spezielles Programm und natürliches Musizieren
Vorneweg: Die Bewertung hätte auch mit drei Sternen ausfallen können. Es handelt sich ja um eine Box mit 67 CDs und meines Erachtens ist „nur“ ein Drittel, jedenfalls weniger als die Hälfte weit überdurchschnittlich oder herausragend. In Worten könnte das heißen:
„Eine sehr gute Box, aber kein unbedingtes Muss. 10 bis 15 der CDs sollte man allerdings unbedingt kennen. Diese gibt es aber (bis auf eine) auch als Einzelausgaben“
Übrigens musste ich die Rezension kürzen: Die nichtbesprochenen CDs bewerte ich durchweg ** oder *** Sternen.
Portraits von Musikersolisten und Dirigenten in umfangreichen Boxen sind eine große Mode der Klassik-Labels geworden. Meist liegt dabei die Präferenz der Stückeauswahl (bzw. was die Damen und Herren halt eingespielt haben) auf einem klassisch-romantischen Repertoire. Bei den gesamten Columbia-Aufnahmen von Boulez (allesamt Studio-Produktionen) fehlt das fast alles bis zur frühen Moderne – abgesehen von Händel(!), Beethoven, Wagner und Mahler (letztere beiden - oder alle? - als Wegbereiter): ein französischer Schwerpunkt (Berlioz Debussy Ravel Dukas Messiaen Boulez), die „Zweite Wiener Schule“ (Schönberg Berg Webern) und einzelne Komponisten de 20ten Jahrhunderts (de Falla Skrjabin Strawinsky Bartok Carter Berio). Also neunzehn Komponisten, die zum großen Teil noch in Bezug zueinander stehen:
Diese Box ist eine beeindruckende Dokumentation des konsequenten Wegs des Dirigenten Boulez von 1966 bis 1989. Somit sind diese 67 CDs mit Sicherheit nicht etwas für jedermann. Wer aber tiefere Einsicht in Zusammenhänge und Entwicklung der Musik vom 19ten ins 20zigste Jahrhundert, in „neuere“ (nun - es sind im Grunde ja allesamt auch schon wieder Klassiker!) französische und russische Musik gewinnen möchte, der erhält mit der Boulez-Box wohl das Hochkarätigste, das als Kompilation wohl möglich ist.
Und an die Verehrer des Dirigenten: Ich bin kein absoluter Boulez-Spezialist, aber von dem was ich kenne (und das ist manches) übertreffen die Doubletten die Ersteinspielungen nur selten. Aufnahmetechnisch klingt bei DG und Erato manches anders, aber nicht umwerfend besser. Und dabei ist Columbia nicht immer die Sache optimal gelungen. Offen gestanden ist mir in einigen Aufnahmen das Orchester - auch wenn es natürlich klingen mag – zu „weit weg“.
DISC 1-2: ****
Berg: Wozzeck, Op. 7 From the drama by George Buchner (Gesamtaufnahme)
Walter Berry ist als Wozzeck ganz außerordentlich und sehr berührend. Auch Isabel Strauss als Marie kann überzeugen, trotz kleiner Probleme mit Spitzentönen. Das Originalband ist etwas übersteuert – jedenfalls sind leichte Verzerrungen in manchen Forte zu hören. Das Klangbild ist trocken und somit sehr detailreich, aber auch etwas flach mir eher wenig Dynamik. Aufnahme mit der Opera National de Paris.
DISC 6:***
Berlioz: Lelio, ou Le Retour a la vie, Op. 14b
Ebenso wie bei der Symphonie fantastique ist mir vieles zu „brav“, wobei es natürlich angesichts der Unbekanntheit nicht so sehr ohrenfällig ist. Das Stück ist für nicht frankophile Hörer vielleicht doch etwas zu abseitig im Thema und in der Konstruktion. Das was an musikaisch faszinierendem in dem Stück steckt, findet sich ja auch in Fausts Verdammnis oder Romeo et Juliette.
DISC 8:*****
Berg: Chamber Concerto for Violin, Piano & 13 Wind Instruments
Berg: Three Pieces for Orchestra, Op. 6
Berg: Altenberg Lieder, Op. 4
Die Altenberg-Lieder waren in dieser tollen Aufnahme mit Halina Lukomska meines Wissens auf CD noch nicht veröffentlicht. Deren hypernervös „kranke“ Art, die Lieder zu Interpretieren, ist nicht „schön“, passt aber genau. Beide frühen Versionen ziehe ich den späteren vor. Die drei Orchesterstücke op.6 und das Kammerkonzert klangen auf CD auch noch nicht so gut wie in dieser neuen Überspielung. Alle Einspielungen sind mit dem BBC S.O.
