Erschütterndes Meisterwerk!
Diese Rezension bezieht sich auf die Bluray-Ausgabe, die DVD-Ausgabe ist meinen Ghibli-Erfahrungen nach aber fast gleich hochwertig (mit schönerem Titelbild).
Nun verlasse ich mal die Sphäre der Klassik-Rezensionen (eigentlich meine Domäne) und bespreche aus großer Bewunderung ein paar japanische Anime-Filme. Das wahrscheinliche Ende von Ghibli beförderte meine Entscheidung, Filme dieses Studios (es gibt dort nur Erstklassiges!), aber auch Filme von Kaze und anderen Studios zu besprechen. Ich behalte in meinen Film-Rezensionen meinen Stil einer Gestalt- und Seelen-Sicht aus den Klassik-Besprechungen bei, da mich das Innere Wesen eines Kunstwerks viel stärker interessiert als dessen äußere Form.
Über Musik lässt sich problemlos alles schreiben, da es keine Informationen zu 'verraten' gibt. Bei Filmen mit Handlung ist das natürlich anders. Meine Besprechungen sind keine Inhaltsangaben, aber sie thematisieren höchst subjektiv wichtige (scheinbar) kleine oder große Ereignisse und Entwicklungen des Films. Wer auf keinen Fall inhaltlich etwas über den Film erfahren möchte, sollte in meinen Filmrezensionen nur die letzten Abschnitte UMSETZUNG, EDITION und FAZIT lesen und den Abschnitt ZUM FILM meiden. Dort gehe ich auf Punkte ein, die nichts mit dem Filminhalt zu tun haben.
Im Teil ZUM FILM wende ich mich eindeutig an Leser, welche den Film schon kennen und sich über kontemplative Gedanken dazu freuen, welche über den üblichen Rahmen hinausgehen. WER DEN FILM NOCH NICHT KENNT, SOLLTE DIESEN ABSCHNITT DER REZENSION NICHT LESEN! Und zwar weniger wegen sogenannter "Spoiler" (verratenem Inhalt), sondern mehr weil ich durch meine sehr persönliche Sicht das Ersterleben des Films in der Wahrnehmung doch in eine bestimmte Richtung lenke - was ich nicht möchte. Diese hier entwickelten Gedanken sind nur als Anregung für einen persönlichen inneren Diskurs zu sehen, der natürlich auch gerne hier in Kommentaren usw. öffentlich geführt werden kann. Ich freue mich darüber und nehme gern Stellung dazu :-)
Übrigens biete ich keine INTERPRETATION des Films - das ist zum Glück bei solch guten Filmen mit vielen Schichten gar nicht möglich und will auch keinesfalls etwas von deren Mysterium, Zauber und Faszination nehmen. Meine Begeisterung für das Unwägbare und Unaussprechliche ist von den assoziativen Gedanken unberührt.
Hier als erstes der Film, der anscheinend (leider!!!) wohl das drittletzte der vom Studio Ghibli produzierten Meisterwerke ist und bleibt:
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ZUM FILM: "DIE LEGENDE DER PRINZESSIN KAGUYA" - EINE (MÖGLICHE) SEELISCHE DEUTUNG
'Kaguya-hime no Monogatari' ist ein äußerst vielschichtiger Film, der auf viele Arten erlebbar ist. Es gibt die erzählerische Ebene der Handlung, die Märchenebene mit all dem geheimnisvollen und nicht logisch Erklärbaren, die faszinierende darstellerische Ebene mit dieser neue Art animierter Zeichnung mit all den optischen Stimmungen, Bildern, Symbolen usw,, eine geschichtlich-japanische Ebene die uns Europäern Großteils fremd ist und natürlich auch eine seelisch-psychologische Ebene und eine gesellschaftskritische Ebene. Bei aller Wichtigkeit und Faszination aller Ebenen möchte ich mich in der sehr umfangreichen Rezension dennoch ausschließlich auf die beiden letztgenannten Ebenen beschränken. Die anderen Aspekte bieten Raum für Leichtes und Positives, was hier leider eher wegfällt.
