Ein opulentes Meisterwerk des Fin de Siècle
Pünktlich zum 100. Todestag der 1885 in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie geborenen kroatischen Komponistin Dora Pejacevic am 5. März 2023 liegen nun drei respektable Einspielungen der Sinfonie in fis-moll vor, die als das Hauptwerk der Künstlerin gilt. Die laut kroatischem Musikinformationszentrum erst 2009 (!) veröffentlichte Sinfonie wurde bereits 2011 von Ari Rasilainen und der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz für cpo eingespielt. Nun liegen Einspielungen mit Andris Nelsons und dem Gewandhausorchester Leipzig (vom 3. Februar 2023) vor (im Internet abrufbar) sowie mit Sakari Oramo und dem BBC Symphony Orchestra.
Das Werk entstand während des Ersten Weltkriegs von Anfang 1916 bis zum 25. August 1917. Zwei Sätze wurden am 25. Januar 1918 im Großen Musikvereinssaal in Wien vom (bis 1933 bestehenden) Wiener Tonkünstler-Orchester unter der Leitung von Oskar Nedbal uraufgeführt. Danach wurde das Werk überarbeitet und 1920 fertiggestellt. Im gleichen Jahr folgte die Uraufführung der vollständigen Sinfonie in Dresden. Damit das Publikum nicht voreingenommen war, war der Vorname Dora im Programm nicht ausgeschrieben, sondern durch "D." abgekürzt. Umso erstaunter war das Publikum, als eine Frau den Applaus entgegennahm. Arthur Nikisch, damals Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, zugleich Gewandhauskapellmeister in Leipzig, plante ebenfalls eine Aufführung des Werks in Leipzig. Er verstarb jedoch am 23. Januar 1922, noch bevor er sein Vorhaben umsetzen konnte. Dadurch blieb der Sinfonie und ihrer Schöpferin ein entscheidendes Momentum verwehrt.
Die viersätzige Sinfonie folgt formal der klassich-romantischen Tradition. Stilistisch ist es vor allem im ersten Satz beim Einsatz der Blechbläser durch Bruckner beeinflusst. Bisweilen fühlte ich mich auch an die Kompositionsweise von Franck und Chausson erinnert und sicherlich hat auch die Richard Strauss'sche Sinfonik die Komponistin beeinflusst. Es würde dem Werk meines Erarchtens aber nicht gerecht, musikalische Vorbilder heraushören zu wollen. Es ist ein eigenständiges Opus mit eigenem Charakter! Es enthält eine fülle einprägsamer Motive, eine dissonanzliebende Harmonik und eine beeindruckend farbenreiche Orchestrierung. Klangbild und Stimmungen erinnern an andere große Komponisten des Fin de Siècle, etwa Zemlinsky, Schreker, Joseph Marx, Franz Schmitt oder den frühen Korngold (Sinfonietta op. 5). Ich würde das Werk daher dem "musikalischen Jugendstil" zuordnen, den es nach meinem Geschmack überaus bereichert.
Die hier vorliegende Einspielung zieht im Vergleich zu Rasilainen und Nelsons zügigere Tempi vor. Die Spieldauer beträgt 42 Minuten, die Konkurrenz benötig etwa 48. Wenngleich ich das Werk in allen drei Einspielungen überaus genossen habe, scheint mir die schnellere Tempowahl Vorzüge zu haben. Das liegt vor allem im ersten Satz an der phasenweise recht sparsamen Motivik. Hier wird viel um das die Duchführung beherrschende Hauptthema herum gestaltet, mitunter ergeben sich auch einige Brüche (die beim wiederholten Hören aber Vergnügen bereiten). Ob die Komponistin eine Sonatensatzform nur "imitiert" und dabei "Dilletantismus offenbart", wie es in einer Kundenrezension von jpc zu lesen ist, vermag ich nicht beurteilen zu können. Das muss ein Musikwissenschaftler beurteilen. Für mich ist entscheidender, dass das Werk durchgehend zu fesseln vermag und trotz der eher langen Spieldauer keine unnötigen Längen hat. Wenn ein Rezensent der Financial Times laut ORF dem Werk das Prädikat "masterwork" abspricht, kann ich das jedenfalls nicht teilen. Nach der britischen Erstaufführung im November 2021 habe er (der Rezensent der Times) "ein regelrechtes romantisches Spektakel" erlebt, "ohrenbetäubend, melodiös und extravagant, als wären Dvorák und Richard Strauss einander im Kriegsgebiet begegnet und hätten versucht, einander mit verschwenderischen musikalischen Gesten zu übertrumpfen. Wenn ein Hollywood-Filmmogul auf der Suche nach einem pompösen, romantischen Soundtrack ist, hier kann er fündig werden." Ich musste darüber schmunzeln, denn: Genau das gefällt mir an dem Stück ja so gut. Wobei mir nicht klar ist, warum ausgerechnet Dvorak herhalten musste (kniep). Positiver klingt da schon der Eindruck von Sakari Oramo, der das Werk gegenüber dem ORF freundlicher umschreibt: Beim ersten Mal Hören wirke das Werk sehr melodisch, sehr emotional, wie typische Musik der Hoch- und Spätromantik. Dann gebe es Passagen, die nach vorne blickten: Die Harmonik erwecke den Eindruck, sie sei ziellos, aber plötzlich finde sie ihren Weg, das sei durchdacht. Pejacevic möchte in ihrem Opus magnum Alltägliches und Tragisches transzendieren, so der Dirigent.
Vor diesem Hintergrund mag der geneigte Leser (jedweden Geschlechts) auch verstehen, warum die cpo-Einspielung recht polarisierende Bewertungen bekommen hat. Ich kann das Werk nur uneingeschränkt empfehlen und dem geneigten Leser einen großen Hörgenuss wünschen.