DISC 10:****
Stravinsky: Le sacre du printemps (1947 version)
Eine berühmte Einspielung. Unaufgeregtes Dirigat zum Nutzen größter Klarheit und Kraftentfaltung des Cleveland Orchestra. Diesmal auch eine ausgezeichnete Aufnahmetechnik (1969). Ideal in der Balance von Durchsichtigkeit, Detailfreudigkeit und dennoch homogenen Orchesterklangs. Viele heutige Aufnahmen können dagegen einpacken …
DISC 11:***
Mahler: Das klagende Lied
Die erste Einspielung von Mahlers genialem Frühwerk (mit 20 Jahren geschrieben) mit dem ersten Satz “Waldmärchen”. Wie die meisten nachfolgenden Aufnahmen ein „Bastard“, da für den zweiten und dritten Teil die überarbeitete Fassung und nicht die Erstfassung (als der erste Teil noch dazugehörte) verwendet wurde. Da ich das „klagende Lied“ in dieser Einspielung kennengelernt habe, fällt mir Kritik nicht leicht. Dennoch meine ich, dass bezüglich der Erstfassung Nagano und besonders van Zweden (und in der gemischten Fassung Rhoshdestwensky und Tilson Thomas) der Boulez-Aufnahme längst der Rang abgelaufen haben. Die etwas dumpfe CBS-Aufnahme wirkt trotz manch inspirierter Momente und schönen Stimmungen etwas statisch und unfrisch. Dennoch ist die Aufnahme eine hörenswerte Alternative. Es spielt das LSO.
DISC 12:
Beethoven: Symphony No. 5 in C Minor, Op. 67 **
Beethoven: Cantata - "Calm Sea and Prosperous Voyage", Op. 112 **
Mahler: Symphony No. 10 – Adagio ****
Der Kopfsatz der Fünften ist geradezu kurios breit im Tempo. Wenns nicht so sauber zusammen wäre, hätte ich bei den ersten Tönen auf einen späten Klemperer getippt. Auch beim Scherzo im Schicksalsmotiv und im Finale. Irgendwie muss ich da an Glenn Goulds Mozart denken: Kann es sein, dass ein Musiker eine Aufnahme macht um schwache Seiten aufzuzeigen? Tickten die Uhren von Klemperers New Philharmonia Orchestra anders? Oder war dieser doch einfach solide und eher brave Beethoven mit viel dickem Klang einfach Boulez damalige Sicht?
„Meeresstille und glückliche Überfahrt“ ist da interessanter, natürlich auch, weil es so wenig Einspielungen gibt. Ein freudig gelöst tänzerisches Gefühl stellt sich im zweiten Teil aber auch nicht ein…
Der Adagio Kopfsatz aus der Zehnten Mahler war original natürlich mit „Das klagende Lied“ gekoppelt. Hier zeigt Boulez sich von einer sehr intensiven Seite. Die Doppel-LP mit quasi dem ersten und letzten Werk Mahlers fand ich eine sehr spannende Idee.
DISC 13-15:***
Debussy: Pelléas Et Mélisande Drame lyrique en 5 actes (Album Version)
Eine berühmte Einspielung – und wie manch andere von Boulez durchaus auch umstritten. Aber es ist hier wie anderorts eine Frage der Zielsetzung. Wer den großen Gefühlsausbruch rein auf der Herzensebene in Interpretationen sucht, wird bei dem Franzosen mit der ausgewogenen Mischung aus Geist, Intellekt und Sinnlichkeit kaum je irgendwo fündig werden. Feuer, Intensität, Klarheit, Härte, Kraft, Expressivität – ja … aber bei „Pelleas et Mélisande“ eine grundabgründig trüb-verhangene Melancholie – nein. So erklärt sich auch die Wahl der Sänger (für die Boulez in seinem Sinne bestimmt eine glückliche Hand hat) und die eher „kühle“ Aufnahmetechnik (bestimmt auch im Sinne des Dirigenten). Orchester des Royal Opera House, Covent Garden.
DISC 19:***
Stravinsky: Pétrouchka: Scenes burlesques en quatre tableaux (1911 version)
Mit dem NYP. Gut gespielt, klangschön, exakt, gute Soli, auch gut aufgenommen. Aber da fehlt mir doch das Bildhafte, Plakative, das Groteske, der Witz – und somit auch das anrührende der Geschichte. Wie so manches in der Box für mein Empfinden zu herzlos … Aber bei Boulez ist das vielleicht auch meist kalkulierte Absicht.
DISC 20:*****
Bartók: The Miraculous Mandarin, Op. 19
Bartók: Dance Suite (Sz 77)
Eine der besten Aufnahmen mit Boulez: mal wieder Feuer im Orchester. Neben den Gesamteinspielungen von “Der wunderbare Mandarin” mit Dorati und Ormandy hat sie nur Konkurrenz in seiner neueren Aufnahme mit dem CSO. Letztere ist aber trotz des ausgezeichneten CSO m.E. nicht so packend wie die mit dem NYP.
