fein ausgearbeitet - aber Beethovens Tempo-Angaben?
Dass ich Tempo„vorschriften“ vergessen habe, stimmt nicht – ich habe sie befolgt. (Michael Gielen an einen Kritiker, 1957)
und
„Beethoven ist eine zentrale Aufgabe meines Lebens geworden“ (Michael Gielen)
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Diese beiden Sätze stehen sozusagen als Motto ganz am Anfang des Textheftes zur Gesamtausgabe der Sinfonien Beethovens mit Michael Gielen. Besonders der Satz mit den „Vorschriften“ zeigt schon 1957 eine vielschichte Auseinandersetzung Gielens mit Beethoven – also nicht unbedingt ein „eins zu eins Umsetzen“ der notierten Metronom-Angaben.
In meiner Besprechung hier möchte ich von diesen von Beethoven angegebenen Metronom-Zahlen, Tempo-Beugungen, Artikulation, Akzenten, Phrasierung usw. ausgehen, um anhand des objektiv Nachprüfbaren auch mit persönlichen Gedanken zu einem möglichen Sinn dieser Angaben und dem „Warum“ von Abänderungen in dieser Interpretation einzugehen.
Als Grundlage habe ich in Ermangelung der ganz neuen Urtextausgabe (besser eigentlich „kritische Neuausgabe“) dazu die Henry Littolff's Verlag Ausgabe (Braunschweig, ca. 1880) verwendet (in dem Reprint durch Dover). Die neueste Ausgabe zeigt zwar interessante Abweichungen in einer Fülle von Details, aber auch die Unmöglichkeit, wegen widersprüchlichen Quellen in manchen Punkten jemals Gewissheit über Beethoven Absichten erlangen zu können. Die Metronom-Angaben, die grundsätzliche Artikulation und die Dynamik sind aber schon in der von mir verwendeten Ausgabe korrekt.
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Grundsätzliches zum Thema „Metronom-Angaben bei Beethoven“
Darüber gibt es unzählige Veröffentlichungen. Ich habe dazu eigene und auch knapp zu formulierende Gedanken. Vorab: Beethoven hat die meisten seiner Sinfonien (Erste bis Siebte) rückwirkend metronomisiert. Das geschah zu einer Zeit, als er seine Hörfähigkeit schon weitgehend eingebüßt hat.
Ein paar Thesen zum Thema „Metronomisierung Beethovens“:
1. Grete Wehmeyers sieht heutzutage eine falsche Auslegung der Metronom-Angaben bei schnellen Tempi. In Kürze gesagt - ihre Annahme ist: Zu Beethovens Zeit sollte eigentlich nur jeder zweite Schlag zählen („tick“ als Maßstab des Schlags genommen, also „tick-tack“ anstelle „tick-tick“). Das bedeutet ein halb so schnelles Tempo - also die Dauer diese Stücks wäre 6 Min. anstelle von 3 Min.
Persönliche Gedanken finde ich immer spannend – besonders wenn sie doch ein Büchlein mit 138 Seiten Text füllen können. Es gibt auch Aufnahmen, in denen das undogmatisch schon vor Wehmeyers These umgesetzt worden ist (z.B. Kopfsatz der Mahler Siebten mit Klemperer, EMI 1968). Die These selbst ist aus vielen Gründen unhaltbar (nur ein Beispiel: Die Dauer des Atems von Sängern und Bläsern, welche teilweise doppelt so lange reichen müsste).
2. Beethovens Metronom war fehlerhaft und lief zu langsam.
Dieses Argument lässt sich m.E. so nicht aufrechterhalten, da z.B. sonst sehr langsame Tempi unspielbar wären.
3. Die Orchester-Besetzungen und die Räumlichkeiten der Aufführungen waren kleiner und trockener als heute und erlaubten somit schnellere Tempi.
Die beliebte „Celibidache“-Frage – für Interpreten immer ein Nach-Spüren und -Hören wert!
4. Beethoven war bei den Metronom-Angaben einfach nachlässig.
Halte ich für unwahrscheinlich, da er nur bei wenigen und ihm sehr wichtigen Werken diese vorgenommen hat.
5. Beethoven hat zur Zeit seiner Metronomisierung durch seinen schon lange fehlenden akustisch-physischen Kontakt zur Außenwelt Musik nur noch innerlich gehört – und somit den physikalischen „Widerstand“ des Musizierens verloren. Das Tempo für die Idee der Gestalt lässt sich beim rein inneren Hören gewaltig steigern und wird nicht durch Trägheit der Masse (Bogenbewegung) oder Luftwiderstand (Einschwingvorgang der Bläser) oder das Ausbreiten des Schalls in den Raum und dessen Reflexion gestört. Je länger Beethoven sich in seinem von außen „ungestörten“ akustischen Kosmos bewegte, umso mehr lösten sich die Tempovorstellungen auch vom real Machbaren bzw. Sinnvollen. Auch wenn es sich nur um 5% oder 10% des Zeitmaßes handelt, so ist das genau die Spanne, die bei den vielen heutigen Aufführungen (auch von „Umsetzungswilligen“) nachgegeben wird.
Wenn überhaupt, dann halte ich 3) und 5) für relevant. 5) ist übrigens meine eigene These: Als Dirigent von Liebhaberorchestern ist mir dieses Phänomen beim Erarbeiten zuhause und vor dem Orchester in der Praxis bekannt . . .
Zu 5) habe ich einen konkreten praktischen Vorschlag: Im Kopf (also ohne reale akustische Hilfe!) die Sinfonien in exakt dem „Kopf-Tempo“ Beethovens erarbeiten. Nicht den Gedanken daran geben, was umsetzbar ist und was nicht. Dann auf diese innere Vorstellung mit Besonderheiten der Originalinstrumente und Spielweisen hin proben und aufführen. Das, was die Physik dann an Tempo „abzieht“, ist vielleicht exakt der Anteil, den Beethoven sich nicht mehr real vorstellen konnte. Das setzt natürlich solch ein Orchester voraus, dass das auch ausführen kann.