Isao Takahatas 'Die Legende der Prinzessin Kaguya' ('Kaguya-hime no Monogatari') ist ein extrem verstörender Film - wie es auch auf ganz andere Weise sein 'Die letzten Glühwürmchen' (die genaue Übersetzung 'Grab der Leuchtkäfer' ist viel passender und genauer). Es ist wie oft bei Ghibli und anderen japanischen Animes ein Film über das Erwachsenwerden (hier des Scheiterns daran) und die Erziehung, bei der im Fall Kaguya die Stiefmutter schwach ist (da sie sich trotz besserer Ahnung immer ihrem Mann fügt - ein Aspekt hier thematisierter rigider Konvention) und der Stiefvater "nur das Beste" für Kaguya will (und dabei nicht wahrnimmt, dass er in erster Linie seine eigenen Wünsche nach gesellschaftlichem Aufstieg auslebt, seine eigene konventionelle Vorstellung vom Glück seiner Tochter aus seiner eigenen Warte pflegt und keineswegs auf die realen Bedürfnisse seiner Stieftochter hört) und die daraus entstehenden fatalen seelischen Folgen für Kaguya: Denn es liegt nahe, den Weg Kaguyas zur emotionslosen "Mondgesellschaft" als unausweichliche endgültige innere Abspaltung der jungen Frau zu sehen, was sich ja schon bei der Freier-Szene (in dem erschreckenden "Schwarzweiß-Rasen" und Wüten in groben Strichen mit schockierender Musik) und der späteren (nur zu ahnenden) Vergewaltigungsszene durch den Kaiser angedeutet hat. Die tatsächlich gezeigte Zurückhaltung und Noblesse des Kaisers kann ich nur als eine rein innere Wahrnehmung der Prinzessin sehen, die die Realität schon nicht mehr wahrnehmen und integrieren kann, weil sie zu schrecklich ist. Das erste schockartig plötzliche Erscheinen des Kaisers und die panische Reaktion Kaguyas zeigen wohl den Anfang dessen, was dann wirklich passiert - so meine subjektive Empfindung ...
Der Film hat mehrere Schichten und birgt für den Betrachter einiges an Lesarten. Mein Ansatz, den ich jetzt noch weiter ausführe, ist da nur EINE Möglichkeit, sich von dem Meisterwerk gefangen nehmen zu lassen. Ich habe z.B. gar nicht die mythologischen Aspekte berührt, die Symbole in Bildern, die gescheiterte Liebesbeziehung Kaguyas oder deren eigenes Handeln. Im Grunde beschränke ich mich auf drei Punkte, die sich alle in folgender Reihenfolge in grausamer Konsequenz auseinander entwickeln:
Rigide Umsetzung von Konvention, übergriffiger verschiedenster Missbrauch und seelische Abspaltung
Man kann der Legende der Prinzessin Kaguya auch jegliches Geheimnisvolle nehmen, was die Geschichte allerdings noch deprimierender und schmerzlicher macht:
Die (nun also nicht Stief)Eltern zeugen ein Kind, welches wie fast alle Kinder mit allen (himmlischen) Gaben (Gold = menschliche Talente, Kleider = die persönliche Schutzaura) geboren wird. Die ersten Jahre wächst das Kind in der Verbindung mit seiner Umgebung (Natur, Menschen) glücklich auf, während der Vater schon ihre Talente für "bessere Zwecke" planend (denn ihr glückliches im Hier und Jetzt sein be-achtet er nicht) missbraucht.
Aber nach ein paar Jahren des Kinderglücks hat der Vater den konventionellen Rahmen seiner eigenen Vorstellungen geschaffen und die Tochter muss widerspruchslos gehorchen und sich fügen. Alle gewachsenen Bindungen reißen durch den sozialen Aufstieg (und Umzug) der Familie (auf Kosten der Tochter, deren Talente der Vater missbraucht) ab, ihre sie schützende Aura wird pervertiert (Auslegung von gesunder Individualität und Selbstbestimmtheit als Männer herausfordernde Unbeugsamkeit, die es zu brechen gilt), was der Tochter ihre Unbeschwertheit und einen Großteil ihrer Lebensfreude nimmt.