DISC 21:**
Ravel: Concerto in G Major for Piano and Orchestra (Ormandy / Philadelphia Orch.)
Ravel: Piano Concerto for the Left Hand in D Major
Diese CD hat zwei Dirigenten, denn im dreisätzigen G-Dur Konzert leitet Eugene Ormandy das Philadelphia Orchestra. Eine gute Aufführung in orchestraler Hinsicht, wunderbare Soli. Der Pianist Philippe Entremont mit eher hartem und hellem Ton steuert nicht allzuviel bei, das mich berührt. Boulez leitet im Konzert für die linke Hand das Cleveland Orchestra. Mit dieser Interpretation kann ich wenig anfangen, auch vom Solisten phasenweise ein Buchstabieren (womit ich nicht das Tempo meine). Vielleicht habe ich auch das Stück nicht verstanden …
DISC 22:***
Berlioz: Benvenuto Cellini (Excerpt)
Berlioz: Les Troyens (Excerpt)
Berlioz: Beatrice et Benedict (Excerpts)
Berlioz: Le Carnaval Romain, Op. 9 - Overture caractéristique - Concert Overture
Auch wenn es Alternativen gibt, die deutlich mehr Thrill haben (Beatrice: Munch Davis - Orage aus Troyens: Munch - Benvenuto Carnaval: Munch, Bernstein) eine gute Platte mit dem NYP. Schade, dass die Columbia selten aufnahmetechnisch auf der Höhe der ein paar Jahre früher entstandenen RCA-Aufnahmen war.
DISC 24:
Ravel: Une Barque sur L'Océan ***
Ravel: Valses Nobles et Sentimentales **
Ravel: Le Tombeau de Couperin **
“Une Barque” bewegt sich auf einem ziemlich lautstarken „Ocean“. Die Valses lassen trotz schöner Stellen (dank der Solisten) meist das Feine vermissen, der Anfang ist einfach zu grob. Der Oboist der NYP Harold Gomberg spielt in „Le Tombeau“ sicherlich wunderbar, aber leider ist er nicht genügend prominent von den Columbia-Technikern in Szene gesetzt worden. Auch das Dirigat von Boulez ist dabei wenig hilfreich – begleiten scheint hier nicht so sehr seine Sache zu sein…
DISC 25:***
Boulez: le marteau sans maître
Boulez: Livre pour Cordes
Es ist für mich eine interessante Erfahrung, dass mir das kammermusikalisch postserielle “Le marteau sans maitre” mehr sagt als das orchestrale “Livre pour Cordes”. In den neun Sätzen von „le marteau“ ist eine innere Verbindung, ein Zusammenhang spürbar, auch wenn man nicht analytisch hört. Erfreulicherweise eine Aufnahme ohne viel Raumklang, sehr intim gehalten.
DISC 26:** (für Tristan gute *** Sterne)
Wagner: Vorspiel zum 1. Akt Die Meistersinger von Nürnberg
Wagner: Tannhäuser Overtüre
Wagner: Faust Overtüre
Wagner: Vorspiel zum 1. Akt und Isoldes Liebestod Tristan und Isolde
Eine angesichts der erdrückenden Konkurrenz eine eher überflüssige Einspielung – vom Tristan-Vorspiel mal abgesehen... Was bleibt sonst hängen? Im Tannhäuser ein genial intensives Streichertremolo in den letzten Akkorden - und die Lust der New Yorker, Wagner zu spielen.
DISC 27:*****
Bartók: Concerto for Orchestra
Ein sehr gut dirigiertes, gespieltes und aufgenommenes Orchesterkonzert, ganz nah am Besonderen der Aufführungen von Reiner und Bernstein… Das was Boulez hier zusätzlich hörbar macht (zumeist in den Mittel- oder Nebenstimmen) ist manchmal bereichernd, hie und da aber nur ein Nachverfolgen einer Linie, der diese Bedeutung vielleicht nicht zugedacht war. Bestechend wie noch der letzte Rest des Fugatos im letzten Satz ausgeleuchtet ist. Interessant finde ich auch, dass Boulez große Zusammenhänge manchmal „anders“ hört / empfindet als meine beiden absoluten Favoriten. In dem exzeptionell guten Orchesterspiel (unglaubliche Streicher, habe ich selten so sauber und diszipliniert bei NYP gehört!) und seiner Klarheit aber durchaus im Kreis der allerbesten Einspielungen.