Wo sind in den Thesen Gemeinsamkeiten? Abgesehen von Wehmeyers These (1) und einer freien Tempo-Deutung wegen Phänomenen der Raumakustik (3) bedeutet es allemal, dass die Relation der Tempi zueinander im Grunde eins zu eins zu übernehmen sind – egal, welches Grundtempo man nun einschlägt. Und in diesen Punkt sind leider viele Aufführungen inkonsequent – oft gerade diejenigen, die es möglichst „Beethoven-getreu“ umzusetzen trachten.
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Der BEETHOVEN ZYLUS mit GIELEN – Betrachtungen ausgehend von Beethovens Metronom-Angaben
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SINFONIE NR. 1
Die Gesamtanlage ist eher leicht und federnd, die (zumeist gut hörbaren) Akzente werden nicht zu hart genommen - und warum auch nicht: die Erste ist ja noch nicht die Achte (mit ihren herben Akzenten).
1. Satz: Tempomäßig absolut nach Beethoven (112), das Seitenthema wird minimal leicht gebeugt (108). Aber die Metronom-Angaben beziehen sich ja wohl auch jeweils auf den Hauptgedanken. Desweiteren ergibt sich natürlich die Frage damaliger Aufführungspraxis bzw. nach Beethovens Wünschen bezüglich der Umsetzung eines ganzen Sonatensatzes mit Seitenthema, Durchführung usw. In dieser Aufführung ist auffällig, dass Gielen die Durchführung von Anfang an deutlich drängender nimmt (~118).
2. Satz: Das „Andante cantabile con moto“ liegt mit 112 deutlich unter den angegeben 120. Aber wie anders das cantabile einhalten (was ja auch eine gewisse Ruhe voraussetzt), ohne eben hektisch zu werden? Da kommen natürlich auch Fragen auf, die die spieltechnischen und klanglichen Eigenarten von Orchestern betreffen. Es mag sein, dass ein Orchester bei 120 noch ruhig und sanglich genug klingt, ein anderes aber schon eine Spur zu unruhig erscheint. Zudem ist es auch eine Frage der Klanglichkeit selbst: Soll Beethoven z.B. in schnellen und schnellsten Passagen so leicht und flüchtig klingen, wie es oft bei Zinmans Einspielung der Fall ist, oder soll die Tonsubstanz eher „erdig“ und „bluterfüllt“ bleiben?
3. Satz: Das „Allegro molto e vivace“ hat in der Bezeichnung schon die Schnelligkeit (Beethovens Angabe 108), ist aber als Hauptcharakter „noch“ mit Menuetto überschrieben. Gielen zieht hier konsequent durch Menuetto und Trio das Tempo 112, führt den Satz also noch mehr vom konventionellen Menuett weg als Beethoven in der Zeit der Metronomisierung fordert - als er schon die meisten seiner Scherzi geschrieben hatte.
4. Satz: Die vier Takte Adagio-Einleitung (63) beginnen bei ~72, um auf ~52 (und dann natürlich das Ritardando zur Fermate) auszulaufen. So spricht die Musik, der Witz der Stelle ist getroffen. Schade, dass der furiose Wirbel des nachfolgenden Allegro (88) nicht umgesetzt ist. Gielen bleibt durchweg bei etwas beschaulichen 74, was dem Satz etwas von dem aufsässig Frechen nimmt. Sosehr Gielen in der Ersten die Tempi Beethovens umsetzt (die 5% bis 10% Abweichung im zweiten und dritten Satz mal nicht eingerechnet) – im letzten Satz stört er doch mit den 20% „Tempo-Nachlass“ empfindlich das Binnenverhältnis der vier Sätze in puncto Geschwindigkeit und somit auch der Aussage. Da vermisse doch etwas Wesentliches des letzten Satzes.
SINFONIE NR. 2
Die Gesamtanlage ist wie in der Ersten eher leicht und hier auch tänzerisch, die Akzente deutlich, aber nicht hart. Klare Durchsichtigkeit, gute Balance
1. Satz: Das „Adagio molto“ (84) nimmt Gielen genau wie das folgende Allegro (100) exakt nach Beethovens Angaben. Das Seitenthema wird wieder ein wenig im Tempo gebeugt. Wie in der Ersten deutliche Disposition und gut herausgearbeitete Artikulation.
2. Satz: Das „Larghetto“ liegt mit ~84 wie im zweiten Satz der Ersten deutlich unter den angegeben 92. Larghetto bedeutet in diesem Fall eindeutig „etwas schnelleres Largo“, denn die Variante „kürzeres Largo“ fällt angesichts des Satzumfangs wohl aus. Anhand den „schnellen langsamen“ Sätze der Ersten und Zweiten könnte man tatsächlich glauben, dass die Metronom-Angaben zu schnell sind - warum auch immer… Jedenfalls klingt es bei Gielen so sehr stimmig: bewegt, mit gesanglicher Linie und dennoch auch sehr lebendigem Rhythmus, stellenweise richtig tänzerisch.
