Blomstedts Vermächtnis
Wilhelm Stenhammar ist (neben Franz Berwald und Kurt Atterberg) der größte schwedische Sinfoniker und der inzwischen 91jährige Herbert Blomstedt der größte schwedische Dirigent aller Zeiten. Blomstedt musste aber fast 87 Jahre alt werden, um Stenhammers sinfonisches Hauptwerk, die zwischen 1911 und 1915 entstandene 2. Sinfonie, endlich öffentlich aufzuführen. In einem Interview mit dem bayerischen Rundfunk erklärte der Maestro, dass er deswegen ein schlechtes Gewissen habe und mit 87 Jahren dachte: jetzt oder nie - jetzt muss es passieren. Und wer das Werk wiederholt hört, der wird mir hoffentlich zustimmen: Diese Einspielung ist eine Art Vermächtnis des großen Dirigenten.
Stenhammar wollte eine nüchterne, ehrliche Musik schreiben. Frei von der orchestralen Überladung der deutschen Spätromantik eines Richard Strauss und ohne die Klangschwelgerei des musikalischen Jugendstils à la Franz Schreker. Zurück zu Bach und Beethoven war die Devise. Wer die 2. Sinfonie hört, bemerkt das sofort. Das Orchester verzichtet auf üppiges Schlagzeug, Triangeln oder Becken. Selbst Harfen sind nicht vorgesehen. Und die Harmonik ist weitaus weniger kühn als bei Mahler oder Strauss. Stattdessen schließt Stenhammers Werk im 4. Satz mit einer großangelgeten Doppelfuge. Und die Harmonik ist nicht von Chromatik, sondern von den Kirchentonarten geprägt (Ganztonschritte, im Prinzip eine Art C-Dur pder a-moll Tonleiter). Das schafft eine spezifische "nordische" Klangwelt, die für Stenhammars zweite Schaffensperiode (zu der auch die hier eingespielte Serenade zählt) charakteristisch ist.
Die Musik Stenhammars ist kein Selbstläufer. Ich musste mir die Musik nach und nach erschließen. Mehrfach habe ich mir die 2. Sinfonie angehört, ohne dass der Funke auf mich übersprang. Da schienen mir die Sinfonien von Stenhammars schwedischem Landsmann Kurt Atterberg packender und interessanter. Dann stieß ich im Internet auf eine Einspielung der Serenade mit Herbert Blomstedt. Ich sah mir das Musikvideo an, war begeistert und startete einen zweiten Versuch, mich mit Stenhammars sinfonischem Hauptwerk (der 2. Sinfonie) anzufreunden. Und erneut war es eine Videoaufzeichnung mit Blomstedt, die mir zum Durchbruch verhalf. Diese Live-Einspielung vom 20. Dezember 2013 mit den Göteborger Sinfonikern ist auch zugleich Blomstedts erste öffentliche Aufführung des Werkes. Insofern hat diese CD einen besonderen diskografischen Wert.
Blomstedts nüchterne, aber gleichwohl fesselnde Art der Interpretation ist einfach großartig. Das Klangbild ist sehr ausgewogen und natürlich. Interessant ist der Vergleich mit einer älteren Live-Einspielung der Göteborger Sinfoniker unter Neeme Järvi vom 16. September 1983, die ebenfalls bei BIS veröffentlicht wurde (und inzwischen günstig in einer Stenhammer-CD-Box bei Brilliant Classics zu haben ist). Einen Unterschied spürt der Hörer vor allem im ersten Satz. Hier geht Järvi das Werk entschlossener an (Spieldauer 11 Minuten, Blomstedt braucht gut 2 Minuten mehr), ohne dabei Details zu opfern. Beide Interpretationen haben ihren Reiz, Blomstedt wirkt etwas distinguierter, etwas nüchterner, Järvi etwas pathetischer, zielstrebiger. Die drei übrigen Sätze sind ähnlich interpretiert. Der als Variationssatz gestaltete zweite Satz unterscheidet sich tempomäßig kaum, gewinnt aber bei Järvi eine größere Intensität. Blomstedt nimmt die Partitur auch hier eine Spur entspannter, gelassener. Die wiederholten Tutti-Ausbrüche klingen zurückhaltender als bei Järvi (bei dem nach dem zweiten Satz noch einmal kurz nachgestimmt wird). Das ländlerartige Scherzo gelingt beiden Dirigenten gleichermaßen gut. Hier stellt sich die Aufmerksamkeit des Hörers automatisch ein. Die Doppelfuge am Ende überzeugt ebenfalls in beiden Einspielungen.Am Ende löst sich die Spannung regelrecht auf und es stellt sich eine überaus feierliche Stimmung ein.
Im Gesamturteil kann ich beide Einspielungen uneingeschränkt empfehlen. Klanglich fällt die ältere der beiden BIS-Aufnahmen ein wenig hinter der neueren zurück. Dafür ist sie günstiger und enthält auch die 1. Sinfonie sowie die hörenswerten Klavierkonzerte Stenhammars. Für den Erwerb der Blomstedt-Einspielung spricht - neben dem diskografischen Wert - die Kopplung mit der zauberhaften, in Italien komponierten Serenade op. 31. Sie versprüht eine wunderbare Leichtigkeit und gilt in Schweden als Stenhammars populärstes Orchesterwerk. Am besten entscheidet man sich für beide Einspielungen. Es lohnt sich, Stenhammar zu entdecken, auch wenn man sich die 2. Sinfonie nach und nach erschließen muss.