DISC 28:***
Ravel: La Valse
Ravel: Menuet Antique
Ravel: Ma Mère L'oye
Ravel: Boléro
Dieser „La Valse“ lässt es ruhig, ja gemütlich angehen. Das letztlich Katastrophale des Musik zeigt sich bei Boulez höchstens in der Lautstärke des NYP, aber nicht wie bei Munch, Reiner (live mit dem CSO – unglaublich!) und wenigen anderen in grellen Farben, der Bewegung und dem unaufhaltsamen Sog.
Schon erstaunlich, dass der Franzose Boulez Ravel (gerade in seinen weniger bekannten Stücken „Une barque sur l´océan“ und hier im „Menuet Antique“) manchmal regelrecht „schreien“ lässt. Ist aber auch gut und heilsam zu hören, dass „Tradition“ eben nicht alles ist. Hätte ich mir bei Boulez auch denken können. Manchmal wünsche ich mir halt, dass meine Seele beim Hören mehr lächeln würde.
Vom vollständigen „Ma Mere l´Oye“ gibt es wenig Einspielungen – für mich ganz vorne an die von Monteux mit dem LSO. Stellenweile kann auch Boulez zaubern und der Klang der NYP ist grundverschieden zu dem des LSO. Insofern ist die diese Einspielung eine Bereicherung der Höreinsichten. Monteux erreicht eine große Geschlossenheit des zauberhaften Werks und leichte tänzerische Abschnitte. Da kommt Boulez nicht ganz mit. Der Boléro kommt ganz ohne „Tricks“ aus, die sowieso zumeist das Stück dann nicht tragen oder durchgehalten werden (Accelerando, rhythmische Extravaganzen, Drücker usw.). Beeindruckend die Konzentration und Kondition der NYP. Ein sehr gutes Orchesterspiel der NYP, nicht ganz so zwingend wie beim Orchesterkonzert Bartóks.
DISC 29-30:***
Schönberg: Gurre-Lieder
Von der Interpretationsanlage eine gelungene Mischung aus Romantik und Moderne, dem seltsamen Konstrukt (was keineswegs abwertend gemeint ist!) Schönbergs sehr adäquat. Eine intensive und dennoch etwas kühle und kluge Disposition. Dazu passt gut das eher helle klare Timbre von Jess Thomas als Waldemar und auch Marita Napier als Tove. Beide singen im Bewusstsein „Teil des Ganzen“ zu sein. Die Aufnahme ist technisch gut gelungen - quasi mit Boulez Ohr gehört. Details werden nicht effekthascherisch herangeholt, was zumeist auf Kosten des Überblicks geht. Wie viele der Columbia-Aufnahmen mit Boulez wird akustisch eisern eine mittlere Entfernung eingehalten. Dafür kann man dankbar sein, denn Boulez hört immer und überall die Entwicklung der Musik, die Thematik, die musikalische Bedeutung der Harmonik.
Wer das zweistündige Werk zuallererst als Erlösungsdrama, als Ausdruck reinster (erweiterter) Romantik liebt (was durchaus bezwingend überzeugend möglich ist bzw. war – siehe die zwei Aufführungen Stokowskis von 1932!), dem wird Boulez wohl etwas zu distanziert bleiben. Aufnahme mit dem BBC S.O.
DISC 31:****
Handel: Water Music: Suite No.1 in F Major for Orchestra, HWV 348
Es ist schon erstaunlich, diese Wassermusik mit Boulez zuhören. Erstens natürlich wegen des Repertoires und zweitens wegen der Aufführungspraxis aus vergangenen Zeiten. Auch Willem van Otterloo und Eduard van Beinum (um nur zwei Einspielungen mit dem Concertgebouw zu nennen) hatten in ihren Einspielungen den 50ziger Jahre diesen Ansatz (es gab ja im Grunde auch noch keinen anderen), aber um wie viel scharfkantiger und schlanker.
Boulez lässt die NYP voll und ganz ausspielen – und ich bin ihm dankbar dafür! Es ist kein romantischer Händel, aber durch und durch natürlich, schlicht, warm, voller Phantasie der Solisten. Kein Tempo wird gehetzt, kein Rhythmus absichtlich geschärft, keine modernes (oder historisches) Profil aufgesetzt. Harold Gomberg (Oboe), John Corigliano (Horn), der Flötist (John Wummer?) – alle dürfen sich in ihren Soli frei entfalten.
Es ist eine Wassermusik mit großem Klang und Emphase geworden. Wie wenn Boulez es genossen hätte einmal ganz einfach musizieren zu können. Ich sehe diese Platte als ein Dokument Boulez von einer Seite, die ausnahmslos in all seinen Einspielungen zu finden ist: Tue als Dirigent nicht wider die Musik, packe keine eigenen Dinge hinein, lasse die Musik von selbst sprechen. Und da bei Händel kein kühler Kopf gefragt ist, keine verzwickte Verästelung mit Motiven und Ebenen der Vielstimmigkeit usw. vorhanden ist, kann sich dieses Credo auf schöne und natürliche Weise entfalten. Auf jeden Fall eine der besten Platten der Wassermusik in dieser Art des Musizierens!