3. Satz: Das „Scherzo“ wird samt Trio in den angegebenen 100 gespielt.
4. Satz: Das „Allegro molto“ (152) wird im Grundpuls genau aufgenommen. Sorgsames Beachten der Grunddynamik (z.B. bei sf immer wieder ein Zurückgehen in die Ausgangslautstärke). Gute Balance, und Kontrolle über das Geschehen, nirgends ein Abweichen über Nuancen hinaus. Das ist Stärke und Schwäche dieser Einspielung zugleich. Etwas Rauschhaftes (Finale) oder zärtlich Verträumtes (2.Satz) kann so nicht entstehen, aber das war vielleicht auch gar nicht die Absicht Gielens. So bleibt für mich nach dem Hören kein wirklich bleibender Eindruck haften, es fehlt mir das Berührende der Musik, das über das klug Disponierte und durchdacht und exakt Umgesetzte hinaus geht…
SINFONIE NR. 3 (mit einem Gedanken-Vergleich zu Einspielung von 1958 von Hermann Scherchen)
1. Satz: Das „Allegro con brio“ erklingt in den notierten ganztaktigen 60. (neugieriger Nebengedanke: was machte jetzt Grete Wehmeyer mit diesem Satz – auf 30 runtergehen, da er ja ganztaktig metronomisiert ist? Und wo bliebe dann das „Allegro“ und besonders das „con brio“??). Bei Gielen klingt das „Allegro“ exakt, aber was ist bei ihm mit dem „con brio“? Der Zusatz der Tempoangabe beschreibt ja einen Charakter… Da beginnt schon das Subjektive. Was unterscheidet die Tempomäßig fast identische (ok – in schnellen treibenden Passagen NOCH schnellere und treibendere!) Interpretation eines Hermann Scherchen von der von Gielen? Meinem „Hören“ nach ist es „das Feuer der Vision“. Bei Scherchen geraten Streicherläufe zu Eruptionen und Akzente zu Messerstichen oder Kanonenschlägen. Wenn die Erste und Zweite im rein Musikalischen auskommen, so genügt das bei der Erioca nicht mehr …
2. Satz: Im „Adagio Assai“ (Marcia funebre) gibt es anfangs im Mittel ~72 im Hauptgedanken gegenüber den vermerkten 80. Das variiert aber von 60 bis 80 und in Höhepunkten bis zu 94! Dies ist also der erste Sinfoniesatz (chronologisch gesehen), den Gielen mit deutlichen Temposchwankungen nimmt. Mathematisch gesehen wird’s im Mittel wohl insgesamt auf die ca. 80 hinauslaufen… für mich seltsam ist dieser deutlich langsamere Beginn mit dem konstant schnelleren weiteren Verlauf des Satzes bis zum zurückblickenden Schluss des Satzes, der wieder etwas langsamer genommen wird. Zur Klangrede eines Trauermarschs gehört aber m.E. aber auch das eher starre im Tempo. Ich finde es kurios, dass gerade in diesem Satz sich Gielen die größte tempomäßige Freiheit nimmt. Mir fehlt eindeutig die menschliche Vision, der Schmerz und auch die unsägliche trostlose verstummende Trauer am Schluss …
3. Satz: Das „Scherzo“ wird wieder samt Trio in den angegebenen 116 gespielt. Da wirkt für mich die kleine „Verlegenheitspause“ vor dem Trio fast verräterisch: Als habe Gielen sich selbst nicht so wohl gefühlt mit dem unbeugsamen gleichen Tempo. Tänzerisches und Flair des Trios vermisse ich hier doch sehr … Man mag sich an der Ungenauigkeit im Zusammenspiel (wie an anderen Stellen auch) bei Scherchen und dem Orchester der Wiener Staatsoper stören – aber der Charakter von Scherzo und Trio ist spritzig vital und voller Vorstellungskraft und Phantasie.
4. Satz: Das „Allegro molto“ (76) ist eine furioser Auftakt – natürlich schneller als das folgende Thema ab Takt 12. Schade, dass Gielen sich nicht öfters so etwas erlaubt, wenn er schon im Großen oft andere Tempi anschlägt. Die Variationen werden im angegeben Tempo geboten. Im „Poco Andante“ (108 - bei Gielen anfangs etwas langsamer) vermisse ich (wie im Trauermarsch die Klage) das Melancholische der Oboe, was aber weniger an Gielen liegt, als an der doch sehr unruhigen Farbgebung (nicht Intonation) des Oboisten. Der Ton klingt etwas „hohl“ und unruhig „flackrig“. Auch wenn bei Scherchen die Wiener Oboe „quäkt“ – was liegt doch in deren Musizieren für eine hörbare Herzenstiefe .. Das „Presto“ (116) des Schlusses liegt bei gemütlicheren 100, was einen „adäquaten“ Abschluss der Eroica bietet.
Wie ich das meine?
Die großen Sinfonie- und Rundfunk-Orchester KÖNNEN heute die Tempi Beethovens spielen, was zu Scherchens Zeiten im deutschsprachigen Raum eigentlich noch nicht so klar der Fall war. Da war es immer ein Kampf mit der Materie und dem Zusammenspiel. Das „Espressivo“ ergab sich hie und da mehr aus dem Kampf als aus Kontrolle. SO gesehen haben es Dirigenten heute schwerer, den Zuhörer in Spannung zu versetzen. Die „Eroica“ ist wohl die erste Sinfonie, die weit über rein Musikalisches hinausgeht und humanistisch wirken möchte und es auch tun kann!
An Gielens Erioca ist nichts auszusetzen, außer dass sie - zumindest bei mir - im Herzen kein Feuer entfacht …
SINFONIE NR. 4
1. Satz: Die Einleitung „Adagio“ (66) nimmt Gielen in den langen Notenwerten minimal breiter, das folgende „Allegro vivace“ (80) erklingt exakt im Tempo. Das Allegro hat Feuer, wenngleich es doch etwas starr wirkt.
Ich glaube es war Rafael Kubelik, der das Bild vom „Verdurstenden in der Wüste“ für diese Einleitung gebrauchte. Ob es nun ein „sich Schleppen“, ein „Tasten“ und dann ein „Feuer“ in dem auffahrenden Allegro ist – jedenfalls ruft dieser Beginn des Sinfoniesatzes Bilder hervor: gesehene oder gespürte… Wie soll auch Beethoven nach der Eroica wieder in das rein Musikalische davor zugehen können? Auch die Siebte und Achte gehen darüber hinaus, die Fünfte, Sechste und Neunte in ihrem philosophischen Ansatz sowieso …
2. Satz: Im „Adagio“ (84) liegt Gielen bei einem konventionellen Tempo 70. Es ist aber auch eine Herausforderung, das im Originaltempo als Adagio (also ruhig!) hinzubekommen. Der „Witz“ des Gegensatzes von rhythmischen Staccato zu der Gesangslinie vermisse ich ein wenig. Sehr schönes Klarinetten-Solo, gute Hörner!
