Bedeutendes Dokument der Mahler-Rezeption - und mehr ...
Kubelik, Abravanel und Bernstein (und Solti, über den es viel zu sagen gäbe, und Haitink, den ich trotz des phantastischen Mahler Traditionsorchester Concertgebouw summa summarum nicht so bedeutsam finde) arbeiteten gleichzeitig an den ersten kompletten Mahler Sinfonie-Zyklen für die Schallplatte.
Was besonders die Zyklen von Kubelik und Abravanel auszeichnet ist das ganz besondere Flair, dass die Orchester die Sinfonien Mahlers in dieser Zeit Großteils erst entdeckt haben. So ergeben sich unwiederbringliche Momente eines „ersten Erlebnisses“. Besonders beglückend empfinde ich das oft bei Abravanel.
Beim tschechischen Rafael Kubelik mit dem Bayerischen Rundfunk Orchester schimmert tatsächlich ab und zu durchaus das böhmische Element der Musik durch, was aber keineswegs verharmlosend wirkt. Im Gegenteil, dadurch wirkt die Musik manchmal noch verstörender. Kubelik wird oft das diskreditierende Prädikat "musikantisch" angehängt, was dessen Ansatz seiner tiefen Mahlerinterpretation keineswegs gerecht wird. Geistige Durchdringung, eher straffe Tempi, Meidung des Extremen und keine Sentimentalität. Manchmal kann das auch etwas stromlinienförmig wirken … Das engagierte Orchester bleibt leider aus klanglichen und technischen Gründen in komplexen Stellen bisweilen die letzte Klarheit der Musik schuldig (z.B. in der Neunten). Besonders beeindruckend ist mir die 1te, 2te, 4te, 5te und 7te in Erinnerung.
Leonard Bernstein hatte mit dem NYP ein Orchester mit starker Mahler-Tradition (Walter, Mitropoulos - der Komponist war ja selbst kurzzeitig Chef des Vorläuferorchesters), das aber nicht immer auf der (eigentlich vorhandenen eigenen) Höhe spielt. Bernsteins Ansatz war von Anfang an sehr extrovertiert und eher extrem in der Emotionalität, wobei das meiste hier noch in Form und Ausdruck stimmig ist (was im späteren Zyklus für die DG oftmals nicht mehr der Fall ist). In dem ersten Zyklus liegt er in den Spielzeiten ca. 10 % über Kubelik und Abravanel, im digitalen Zyklus sind es bis zu 20% - was nicht an langsamer gespeilten schnellen Passagen liegt! Manchmal öffnet Bernstein eine Welt bei Mahler, die so noch nicht zu hören war. Außergewöhnlich gut sind m.E. - ebenfalls wie bei Kubelik - die 1te, 2te, 4te, 5te und 7te gelungen.
ABRAVANEL mit UTAH S.O.
Maurice Abravanel (sephardischer Jude, in der Schweiz aufgewachsen, Studium bei Kurt Weill) ging Mitte der dreißiger Jahre in die USA und arbeitete von 1947 bis 1979 als Chefdirigent beim Utah Symphony Orchestra. Er machte aus dem guten Provinzorchester ein weltweit beachtetes Spitzenorchester. Der Klang ist deutlich kleiner als bei Amerikas „Big Five“, der Streicherapparat klingt auf den Aufnahmen nach „weniger“, die Blechbläser haben nicht die Ausgewogenheit des CSO, auch die Intonation ist nicht immer 100% (bei sehr geschultem Ohr), aber die Farbigkeit ist groß und die Klarheit außerordentlich! Zudem folgen die Musiker leidenschaftlich ihrem Dirigenten, artikulieren äußerst bewusst und genau. Das Orchester spielt oftmals disziplinierter als NYP und hat – ich spreche das offen aus, ohne abwerten zu wollen – klanglich eine andere Klasse als das damalige Orchester des BR, auch wenn es eine Menge Patzer und „Krummer“ gibt (z.B. in der Durchführung des Kopfsatzes der 7ten).
Vielleicht macht das besondere dieser Aufnahmen aus, dass Abravanel die Musiker so sehr mit seiner Vision von Mahler inspiriert und mitnimmt. Das ist eine Qualität des Erlebens, das heute bei keinem der bekannten Orchester mehr möglich ist. Zu sehr ist Mahler im Konzertbetrieb angekommen – und das ist durchaus auch in einem pauschalen Sinn gemeint.
Schon die Zyklen der zweiten Generation (Tennstedt, Abbado, Inbal, Rattle, zweiter – eigentlich dritter wenn man den TV-Zyklus mitrechnet - Bernstein) und folgende (Ozawa, Chailly, Gielen, Bertini, Maazel, Boulez, Zinman, Gerviev) geben Mahler zu viel „Selbstverständlichkeit“.
Bei Abbado (und auch Tennstedt) gibt es gute Ausnahmen – ein Sonderfall, ungewohnt und faszinierend, ist der „Fast-Zyklus“ von Kyrill Kondrashin, bei dem leider die 2te und 8te fehlen.
Abravanels Mahler hat Größe und Vision, ist klar strukturiert, die Tempi sind eher straff, die Steigerungen wohl kalkuliert, aber dennoch klingt alles lebendig und nichts „abgezirkelt“. Abravanel betont etwas das „klassische“ dieser Sinfonien und nimmt ihnen dennoch nichts weg. Er erfasst das Ganze und verliert sich bei aller Genauigkeit nie im Detail (im Gegensatz zu Bernstein manchmal). Abravanel hat immer den geistigen Inhalt der Werke vor Augen – nicht gedacht, sondern gefühlt. Das glaube ich zumindest bei den Einspielungen gut fühlen zu können.