DISC 32:****
Stravinksy: The Firebird
Stravinsky: The Song of the Nightingale
Eine der lebendigsten Boulez-Aufnahmen. Das Lied der Nachtigall sei den Menschen mit schwächerem Herz oder Nerven empfohlen, die bei Reiner sonst gefährdet sein könnten *g*. Die „Diva NYP“ (ähnlich den WPO je nach Dirigent und Stimmung in sehr unterschiedlicher Form) konnte ausgezeichnet spielen. Bei Boulez ist das erfreulich oft der Fall!
DISC 33:****
Ravel: Daphnis et Chloé
Eine der interessantesten Gesamteinspielungen des (vielleicht nicht nur umfangmäßig) größten Werks Ravels. Den beiden Munch Aufnahmen und Monteux an Charme, Raffinesse und französischer Farbigkeit (was man sich darunter halt so aus der Tradition vorstellt) unterlegen, dafür aber sehr modern, feurig und virtuos im Orchester. Hier erscheint Daphnis et Cloé zeitweise als französisches Gegenstück zu den Balletten Strawinskys. Orchester und Chor sind ordentlich aufgenommen. Aufnahme mit der NYP.
DISC 34:****
Berio: Nones
Berio: Allelujah II
Berio: Concerto for Two Pianos
Boulez einziger “Ausflug” zur RCA. Berio ist als Original-Komponist nicht mein Fall (aber durchaus als Ver- und Bearbeiter!). Dennoch kann ich sagen, dass die Aufführungen mit dem LSO und dem BBC S.O. stimmig, intensiv und hervorragend gespielt und zudem gut aufgenommen sind.
DISC 35-36:****
Schoenberg: Moses und Aaron
Für mich eine Ergänzungsalternative zu der grandiosen glühenden und spirituellen Einspielung mit Herbert Kegel. Bei Boulez klingen viele Farben anders – wegen des anderen Orchesters und Boulez Bestrebung, alles klar hörbar zu machen. Kegel dunkelt bewusst manche Stimmen ab, um eine Linie zu betonen. Natürlich bietet diese Oper (eigentlich kein passendes Wort) auch für die Protagonisten viele Möglichkeiten der Gestaltung. Beide Einspielungen überzeugen völlig. Bei Boulez spricht Günter Reich (Moses) und singt Richard Cassilly (Aaron). Das BBC S.O. spielt wieder mal vorzüglich für den umsichtigen Dirigenten.
DISC 37:****
Falla: El sombrero de tres picos
Falla: Concerto for Harpsichord, Flute, Oboe, Clarinet, Violin and Cello
Wieder eine Platte mit eher selten eingespielten Stücken. Besonders das sehr kammermusikalische Cembalokonzert wird kaum gespielt. Die Musiker um Igor Kipnis (Cembalo) zeigen das Stück in seiner ganzen spröden Schönheit. Die Mezzosopranistin Jan DeGaetani hat im Dreispitz nicht viel zu tun, dafür die Bläsersolisten der NYP umso mehr. Eine stimmige Aufnahme, die durchaus den Witz des Stückes Zeit. Wohl die beste US-Einspielung des gesamten Balletts.
DISC 38:***
Bartók: Bluebeard's Castle, Op. 11 (Sz 48)
Leider kein optimaler Digital-Transfer. Hier wurde zuviel Wert darauf gelegt, das Grundrauschen der Aufnahme ganz zu entfernen. Dadurch entstehen in ganz leisen Passagen sogar leichte digitale Artefakte. Die Aufnahme selbst ist sehr gut. Siegmund Nimsgern als Blaubart und Tatiana Troyanos als Judith überzeugen, das BBC S.O. spielt hervorragend. Die Aufnahme hat einigen Raumklang, was man als Gestaltungsmittel klaustrophobischer Stimmung sehen kann. Eine sehr gute Interpretation, die aber doch manche Konkurrenz hat: Süsskind, Kertesz, Solti, Dorati … für mein Empfinden mit mehr innerer Spannung.
DISC 39:***
Dukas: La Péri
Roussel: Symphony No. 3 in G minor, Op. 42
Zwei große Werke, die selten eingespielt wurden. Von den offiziellen Aufnahmen der Dritten von Roussel mit amerikanischen Orchestern ist die mit Bernstein (1961) wohl die am meisten packende. Ebenfalls mit NYP lässt es Boulez wieder auf seine Weise etwas „cooler“ angehen. Auch wenn die Musik das „verträgt“, so reißt die Bernstein-Einspielung einfach mehr mit und die Musik gewinnt bei ihm an Farbe und Ausdruck. Allerdings stellt ein Livemittschnitt von 1967 mit Charles Munch und dem CSO Boulez und Bernstein weit in den Schatten (10 CDs: CSO CD00-10).
