzliche Welt ausmachen können, würdigen? Die Sterne sind also eher für die gedacht, die hier nicht allzu viel lesen wollen …
Ein Livekonzert eines Baden-Württembergischen Orchesters abseits des RSO oder des SWF S.O. ist einfach etwas anderes wie eine Studioeinspielung mit einem Schallplattenorchester wie dem Philharmonia Orchestra. Den stärksten Eindruck machten die Sinfonien dieser CD-Box hier bestimmt vor Ort live in der Basilika von Weingarten. Die CDs sind aber ein Dokument ehrlichen wahren Musizierens – und DAS kommt durchaus auch auf den CDs rüber!
Die Aufmachung der CD-Box ist angesichts des lächerlichen Preises fast schon edel. Ein Textheft gibt es aber nicht, die einwandfrei gefertigten 11 CDs (die Achte ist als einzige Sinfonie auf zwei CDs verteilt) befinden sich in stabilen Papphüllen.