Nicht genug loben kann man die Aufnahmetechniker und den Produzenten Seymour Solomon. Es ist großartig, was sie in dem hervorragenden (heute Abravanel Hall benannten) Konzertsaal an klanglicher Schönheit eingefangen haben. Viel direkter Klang (was heute leider so vielen Aufnahmen abgeht), und auch dennoch perfekte Raumanteile. Ich empfinde das nicht als flach, sondern als wunderbar durchsichtig. Es wird nicht so sehr das gewaltige, der verschmolzene Klangrausch favorisiert, dafür aber auch im Fortissimo äußerste Klarheit - was dem Konzept von Abravanel sehr entgegenkommt!
Besonders möchte ich von der Abravanel-Einspielung – schon wieder(!) - die 2te, 4te, 5te und 7te hervorheben … aber hier auch durchaus die Achte (es war die erste Einspielung von 1963). Die 1te ist sehr gut und die 3te, 6te, 9te und besonders die 10te bieten ein beachtliches Gegengewicht zu Kubelik und Bernstein. Dazu muss ich sagen, dass es natürlich unvergleichliche Einzeleinspielungen all dieser Sinfonien gibt, aber hier möchte ich nur drei bedeutende der fünf frühen ZYKLEN beleuchten.
DIGITAL-TRANSFERS
Der Digital-Transfer der hier vorliegenden 10 CD Edition von „Musical Concepts“ ist schlicht hervorragend! Der damalige Aufnahmetechniker Ed Friedner hat den Analog-to-Digital Transfer selbst vorgenommen. Also keine Scheu beim Kauf, dass es keine Veröffentlichung des Labels Vanguard ist! Ich habe ein paar der Sinfonien in den Vanguard-Ausgaben von Anfang und von Ende der 90ziger, welche durchaus nicht besser klingen!
Ein TIPP: Die Aufnahmen ruhig ein klein wenig lauter als moderate Zimmerlautstärke hören. So gewinnen sie den ganzen Raumklang und die wunderbaren Einspielung verlieren alles „flache“.
AUSSTATTUNG
Die Ausstattung dieser äußerst preiswerten Box ist mehr als spartanisch: Ein Faltblatt mit Tracknummern (die Sätze sind an strukturellen Schlüsselstellen extra abrufbar), Gesangssolisten der 2ten, 3ten und 4ten (nicht für die 8te) und Produzentenangaben – sonst nichts. Die Gesamtspielzeit der Sinfonien ist nicht angegeben – und wo die Sätze mehrere Tracks haben muss man sich auch die Gesamtzeit des jeweiligen Satzes zusammenzählen. Da die Aufnahmejahre pauschal mit 1963-1974 abgegeben sind, gebe ich hier die Jahreszahlen der einzelnen Sinfonien an:
1te = 1974,
2te = 1967,
3te = 1969,
4te = 1968,
5te = 1974,
6te = 1974,
7te = 1966,
8te = 3.12.1963,
9te = 1969,
10te (Adagio) = 1974 (letzte Aufnahme).
Die schmale Box (Mahlers Sinfonien auf 2 cm - wie platzsparend!) ist sehr stabil, die CDs sitzen in Papierhüllen mit Klarsichtfenstern und einer Lasche. Hierzu noch ein Tipp: Legen Sie die Hüllen so in die Box, dass die Laschen links sitzen. Wenn Sie diese oben platzieren, dann wird es eng beim Schließen der Box!
FAZIT
In einer amerikanischen Amazon-Besprechung hat zur Abaravanel-Aufnahme jemand (die einzige 1-Stern-Rezension von einigen 4- und 5-Sternen) geschrieben, man solle sich das Geld sparen und besonders die Zeit nicht mit verstimmten Bläsern zubringen …
Die Intonationskritik ist ganz streng genommen nicht ganz falsch, aber unter diesem Maßstab ist es genauso überflüssig, seine Zeit mit den mulmigen Klängen des Bayerischen Rundfunk Orchesters oder manchmal einfach schlampig spielenden New Yorkern zu verschwenden. Dann bleibt wirklich von den hier erwähnten Zyklen nur noch Chicago (mit Solti, Levine oder Abbado) oder vielleicht Philadelphia oder das LSO…
Musikalische Ausführung ist nie perfekt – und das zu akzeptieren bedeutet etwas Grundsätzliches im Leben anzuerkennen: Wir Menschen und unsere Werke sind unvollkommen…
In diesem Sinne spreche ich der hier rezensierten Aufnahme eine unbedingte Kaufempfehlung für Kenner der Musik Mahlers aus - und für solche, die in gewisser Weise ihr erstes Aha-Erlebnis nochmals erleben möchten. Aber an auch alle, die diese Musik mit dem Herzen entdecken möchten, einen schmalen Geldbeutel haben und sich auf eine schmale Box freuen …
P.S.:
Hier hat ein anderer Rezensent als Überschrift geschrieben: "amerikanischer Mahler" - ist es das wirklich? Von einem 1933 aus Deutschland geflohenen Juden, der das Glück weniger Emigranten hatte, wirklich in der "Neuen Welt" Fuß zu fassen? Mit einem ordentlichen Anteil deutscher Musiker im Orchester? Auch wenn es bestimmt nicht abwertend gemeint war, so ist die Aussage dennoch nicht hilfreich für ein Verständnis dessen, was Musik ist oder sein kann. Mal abgesehen davon - was ist denn "amerikanisch" in der sogenannten "klassischen" Musik (auch so ein Begriff, der außerhalb der klassichen Epoche sinnlos erscheint)? Ich halte Bernstein Solti und Abbado auch nicht für besser, sondern einfach "anders" ...