Von Dukas „la Peri“ gibt es noch weniger Aufnahmen (einige von der kurzen Einleitungsfanfare). Ganz vorne sehe ich Ansermet mit einer wahrlich hymnischen Fanfare und einem sehr stimmungsvollen Ballett. Boulez ist mit der NYP aber wohl in puncto Orchesterfarben und Wohlklang die Referenzeinspielung gelungen.
DISC 40:*****
Bartók: The Wooden Prince, Op. 13 (Sz 60)
Wieder eine kochkarätige Einspielung mit der NYP. Eine wunderbare Alternative zu Dorati und zu Boulez Aufnahme mit dem CSO, die ich allerdings trotz „DG-Klang“ auch nicht missen möchte.
DISC 41:*****
Varese: Amériques
Varese: Ionisation
Varese: Arcana
Zu Recht ein “Klassiker“ mit der NYP. Interessant ist ein Vergleich mit Boulez neuerer Einspielung bei der DG mit dem CSO. Und Arcana natürlich in der unglaublichen Einspielung mit Martinon und dem CSO.
DISC 42:** (für die zwei erwähnten Nuits Lieder gute *** Sterne)
Berlioz: Les Nuits d'été, Op. 7
Berlioz: La Mort de Cléopâtre
Etwas Pech für Boulez, dass es „Les Nuit d´été“ in so viel zauberhaften Einspielungen gibt: Los Angeles mit Munch, Steeber mit Mitropoulos, Price mit Reiner, Danco mit Johnson, Crespin mit Ansermet und die Einspielung von „La Mort de Cléopâtre“ von Tourel mit Bernstein. Dankenswert ist, dass Boulez bei den „Nuits“ die Erstfassung für Tenor und Mezzosopran verwendet. Das wirft ein ganz ungewohntes Licht auf den Zyklus: mehr kommunikativ als monologisierend. BBC S.O. Die Einspielung ist in „Le Spectre de la rose“ und „Sur les lagunes“ (beide mit Yvonne Minton) herausragend, der Rest ist (besonders die Nummern mit Stuart Burrows) nicht so berührend bzw. schwächer. Leider ist auch die Intonation von Minton nicht immer makellos.
„La Mort de Cléopâtre“ ist mit Bernstein und Tourel einfach wesentlich passender. Da bleibt Boulez und auch Minton trotz expressiver und voller Stimme zu blass.
DISC 44:***
Schoenberg: Pierrot Lunaire, Op. 21
Eine Aufführung, die mehr auf Linie und den großen Zusammenhang als das Detail aus ist – der Eindruck ist ein wenig pauschal (mag auch mit an der Aufnahme mit viel Raumklang liegen). Yvonne Minton singt, wo Helga Pilarczyk (mit Boulez) und besonders Jeanne Héricard (mit Rosbaud – wundervoll bizarre Traum- und Nachtstimmungen) agieren mit der Stimme. Beides ist möglich: bei ersterem wird die Musik und Struktur betont, bei zweiterem der Inhalt und Kern des Stücks. Für mich (der ich wahrlich kein Fanatiker der Reihe bin) ist die Héricard/Rosbaud Aufnahme tatsächlich etwas für die Insel.
DISC 45:***
Wagner: Das Liebesmahl der Apostel
Wagner: Sigfried Idyll
Sicherlich singen die Männer des Westminster Choirs sehr gut. Aber das allein genügt für das Chorwerk des dreißigjährigen Wagner nicht. Eine gut deutsche Aussprache (unterschiede von e und ä) gehört ebenso dazu wie die Annäherung an die „Tannhäuser-Religiosität“. Wenn das Stück nicht innerlich glaubhaft vorgetragen wird, dann ist es überflüssig und wirkt peinlich. Bei Boulez herrscht der punktierte Rhythmus vor, der das sicherlich nicht allzu meisterliche Glaubensstück (ok, der sehr späte Orchestereinsatz hat etwas) anfangs stellenweise eher zu einem Marsch mutieren lässt. Nach wie vor ist die absolute Referenz die Aufnahme mit Wyn Morris (gekoppelt mit einer grandiosen Aufführung des späten Meisterwerks – musikalisch versteht sich – von Bruckners Helgoland). „Das Liebesmahl der Apostel“ nimmt bei Morris 20% mehr Zeit in Anspruch als bei Boulez.
Die Originalfassung des „Siegfried Idyll“ mit der NYP ist m.E. besser gelungen. Schön, dass Boulez diese Fassung gewählt hat. Es ist eine Freude den großartigen Musikern mal ganz kammermusikalisch zuhören zu können.