3. Satz: Im „Scherzo“ liegt die Einspielung etwas unter der Angabe 100, was trotz sehr rhythmischen Spiels das Scherzo eine Spur zu brav und weich erscheinen lässt (vielleicht hätten aufgesetzte Bogen, akzentuiertere Einsätze der Streicher in den Synkopen mehr Biss gebracht?), in den beiden Trios „un poco meno Allegro“ liegt das Tempo anstelle 88 bei 72.
4. Satz: Das „Allegro ma non troppo“ (80) liegt genau im Tempo. Sehr präzise und auch Virtuos gespielt. Wer ein FEUERWERK an Spielfreude hören möchte, sollte mal Scherchen mit dem RPO einlegen (72-80) – und das trotz zwei drei Striche im Schnitt weniger an Tempo …
SINFONIE NR. 5
In der Fünften setzt sich meinem Empfinden nach fort, was sich in der Eroica schon angekündigt hat: Gielens Beethoven meidet jegliches(!) Pathos, büßt aber somit auch vielleicht einen Teil des SINNS der existenziellen musikalischen Aussage ein.
1 Satz: „Allegro con brio“
Ob das „ta-ta-ta-taaa“ des Kopfsatzes nun langsamer oder schneller genommen wird - auf jeden Fall ist es aber doch das SCHICKSAL, das klopft und kein höflicher Besucher oder der Postbote, dem es letztlich egal ist, ob ihm aufgemacht wird oder nicht! Mir persönlich ist der Kopfsatz zu wenig mit Unerbittlichkeit erfüllt, zu mechanisch in der Exekution der Notenwerte - und somit kann das kleine Seitenthema auch wenig von Hoffnung und Sehnsucht zeigen. Ein kleines Beispiel - wieder einfach nachzuvollziehen: Im Takt 34 der Exposition des Kopfsatzes steht in den Streichern ein aus dem Piano kommendes Crescendo, das für 10 Takte bis zu einem Forte führt. Ab dem fünften Takt gibt es zusätzlich Akzente. Das Ganze ist eine sehr drängende Stelle. Vom ersten bis zur eins des zweiten Takts steht ein langer Hornton in Terzen – bei Littolff ohne cresc. Bei Gielen hört man ein deutliches Crescendo, was aber irgendwie keinen Bezug zum Inhalt zu haben scheint und einfach die Umsetzung einer (nicht vorhandenen?) Notierung zu sein scheint. In den folgenden beiden Takten stehen ähnlichen langgezogenen Ton der Oboen und Fagotte ein crescendo drin, das aber gar nicht als solches zu hören ist. Die offensichtlich gedachte Unterstützung der Streicher im Wachsen und Drängen durch die Holzbläser fällt also völlig weg, dafür gibt es ein m.E. zu frühes mechanisches Crescendo in den Hörnern.
Um mich recht zu verstehen: Es dreht sich mir hier wie auch ebenso wenig bei den Tempovergleichen nicht um ein Erbsenzählen der Exekution von Beethoven Angaben, sondern um den sinnlich und sinnhaft wahrnehmbaren Gehalt dieser Angaben! A propos: Im „Allegro con brio“ liegt Gielen mit ausgeführten ca. 102 nur wenig unter den notierten 108 Beethovens, was aber eben noch nicht den Charakter des Satzes herstellt.
2. Satz: „Andante con moto“
Ich finde das „Andante con moto“ (Gielen liegt exakt bei Beethovens 92) in dieser Einspielung besonders gelungen, weil nicht (wie so oft) eine süß-verträumte Gesangsmelodie mit plötzlichen unmotivierten fetten Trompeten-Ausbrüchen erklingt (dazu noch meist in 15 verschiedenen Tempi), sondern alles ganz klar zusammengehört. Die Forte-Stellen, wenn auch unvermittelt erscheinend, sind nichts „Neues“, sondern eine Bestärkung oder Gewissheit der vorhergehenden Melodie: Diese wird quasi erst leise im geheimen gesungen, dann aber öffentlich und siegesgewiss (deutlicher Bezug aufs Finale!). Auch das Variationsmäßige, das den Satz sehr belebt, ist frisch und überzeugend. Besonders 39 Takte vor „piu moto“ klingt diese Melodie für mich wie ein kleines Revolutionslied… Schade, dass Gielen gegen Ende im „piu moto“ mit 108 etwas ruhiger und gemütlicher bleibt als Beethovens 116. Dies nimmt etwas vor der fast atemlos freudigen Erregung (Vorfreude?), die darin steckt und sich in der Entschlossenheit der a-tempo Schlusstakte nochmal bestätigt. Interessant, dass auch Gielen manche Konvention mitschleppt: 10 Takte von „piu mosso“ gibt es auch bei ihm die deutliche Verbreiterung des Tempos.
3. Satz: „Allegro“
Auch im dritten Satz gibt es Konventionelles (da kommt die Musik wirklich an Spielgrenzen): Bis zur berüchtigten Kontrabass-Stelle (Fugato-Beginn) hören wir Beethovens Tempo 96, was ab dort für den Rest des Satzes auf etwa 80 gedrosselt wird. Im Überleitungsteil zum Finale hat Beethoven zwar nicht „misterioso“ reingeschrieben, aber die (möglichen) Klangfarben und der Inhalt der Musik (Kopfmotiv, Harmonik) rufen doch geradezu danach:
- Der Liege-Ton der zweiten Geigen und der Bratschen kann fahl klingen (sempre pp)
- die Pauke (ebenfalls sempre pp!) klar und farbig, wenn nicht auf Ton, sondern perkussiv am Kesselrand gespielt wird.
(Da kommt der klangliche Sinn der alten Instrumente raus, der aber auch z.T. auf modernen umsetzbar ist - das wäre hier der
helle Klang des Kalbfells mit dem deutlichen Geräusch und Einschwingvorgang)
- die Fortführung des Rhythmischen in den Kontrabässen durch deutlichen Strichbeginn und Notenlängen
- und in den ersten Geigen die leichte Betonung der andauernden harmonischen Veränderung durch Schwerpunkte und Erkenntnisse der damaligen Spielpraxis.