Noch ist sie aber ungebrochen und rebelliert immer wieder wie jedes starke Kind gegen Zwänge von außen (die maskenhafte Erzieherin als personifizierte starre Konvention). Auch als sie - wieder der nächsten Konvention folgend - gegen ihren Willen standesgemäß heiraten soll, weiß sie sich durch ihren starken Willen und ihre Intelligenz zu wehren. Aber die Folgen ihrer Abwehr, das Scheitern bzw. der Tod der Bewerber, die letztlich an deren selbst gesteckten Ansprüchen scheitern, empfindet Kaguya als ihre Schuld, mit der sie wieder von den Eltern alleine gelassen wird. Somit schwindet weitere Lebensfreude mit einem großen Schritt in die Depression. Das 'Werben' des Kaisers (wohl eine Vergewaltigung, wenn diese auch nicht gezeigt wird und im seelischen Ausblenden gar nicht passiert) kann sie dann nur noch durch vollkommene innere seelische Abspaltung ertragen.
Egal ob am Mond oder auf der Erde -' die junge Frau Kaguya (in irdisch lebendiger Natur geboren) hat am Beginn der Blüte ihres Lebens völlig den Bezug zu sich selbst verloren und ist "endlich" (im doppelten Sinne) in der starren Gesellschaft angekommen. Es ist ein starkes Bild, diese tote gefühllose Gesellschaft dem Mond zuzuschreiben - unendlich fern und kalt. Das letzte Aufbäumen ihres gesunden Anteils (Lebensenergie), der einfach leben und lieben möchte, ist zu schwach geworden und verlischt ...
Ein hoffnungsloser und erschütternder Schluss des Films, der keinen Funken Hoffnung birgt und vielleicht gerade deshalb so niederschmetternd und aufrüttelnd zugleich wirkt.
Takahatas Film, der die geheimnisvolle ursprüngliche Geschichte (anscheinend ca. um 900 aufgezeichnet, Chinesische Einflüsse, gibt es zudem verschiedenen Varianten gibt) im besten Sinne 'missbraucht' und traumhaft sicher psychologisch erweitert bzw. abwandelt, geißelt alle starren, rigiden Arten von Konvention (von denen es besonders in Japan viel gibt), welche unweigerlich heranwachsende Menschen seelisch verkrüppeln, wenn sie sich nicht wehren können (welches Kind kann sich schon seiner Eltern erwehren?) und sich irgendwann in die 'Mondgesellschaft' fügen.
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KÜNSTERISCHE UND TECHNISCHE UMSETZUNG
Hervorragend künstlerisch und liebevoll gezeichnet, wobei ein ganz neuen Zeichenstil zum Tragen kommt, der trotz oberflächlich betrachtet ähnlicher Sparsamkeit nochmal ganz anders als bei "Die Yamadas" ist und traditionelle japanische Sichtweisen und Techniken mit einbezieht. Dabei bleibt es aber nicht, weil kreativ und passend stilistische Abweichungen eingebaut werden, die somit passend zum Inhalt des Films auch in der Form rein tradionell Schematisch-Starres ablehnen. Alles ist ganz einmalig umgesetzt!
Dazu ein ausgezeichneter Ton mit einer äußerst abwechslungsreichen Musik unterschiedlicher Besetzung, der wie in vielen Ghibli Filmen genial als Ausdrucksmittel eilgesetzt wird (z.B. ganz bewusste Dynamikunterschiede und Höhepunkte).
Sehr gute deutsche Untertitelung.
Da ich den Film noch nicht in deutscher Synchronisierung gesehen habe, kann ich leider zur deutschen Tonspur nichts sagen (werde es wohl ergänzen). Ich empfehle aber jedem sich bei asiatischen Filmen in ein OmU einzufügen (hat man sich nach kürzester Zeit dran gewöhnt), da der Sprachfluss im Deutschen länger ist und somit öfters Kompromisse (Kürzungen) bei der Übersetzung gemacht werden müssen oder hektisch schnell gesprochen wird. Zudem ist der Klang der Sprache auch eine Aussage und die Sprecher sind bei Ghibli hervorragend gewählt - wie bei diesem Studio ja auch sonst kein noch so kleines Detail vernachlässigt wurde.