DISC 46-47:*****
Webern: Passacaglia for Orchestra, Op. 1
Webern: Entflieht auf leichten Kähnen, Op. 2
Webern: Six Pieces for Orchestra, Op. 6
Webern: Zwei Lieder für mittlere Stimme und acht Instrumente, Op. 8
Webern: Five Pieces for Orchestra, Op. 10
Webern: Vier Lieder für Sopran und Orchester, Op. 13
Webern: Sechs Lieder für Singstimme und vier Instrumente, Op. 14 nach Gedichten von Georg Trakl
Webern: Fünf geistliche Lieder für Sopran und fünf Instrumente, Op. 15
Webern: Fünf Canons nach lateinischen Texten für Sopran, Klarinette und Baßklarinette, Op. 16
Webern: Drei Volkstexte für Singstimme und drei Instrumente, Op. 17
Webern: Drei Lieder für Singstimme, Es-Klarinette und Gitarre, Op. 18
Webern: Zwei Lieder für gemischten Chor und fünf Instrumente, Op. 19
Webern: Symphony for Chamber Orchestra, Op. 21
Webern: Quartet for Clarinet, Tenor Saxophone, Violin and Piano, Op. 22
Webern: Concerto for Flute, Oboe, Clarinet, Horn, Trumpet,Trombone, Violin, Viola and Piano, Op. 24
Webern: Das Augenlicht für gemischten Chor und Orchester, Op. 26, Worte von Hildegard Jone
Webern: Cantata No. 1, Op. 29
Webern: Variations for Orchestra, Op. 30 (1940)
Webern: Cantata No. 2, Op. 31
Webern: Fünf Sätze für Streichquartett, Op. 5
Webern: Fuga No. 2 (Ricercata) a 6 voci from Musikalisches Opfer, BWV 1079, No. 5
Zu Recht ebenfalls ein „Klassiker“ und trotz der erweiterten Neueinspielung bei DG unverzichtbar! Mehr gibt es dazu gar nicht zu sagen – eine ganz wichtige Doppel-LP.
DISC 48:*****
Schoenberg: Verklärte Nacht Op. 4 (Version for String Orchestra (1943)
Berg: Three Pieces from "Lyric Suite"
Boulez Einspielung der Streichorchesterumsetzungen der beiden kammermusikalischen Stücke von Schönberg (Streichsextett) und Berg (Streichquartett) sind hervorragend gelungen - für mich eine der allerbesten Platten dieser Gesamtausgabe von Sony! Eine durchglühte Interpretation der Verklärten Nacht, die sich vor den zu Recht berühmten Produktion von Mitropoulos/NYP (Studio von 1958, Stereo) und Reiner/CSO (auf CSO-CD96A-2) und Klemperer/Concertgebouw (beide Live) nicht verstecken müssen. Bei Berg ist die Einspielung quasi konkurrenzlos … Die weitgefächerte Aufnahme mit schön eingefangenem Raumklang unterstreicht das Sinfonische dieser Musik.
DISC 50:****
Berg: Lulu - Suite
Berg: Der Wein
Wieder eine ausgezeichnete Aufnahme. Der Wein (mit Jessye Norman) ist in dieser vorliegenden deutschen Fassung ziemlich konkurrenzlos. In der französischen Fassung (die ich zur Stimmung des ganzen Werks passender finde) klingt Leinsdorf/BSO mit Phillis Curtin feiner und kammermusikalischer. Der Franzose Boulez hat hier eine sehr deutsche Auslegung vorgelegt…
Die Lulu-Suite sollte man wohl noch mit Ormandy/Philadelphia und Dorati/LSO kennen, aber Boulez hat eine gute Balance zwischen klarer Disposition und Expressivität gefunden.
DISC 52:
Schoenberg: A Survivor from Warsaw, Op. 46
Schoenberg: Variations for Orchestra, Op. 31 ****
Schoenberg: Five Pieces for Orchestra, Op. 16 ****
Schoenberg: Accompaniment to a Cinematographic Scene, Op. 34
Die Orchestervariationen und die Fünf Stücke für Orchester sind großartig gelungen.
DISC 54:***
Schoenberg: Serenade, Op. 24
Schoenberg: Lied der Waldtaube
Schoenberg: Ode to Napoleon Buonaparte, Op. 41
Die zweite Aufnahme der Serenade mit Boulez (1970) mit dem Ensemble Intercontemporain (die erste von 1961 ist bei Adès). Sehr stimmig, geradezu „klassisch“. Bei Leon Kirchner (1966) und besonders Mitropoulos (1949, wann endlich mal auf ordentlich CD?) ist die Musik zudem abgründig.
Jessye Norman singt im Lied der Waldtaube sehr schön und fügt sich gut in die Kammermusikversion ein.