Da bleibt Gielen (oder ist es die Aufnahmetechnik der „mittleren Entfernung“?) im Ungefähren stecken. Zumindest für den „Boxen-Hörer“(also nicht mit Kopfhörer) ist die Stelle verschenkt…
4. Satz: „Allegro“ 84 - Tempo I 96 - „Presto“ 112
Das eingehende „Allegro“ erklingt in den vorgesehen 84, die Wiederholung wird gespielt. Den vielen insistierenden Wiederholungen von Figuren fehlt für meinen Geschmack der Ausrufezeichencharakter, der ja diesen Finalsatz so sehr prägt (und ja ganz offensichtlich den Schluss!). Im weiteren Verlauf (Litolff hat leider keine Taktzahlen oder Buchstaben) erscheint das „ta-ta-ta-taa“ in Achtel mit Abschlussviertel immer auf der Zählzeit Drei des 4 /4. Der Abschlusston des „ta-ta-ta-taa“ hat also durchaus ein Tenuto samt Betonung – bei Gielen ist es eher ein „ta-ta-ta-ta“, also ohne längeren Schlusston und fast eher der Betonung auf dem ersten Ton. So klingt es zwar nach Reiter- oder Militärrhythmus, aber der sinnliche Bezug zum „ta-ta-ta-taaa“ des Anfangs der Sinfonie stellt sich nicht ein. Das Tempo I (926) wird im Tempo genau getroffen, wobei das „Schicksalsmotiv" (nun im Dreier, wobei immer ein Takt sozusagen Auftakt zum nächstfolgenden ist) auch hier für mich nicht zwingend genug klingt. Das letzte Accelerando führt auch hier exakt in die notierten „Presto“ 112.
SINFONIE NR. 6
Die „Pastorale“ ist für mich ein ganz inniges Seelengemälde: Natur als Hilfe beim Bilden von eigener Wahrnehmung, Sinne, Herz und Seele (Bachszene), Rückkehr menschlichen Lebens zu den Wurzeln (natürlich idealisiert in „Lustiges Zusammensein“), Schicksalhaftigkeit (Gewitter) und Dankbarkeit (letztere Beide durchaus als „unkirchliche“ Religio = Rückbindung)… Ein durch und durch humanistisches und „religiöses“ Werk mit Vision und hohem Anspruch. Das Wort „Pastoral“ hat ja eine doppelte Bedeutung. Angesichts Beethovens Einstellung zu Natur und Landleben hat das Bedeutung…
1. Satz: „Allegro ma non troppo“ (Erwachen heiterer Empfindungen)
Also wenn hier Ligeti gespielt würde, dann fände ich die eher kühldistanzierte Spielweise bei den wiederholten rhythmischen Figuren des Kopfsatzes vielleicht passend oder interessant. Aber dreht es sich hier bei Beethoven denn um die Phänomenologie von Rhythmik und Klang, oder doch mehr um das „Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“? Das Tempo 66 ist getroffen (Scherchen übertreibt es im Kopfsatz ja, andere wiederum sind wesentlich langsamer – und oft dennoch genau richtig in der Erfüllung des Titels…)
2. Satz: „Andante molto mosso“ (Szene am Bach)
Schön „im Fluss und genau in Beethovens Tempo (50). Im Takt 23-24 gibt es eine ungewohnte Echowirkung in ersten Geigen, die zumindest in älteren Ausgaben nicht steht. Ein durchsichtiges vielstimmiges Gewebe.
3. Satz: „Allegro“ (Lustigen Zusammensein)
Sowohl das 3/4-„Allegro“ (108) als auch das 2/4-„Allegro“ (132) werden tempomäßig genau wie der
4. Satz: „Allegro“ (Gewitter)
mit dem Tempo (80) umgesetzt.
5. Satz: „Allegretto“ (Hirtengesang) 60 ()
Völlig unverständlich ist mir, warum Gielen im letzten Satz mit 50-52 anstelle von 60 wieder weit unter dem von Beethoven notierten Tempo bleibt. Dieser Satz bietet wirklich keinerlei Problem bezüglich Spieltechnik, Klang, Deutlichkeit, und Aussage in Beethovens Tempo. Warum nur? Dieser Satz ist so selbsterklärend und das Tempo so natürlich mit dem Inhalt verwoben, dass die meisten Aufführungen das Tempo 60 Beethovens befolgen. Gielen „Tempo 50“ nimmt den „dankbaren Gefühlen“ die innere Bewegtheit und der doch umfangreiche Satz wirkt zäh. Schade …
SINFONIE NR. 7
Meine ganz subjektive Empfindung: Die Siebte, Achte und vielleicht auch Vierte sind die Sinfonien Beethovens, in denen er ebenso Essentielles zu sagen hat wie in der Dritten, Fünften und Sechsten. Deren Aussagen sind nicht aber nicht so eindeutig benennbar wie das Visionäre der Freiheit und der Weg dorthin, das Schicksal und dessen Überwindung oder Natur und Gebet. Es sind menschliche Empfindungen und Besonderheiten - nicht eindeutig und benennbar: Vielleicht zählen darin dazu in der Siebten Tanz und Vitalität, in der Achten Humor und Eigenwilligkeit.
1. Satz: „Poco sostenuto“ 69 (69) - Vivace“ 104 (92-104)
2. Satz: „Allegretto“ 76 (anfänglich 62, dann 69)
3. Satz: „Presto“ 132 (126-132) - Trio: „Assai meno presto” 84 (69)
4. Satz: „Allegro con brio“ 72 (72)
Diese Aufführung der Siebten ist von Leben erfüllt und hält sich diesmal im Kopfsatz und Finale. Schade (ja - schade, dass ich ohne dieses „schade“ bei keiner Sinfonie in diesem Zyklus auskomme), dass das Allegretto etwas zu breit gerät und so der wunderbare Gegensatz von pulsierendem Rhythmus und der zumindest nachdenklich zu benennenden Melodie geschwächt wird. Das Trio des Scherzos wird in dem deutlich breiteren als bei Beethoven vorgesehenen Tempo „traditionell“ genommen. Dadurch geht der Zusammenhang zum Scherzo verloren, denn der schnelle „swingige“ ganztaktige Schritt des Dreiers wird im Trio zu einem nur etwas breiteren, aber sehr bestimmten (Punktierungen in der Trompeten) „Alla breve eins zwei“ des geraden Taktes.