EDITION UND EXTRAS
Mir gefällt sehr die einheitlich schlichte einfarbige Hüllengestaltung, in der noch dieses Jahr (2016) alle Ghibli-Filme als Bluray erhältlich sein werden. Die letzten zwei ausstehenden Filme "Die Yamadas" kommen im Mai ("Die Yamadas") und im Sommer oder Herbst ("Flüstern des Meeres"). Allerdings ist im Fall Kaguya auch die DVD wunderschön gestaltet - EIN Bild das schon den ganzen Film in sich trägt ... Hervorragende Bluray-Umsetzung, ich kann keinerlei technische Mängel feststellen.
Ich kaufe einen Film nicht WEGEN der Extras und bin deshalb auch bei sparsamer Ausstattung nicht wirklich enttäuscht, aber freue mich über solche Boni. Die Pressekonferenz mag wenig, langweilig und japanisch förmlich nichtssagend erscheinen - ist sie aber m.E. keineswegs (wie übrigens häufig Pressekonferenzen und Interviews zu Ghibli oder anderen japanischen Anime-Filmen)! Wenn man nichts erwartet und ganz ruhig sich in die sprechenden Personen einfühlt, dann spürt man stark die Begeisterung und das Lebendige, dass Japaner halt in eine nach außen hin gezügelte Form bringen. Ich schätze immer mehr diese Art der Form - z.B. zuerst vor einem Interview oder Aussagen für alle Raum zu geben, ein persönliches Dankeswort zu sagen. DAS ist in der westlichen Kultur kaum möglich, es sei denn man verquickt diesen Dank mit der Antwort auf eine Frage. So wird es meist gehandhabt und wirkt meist gehetzt und unpassend, weil einfach zwei Dinge zusammengepackt sind und ein Dank somit nicht angemessen wertschätzend sich entfalten kann. Man mag das für ein nichtiges Detail halten, aber als Betrachter von Anime-Filmen lernt man doch über das Beseelte (denn das heißt ja das Wort!) und die Wertschätzung aller kleinen Dinge, die ja schließlich alle liebevoll und zeitaufwendig gezeichnet werden!
Ach ja - konkret: Interessant ist doch die Rezeption des Films in Japan, die bei der Vorstellung noch nicht abzuschätzen war. "Die Legende der Prinzessin Kaguya" ist in seiner schwächeren Akzeptanz durch die Japaner (hat nur die Hälfte der benötigten Einkünfte gebracht) vielleicht der Film, der letztlich zu der Entscheidung geführt hat, das Ghibli-Studio (zumindest in seiner jetzigen Form) wegen Unrentabilität zu schließen. Jammerschade angesichts des großartigen Kunstwerks und der aufrüttelnden Botschaft - aber vielleicht eben auch gerade WEGEN letzterer. So hart sind nur wenige Filme je mit der Gesellschaft ins Gericht gegangen. Im Westen geht so etwas leichter, da hier die Identifikation mit Staat und Gesellschaft nicht so sehr verankert ist. Jeder Japaner kennt den originalen Stoff zu 'Kaguya-hime no Monogatari' und sieht sofort, dass dieser von Isao Takahata in erster Linie (und verfremdet) benutzt wurde, um Kritisches über Generationenverständnis, Erziehung und generell starre Konvention zu sagen.
FAZIT
Ein absolut wichtiger und tief berührender Film, über dessen Vielschichtigkeit und Appell an die Menschlichkeit man sich lange im Gespräch austauschen und eigener Lebenserfahrung nachspüren kann. Dieses Japan ist überall und wohl zu allen Zeiten zu finden ... Für mich gehört dieses Meisterwerk in den Olymp der Filme . . .