DISC 57:****
Boulez: Eclat
Boulez: Multiples
Boulez: Rituel (In Memory of Bruno Maderna)
Durchaus Musik für die Sinne. In Éclat die vielen abgestuften Farben der Saiten und des Schlagwerks. In „Rituel“ mit dem BBC S.O. fasziniert das Sparsame und Strenge, eine Trauermusik. Alle Titel sind sehr gut aufgenommen.
DISC 61:***
Berg: Concerto for Violin and Orchestra (To the Memory of an Angel) ****
Berg: Three Pieces for Orchestra, Op. 6 **
Ein klar und natürlich musiziertes Violinkonzert. Diesbezüglich passen Zuckerman und Boulez perfekt zusammen. Hier empfinde ich das als Vorteil, denn so oft geht vor lauter Emotionen und „Absichten“ in diesem Stück die Disposition verloren.
Die Drei Orchesterstücke op.6 habe ich in der ersten Einspielung mit Boulez kennengelernt und identifiziere das Stück mit diese Aufnahme. Die Platte von 1984 ist deutlich anders in der Anlage. Das Präludium ist ca. 20% zügiger und das ganze visionäre „nachmahlerianische“ Werk wirkt deutlich glatter. Leider.
DISC 62:****
Boulez: Le Marteau Sans Maître
Boulez: II Notations Pour Piano
Boulez: III Structures Pour Deux Pianos, Livre II
„Le Marteau“ klingt in diesem (ausnahmsweise) Livemittschnitt deutlich ansprechender als in der frühen Studioaufnahme, welche deutlich in den Höhen gekappt (CD-Transfer?) und etwas verhallt ist. Auch die anderen beiden Stücke sind ausgezeichnet aufgenommen. Die Musik selbst hat sich mir noch nicht erschlossen. Die vier Sterne gelten einfach der ausgezeichneten Umsetzung der Musik.
DISC 67:****
Scriabin: Symphony No. 4, Le Poeme de l'extase, Op. 54
Bartók: Four Pieces, Op. 12 (Sz 51)
Bartók: Three Village Scenes (Sz 79)
Stravinsky: Suite No. 1 pour petit orchestre
Stravinsky: Suite No. 2 pour petit orchestra
Das „Poème de l´extase“ zählt zu den besten Aufnahmen des Werks und die Vier Stücke op.12 Bartoks haben in dieser Qualität nur Konkurrenz von Ormandy. Bei Skrjabin und Bartok spielt das NYP.
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EIN FAZIT
Was kann man nun insgesamt zu der Box sagen? Die Hälfte der Aufnahmen sind überdurchschnittlich und ein Drittel oder Viertel wirklich ausgezeichnet. Bei den Platten, die mich nicht so ganz befriedigen, vermisse ich tendenziell zumeist am stärksten den rhythmischen Esprit und Mut mehr als die absolute Kontrolle zu wagen. Diese meine „Einschätzung“ ist natürlich rein subjektiv.
Das, was die Stärke der meisten dieser Aufnahmen ausmacht (hervorragende amerikanische Orchester, klare Disposition), ist im Vergleich auch ihr Manko. Neben z.B. Reiner/CSO, ja öfters auch Bernstein/NYP und Munch/BSO kann Boulez oft nicht bestehen.
Boulez ist ein großer Diener der Werke, aber der Hörer (also ich zumindest) möchte doch gern auch ein Quäntchen der Künstlerpersönlichkeit des Dirigenten in einer Aufführung / Aufnahme mitbekommen.
Die Remasterings sind allesamt gut, wobei ich (wie schon bei Bernstein) Sony nicht so recht über den Weg traue, ob nicht doch hie und da etwas Raumklang hinzugefügt wird… Was leider immer wieder mal dem sehr aufmerksamen Ohr auffällt, sind nicht wirklich sauber ausgeführte Schnitte.
Die Box ist sehr stabil, die Optik ist ansprechend. Das Booklet enthält alle wichtigen Angaben zu den Aufnahmen (natürlich nicht die originalen Plattentexte) und ein Komponistenregister, was bei solch einer umfangreichen Box wichtig ist. Sieben Seiten Einführungstext sind natürlich nicht viel. Besonders bez. des Verständnisses und der Neugierde an den zeitgenössischen Kompositionen rächt sich die Sparsamkeit am Text.
Mal abgesehen von Verehrern Boulez, die nicht schon alles haben oder auf neuere CD-Transfers aus sind: Aufgeschlossene Hörer mit Lust auf Entdeckungen finden genauso etwas wie Freunde französischer und russischer Musik und der zweiten Wiener Schule. Bei einem Preis von etwas mehr als zwei Euro pro CD ist es wohl eher die Frage, wie groß die Schnittmenge mit eigenen Interessen ist – und ob die Box letztlich mehr Platz wegnimmt oder einspart, wenn man Doubletten abstoßen kann und möchte … *g*