Warum kann hier keine der Sinfonien in den Tempo-Relationen von Beethoven erklingen? Das betrifft viele Dirigenten - vertrauen sie so wenig auf Beethoven? Technisches Können der Orchester mal außen vor gelassen - und das ist ja heute auch nicht mehr das Problem: Wenn ein Dirigent die Metronon-Angaben für zu schnell hält (fehlerhaftes Metronom, Beethovens inneres und äußeres Gehör), dann kann er doch zumindest - egal in welchem Grundtempo - die Tempo-REALTIONEN der Abschnitte und aller Sätze zueinander einhalten! Die gewählten Tempi der Allegro Presto usw. liegen heute ja nicht mehr so weit auseinander wie noch vor 45 Jahren (z.B. beim späten Klemperer), somit ist ein etwas gemäßigteres Grundtempo auch in langsamen Sätzen durchaus vertretbar.
SINFONIE NR. 8
Auch die Achte ist ein Beleg dafür, dass Gielen in seiner Gesamtaufnahme hie und da weit von den Metronom-Angaben der Partitur abweicht. Dabei ist mir nicht einsichtig, warum manche Sätze exakt im Tempo gehalten, andere bis zu 20% in der Geschwindigkeit gedrosselt werden. Bei Dirigenten wie Furtwängler oder anderen, die - ohne sie deshalb der Selbstherrlichkeit bezichtigen zu wollen - sich stark an ihrer eigenen Vision eines Stücks zu orientieren scheinen, ist das eher verständlich wie bei diesem Dirigenten, mit dem man eher Werktreue verbindet. Natürlich gibt es bei vielen von Beethovens schnellen Sinfoniesätzen oft das Dilemma des Zusammenbringens des Ausdrucks, der Artikulation, der Vorstellung von Klanglichkeit und der geforderten Geschwindigkeit…
In der Achten fällt neben der starken Veränderung der Tempoverhältnisse der Eck- zu den Binnen-Sätzen die Verlangsamung des Trios auf. In den ersten drei Sinfonien bleibt er dort im Tempo (es gibt ja auch keine extra Angabe von Beethoven) die Fünfte und Sechste bilden keine regulären Scherzi und in der Vierten und Siebten gibt es für die Trios eine extra Angabe.
Hier nur die nackten Zahlen.
1. Satz: „Allegro vivace e con brio“ 69 (56)
2. Satz: „Allegro scherzando“ 88 (88)
3. Satz: „Tempo di minuetto“ 126 (120 + Trio 110)
4. Satz: „Allegro vivace“ 84 (70)
SINFONIE NR. 9
Die Neunte ist m.E. nach nicht „außermusikalischer“ wie die Dritte oder die Fünfte. Sie ist nur wesentlich umfangreicher, mehr gegliedert und hat als Finale diese fast 25 minütige „Sinfonie-Kantate“ mit dem visionären Text Schillers, der so sehr Beethovens Einstellung zum Leben und zum Menschschein spiegelt. Da hier nun so viel Abweichungen im Detail folgen: Gielens Lesart der Neunten überzeugt sehr, das Orchester und der Chor sind engagiert und konzentriert. Allein mit dem Solo-Quartett bin ich persönlich nicht so glücklich... Dennoch - jede gelungene Aufführung der Neunten halte ich angesichts der gestellten Herausforderungen ein Wunder.
1. Satz: „Allegro ma non troppo, un poco maestoso“
Das Tempo des Hauptthemas des Kopfsatzes liegt mit 80 etwa 10% unter Beethovens angegebenen 88. Und 10% können in der Musik eine ganze Menge sein… Jedenfalls verliert der Satz etwas von seinem Biss – und natürlich auch von seinen Entsprechungen im Scherzo und im Finale. Natürlich nehmen das andere Dirigenten noch langsamer. Richtiger oder überzeugender wird's dadurch nicht… Sehr befriedigend fällt mir auf, dass bei den kurzen Ritardandi Gielen zur rechten Zeit wieder „a tempo“ geht, was viele Kollegen nicht so genau nehmen.
2. Satz: „Scherzo. Molto vivace - Presto“
Das fugierte Scherzo ist mit notierten 116 sehr drängend. Die lateinische Bedeutung des Wortes (Fuga = Flucht) kommt mir in den Sinn… Die max. 108 Gielens verleihen diesem Satz eine gewisse müde Schwerfälligkeit.
Beethovens Ausdrucksbezeichnung „Presto“ (im quasi Trio) ist mir in dieser mehr gesanglichen Linie mit dem von ihm notierten Tempo „Halbe = 116“ nicht wirklich verständlich. Gielen liegt bei knapp 150 in den Halben, was „normal“ in der Aufführungspraxis ist. Klemperer hat das 1957 nach Beethovens Angaben mit etwas mehr als 120 annähernd umgesetzt – aber sein Grundtempo des Scherzos ist mit ca. 100 bis 104 noch breiter als bei Gielen.
3. Satz: „Adagio molto e cantabile“
Das „Adagio molto e cantabile“ im 4/4 Takt ist fein in der Artikulation umgesetzt (eben kein „Adagio e molto cantabile!“), mit 50 anstelle 60 aber wohl etwas weniger schwingend als von Beethoven gedacht. Zudem ist der Unterschied zum folgenden „Andante moderato“ im 3/4 Takt, das mit 60 fast bei den geforderten 63 liegt, sehr groß. Die leicht zunehmende Bewegung, die Beethoven wohl haben wollte, entsteht ja nicht nur durch das leicht erhöhte Tempo, sondern auch durch den Wechsel von dem geraden Vierer- in den leicht schwingenden Dreier-Takt. Das Adagio liegt wieder etwa bei 50 minimal. Bei Beethoven gibt es da übrigens keine gesonderte Metronom-Angabe. Das „stesso tempo“, also „das gleiche Tempo“ (von dem 4/4 in den 12/8 Takt, wobei die Triolen von vorher nun den Achteln entsprechen) geht minimal und sehr stimmig auf 48 runter. Nach dem zweiten Weckruf gegen Ende des Satzes sind die folgenden ruhigen und geheimnisvollen vier Takte mit 40 ganz außerhalb des bisherigen Flusses und unterstreichen somit das Besondere. Die nochmalige Aufnahme des Themas danach bildet auch einen ruhigeren Abschluss bei etwa 46.
4. Satz: „Finale. Presto - Allegro assai - Presto - Rezitativo“ usw.
Angesichts der Unzahl an Tempoeintragungen und sonstigen Angaben des Finales kann ich hier nur einen Teil erwähnen. Das Eingangs-Presto (wie auch das spätere vor dem Gesangs-Eintritt) erreicht nicht ganz das Tempo (oder vielleicht besser gesagt: den „Irrsinn“?) der Vorstellung Beethovens von 96. Das im Originaltempo zu spielen, heißt auch das komponierte Chaos mit eigenen „Orchester-Zusätzen“ zuzulassen. Dirigenten, die unbedingt die absolute Kontrolle behalten wollen, haben damit ihre Schwierigkeiten… Sehr glücklich ist aber endlich mal das Eingangs-Rezitativ gelungen, denn Beethoven sagt ausdrücklich „im Rezitativ-Charakter, aber im Tempo“! Das erste „Allegro assai“ (DAS Thema) trifft in Tempo 80 und Charakter. Beim zweiten Auftreten (Bariton-Solo) ist der Beginn des „Allegro assai“ etwas schneller (84) und sinkt dann im weiteren Verlauf auf deutlich breitere 65 ab und bleibt im Grundtempo dort weiterhin (auch wenn es sich zu „und der Cherub steht vor Gott“ noch mal auf 80 aufschwingt).
Ist das nun wichtig oder nur eine Frage des Ablesens einer Zahl am Metronom? Aber anders „zurückgefragt“: Ist es nicht spannend ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens (wie es mir in diesem Fall ging) anhand einer konkreten Feststellung zu einer Erkenntnis zu bringen? Für mich setzt sich die Anfangsenergie des Solos der Kontrabässe und dann des Bariton im weiteren Verlauf des Satzes nicht ganz fort - und daran ist das Tempo bestimmt beteiligt! Natürlich: Der komplexe Satz ist auch wegen der mannigfachen Tempo-Änderungen extrem schwer geschlossen und überzeugend zu gestalten! Gielen beachtet aber sorgsam Artikulation und Dynamik (z.B. im Bariton-Rezitativ bei „freudenvollere“ den zuerst Piano-, dann Forte-Orchester“Schlag“).
Die „Alla marcia“ Passage (Allegro assai vivace) liegt mit knapp 70 deutlich unter den gefragten 84 Beethovens. Das nimmt leider von dem Getriebenen dieses Fugato. Das „Freude schöner Götterfunke“ im Chor nach diesen Fugato ist wieder in den 65 anstelle von anscheinend gewünschten 84 (Beethoven hat hier keine neuen Tempo-Vermerk nach dem „alla marchia“ gemacht), was etwas die Ekstase schwächt. Der Relation entsprechend ist auch das Unisono „Seid umschlungen“ (Andante maestoso) nicht 72, sondern 60-62, was etwas vom Zug und Sog (einsetzende fließende Streicherfiguren) dieser Passage nimmt. Das „Ihr stürzt nieder“ ist dazu passend 50 anstelle 60. Diese Stelle hat eine große Wirkung bei Gielen. Aber im großen „Seid umschlungen“ (Allegro energico, sempre ben marcato) mit dem Chor-Fugato gibt es einen harten Tempobruch. Was vorher (zu langsam) in der Relation zueinander gepasst hat, erfährt nun eine Rückung ins schneller als bei Beethoven Angegebene (90 anstelle der notierten 84). So büßt die fugierte Stelle mit der durch den 6/4 Takt triolisch wirkenden Streicher-Begleitung etwas von ihrer Feierlichkeit ein und das abschließende „über'm Sternenzelt muss(!) ein lieber Vater wohnen“ von seiner fragenden(!) Intensität. Und das erste und das zweite „seid umschlungen“ sind sich nun leider (zu) ähnlich… Ebenso ist das Tempo (welches ja auch hilft den Charakter zu unterscheiden) dem nachfolgenden „Freude, Tochter aus Elysium“ zu ähnlich. Das Abschluss-Prestissimo (bei Beethoven 132) kann mit den ausgeführten 140 nicht ganz die farbige Pracht entfalten.
Das soll keine „Detail-Kritisiererei“ sein, sondern es sind meine Gedanken zur Relation der Tempi untereinander und bezüglich der Aussage der Musik. Und es soll die UNMÖGLICHKEIT einer „perfekten“ Aufführung zeigen. Keinesfalls will ich die vorliegende Aufnahme klein oder schlecht reden.
Wer schon mal selbst vor einem Orchester gestanden ist, in einem Ensemble gespielt hat oder als engagierter Zuhörer Proben besucht hat, ahnt, dass der Anspruch einer absolut detailgetreuen Aufführung von Beethovens Finalsatz der Neunten kaum zu realisieren ist. Der Geist des Werks macht sich aber nicht an diesen Details fest und durchweht auch die Interpretation Gielens!
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„Rezensieren“ ?
„Insgesamt gelingt die Neunte durchaus überzeugend…“ So eine Aussage ist wie alle „Rezension“ letztlich eitel, Schall und Rauch. Entscheidend ist, was das Werk, der Dirigent das Orchester Sänger usw. wollen und tun, dann das Glück der Stunde, die Tontechniker - wenn es sich um Aufnahmen handelt. Und das war erst der erste Kreis…
Dann kommt der Hörer in seiner momentanen Befindlichkeit, seinen Vorstellungen und seinen Erwartungen. Zudem ist beim „Reproduzieren“ auch die Abspielmöglichkeit wichtig. Nicht auf jedem Gerät ist das hörbar, was auf der Aufnahme drauf ist …
Warum ich dann eine Rezension schreibe? Aus Lust am Austausch mit dem Werk, dann dem Dirigenten und dem Orchester – und nicht zuletzt mit allen Menschen, die in Liebe, Eifer und Suche der Musik und der Möglichkeit, sein Menschsein dadurch zu erweitern und zu entdecken, verbunden sind! Somit ist das Wort „Rezension“ im Sinne von Fachwissen vorschieben und Bewerten (also sein eigenen Hören als Maßstab zu nehmen) nicht gut … Ich möchte mich eigentlich über das Gehörte unterhalten, austauschen, das Erleben und die Erkenntnisse von mir und von anderen(!) erfahren, mitteilen und teilen …
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Noch etwas zum Zusammenhang „Tempi - Instrumente“
Wer meine Besprechung mit Gedanken bis hierher gelesen hat, wird vielleicht zu dem Schluss gekommen sein, dass ich eine sklavische Übernahme von vorgegebenen Tempi für das Wichtigste beim Musizieren halte - ist aber weit gefehlt. Aber im Fall Beethoven, welcher sozusagen die erste Beat-Musik geschrieben hat, ist Rhythmus und auch Tempo ein großer Teil der Wesensgestalt der Themen und der Gesamtaussagen der Sinfonien.
Vielleicht ist aber tatsächlich die exakte Übernahme der Metronom-Angaben nur dann wirklich sinnvoll, wenn zumindest gedanklich gleichzeitig eine intensive Auseinandersetzung mit den Instrumenten und der Spielpraxis zu Beethovens Zeit stattfindet. Zwei Beispiele anhand der Pauke:
1. Im Molto vivace des Scherzos der Neunten ab Takt 264 kann die schnelle Schlagfolge auf einer modernen Pauke (die ja ganz auf Klarheit und somit Tragfähigkeit der Töne und Klangfülle ausgelegt ist) den Rhythmus (hier: „taaa-ta-taa-taaa-ta-taa“) zum lauten, das restliche Orchester übertönenden orgelpunktartigen Dauerdröhnen verunklaren, anstelle allein das Rhythmische perkussiv und farbig intensiv zu unterstützen. Letzteres ist auf einer „historischen“ klanglich kleiner dimensionierten Pauke mit alter Kalbfell- oder Ziegenfell-Bespannung viel leichter umzusetzen. In der Neunten mit Gielen ist das „Pauken-Problem“ (im Gegensatz zu manch anderen Sinfonien des Zyklus) mit einem eher hellen klaren Klang gut gelöst.
2. In der Fünften gibt es die oben schon erwähnte pianissimo-Stelle im dritten Satz, an der die Pauke am besten das Ganze perkussiv, klar und farbig unterstützt. Der nicht sehr grundtönige Klang des Naturfells mit dem deutlicheren Schlag-Geräusch und Einschwingvorgang leistet das von selbst. Auf einem modernen Instrument ist stark auf den Schlagpunkt Richtung Kesselrand zu achten, da sonst die rhythmische Klarheit und die Farbigkeit verloren gehen.
Ich habe lange nachgespürt, was es ist, das mich beim diesem Zyklus in der Gänze so unbefriedigt zurück lässt: Falsche Erwartungen? Der Klang der deutschen Holzbläser (besonders der Oboe), die eher „dicke Pauke“ an manchen Stellen, das wenig Luftige und Helle im Klang, was vielleicht auch am Aufnahmeraum liegen mag? Oder ist es eher das etwas Starre im Dirigat, ein Quäntchen Reserviertheit Gielens? Oder die Aufnahmetechnik, die konsequent die „mittlere Entfernung“ einhält und in der Akustik des Raums das Menschliche des Musizierens (hörbare Bogengeräusche, Einschwingvorgang Bläser) etwas unterbelichtet? Ich weiß es (noch) nicht – vielleicht von allem etwas . . .
FAZIT:
Michael Gielens Einspielung der Beethoven Sinfonien mit dem SWR Orchester ist eine relativ neue, sehr gut aufgenommene digitale Gesamtaufnahme, die sehr viel von der Partitur hörbar macht und alle Wiederholungen befolgt. In vielen deutschen Schulen war mal Karajans Beethoven-Zyklus der frühen 60ziger Jahre Standard – sozusagen DER „Klassiker“ für DEN „Klassiker“. Heut zu Tage ist da wohl nichts mehr „Standard“. Michael Gielen könnte, zumindest was das analytische Verständnis der Sinfonien Beethovens angeht, Referenz für Schulen sein. Jedoch Lehrer, die ihre Schüler emotional berühren, aufschrecken oder begeistern, oder im Detail bestimmtes aufzeigen möchten, sollten sich den Zyklus aus anderen Einzelaufnahmen zusammenstellen …
Erwarten Sie sich zu Recht bei Gielen Übersicht und klare Gestaltung der Sinfonien mit sehr gutem Orchesterspiel. Erwarten Sie sich aber keine Ausdruckswut und auch nicht – so wie ich das tat – die weitgehende Einhaltung von Beethovens Metronom-Angaben. Diesbezüglich führt dieser erste Satz Gielens hier doch etwas in die Irre:
„Dass ich Tempo„vorschriften“ vergessen habe, stimmt nicht – ich habe sie befolgt“ …
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Ich als Musik-Enthusiast würde gern verstehen, weshalb Gielen an den entsprechenden Stellen von Beethovens Angaben so stark abgewichen ist . . .