faszinierende Neugeburt!
43 Jahre nach seiner Einspielung der Ersten Sinfonie Bruckners in der Linzer Fassung liegt von Claudio Abbado nun ein Livemitschnitt der Wiener Fassung (herausgegeben von Günter Brosche) vor.
Abbados Musizieren hat sich in diesem langen Zeitraum seines Lebens (es handelt sich ja um eine seiner letzten Einspielungen von seinem Tod am 20.Jan.2014) stark verändert. Plakativ aber nicht ganz falsch könnte man sagen: Abbado gab alles jugendliche Feuer in Bruckners erste Fassung (Zitat: „da hab' i mi ka Katz g'schert und komponiert, wie i wolln hab'!“), in der späten Fassung dann alle Erfahrung und transzendentale Weisheit. Breitere Tempi, ein konstanterer Fluss der Musik, das Vorausschauende und Nachhörende, der große Bogen: Das alles passt wunderbar zu der Rückschau des alten Bruckners auf seinen offiziellen sinfonischen Erstling (bei dessen Schreiben er schon über 40 war, aber dennoch am Anfang seiner wahren Komponisten-Karriere stand).
Folglich möchte ich dem (sehr oberflächlichen, wenig informativen) Text der „accentus musik“ CD widersprechen. Dort steht:
„Die ganze Radikalität des Werkes legte Abbado in etlichen faszinierenden Steigerungen und plötzlichen Brüchen offen …“ DAS mag im ersten und letzten Satz für die erste Einspielung von 1969 zutreffen, in der neuen von 2012 ist es (angelehnt an den Titel des Filmportrait Abbados von 2003) tatsächlich mehr das „Hören der Stille“ oder das Hören vor, hinter und über die Harmonien hinaus. Das ist für mich auch das Faszinierende dieser Aufführung. Die erwähnte „Radikalität“ steckt in der späten Fassung selbst. War es in der Erstfassung das Feuer, das phantastisch Wechselnde, die Vielzahl an Einfällen, so ist es in der späten Fassung das Beleuchten in neuen „Klangräumen“ und das Visionäre - z.B. im Kopfsatz ab Buchstabe V (thematische Verarbeitung in den Hörnern im Takt 269 bis 274!) (9:30) und in der Final-Coda (dort leider von Abbado etwas die schauerlichen „Katastrophen-Schmirgelpapier-Reibeisen-Harmonien“ verschenkt). Der Hauch von Schumann oder Tschaikowsky (öfters!) mancher Stellen der Linzer Fassung ist hier eindeutig ganz und gar Bruckner gewichen. Der Akkord (2:50) im Takt 89 des Finales oder mancher Harmonieverlauf des Schlusses ab Buchstabe X (ab 14:42) könnten auch der Neunten entstammen…
Abbado erlaubt sich durchaus kleine (anscheinend eigene) Abänderungen der Partitur: Z.B. steht im Kopfsatz von Takt 80 bis 93 (Buchstabe F) (2:36) ein „poco a poco cresc“. Doch Abbado baut im Takt 86 nochmals ein „subito mp mit Crescendo“ ein (ebenso in den letzten Takten dieses Satzes) und hebt in dieser gesamten Stelle die Holzbläser deutlich hervor. In den vier Takten (ab Takt 171) (6:22) von Buchstabe Q sind die ff-Akzente (Jochum sagte mal, dass das bei Bruckner im Blech „marcato“ seien) so schwach, dass sie kaum hörbar sind. Manches davon mag natürlich durch den Tonmeister verursacht sein – immerhin entsteht eine CD durch viele Ohren… Die zwei Beispiele sind aber bezeichnend dafür, dass das Bestechende nicht im Äußeren (z.B. abrupte Dynamik, Akzente, Tempo), sondern in den kleinen harmonischen Veränderungen der späten Fassung (Bruckner schrieb ja bereits an seiner Neunten!), den neuen Vorbereitungen, Übergängen, der farbigeren Instrumentierung steckt. Abbado findet die meditativen Stellen, lässt hie und da die Zeit stillstehen (z.B. Takt 20 bis 31 im zweiten Satz) (1:45) und macht „stille Abgründe“ hörbar – z.B. im zweiten Satz, Buchstabe E (7:37) und später die deutlich liegende Horn-Oktave Takt 128, 290 (8:49) in der „Harmonie“ mit den Streichern). Unglaublich ist im Finale Buchstabe H bis M (6:00-9:35): Wie Bruckner hier einen „Themensplitter“ (finde ich hier treffender als das Wort „Motiv“) über Minuten hinweg transformiert, ist atmen beraubend – auch die Umsetzung in dieser Aufführung. Da steckt ebenso etwas vom Mysterium des Finales der Neunten drin wie von der Leere und Verlassenheit des zweiten Satzes der Fünften.
Das Lucerne Festival Orchestra spielt makellos und „hört mit“ Abbado. Die Aufnahmetechnik unterstützt das sehr gut in einem klaren ruhigen Klang mit manchmal ein wenig durch die Einbeziehung des Raums eingeebneter Dynamik. Im Finale hätte ich mir am Ende doch etwas mehr Biss im Klang gewünscht (vielleicht etwas weniger „Entfernung“: Tuttis gehen manchmal mehr in den Raum als direkt hörbar ins Mikro) und gern gehört, dass dieses Orchester auch einen vollen strahlend großen Tuttiklang erzeugen kann. Angesichts des vielen Feinen, was sonst zu hören ist, lässt sich das aber verschmerzen.
Wer nun die Erste von 1969 mit Abbado hat: Hier hören sie ein völlig anderes Dirigat und letztlich auch ein anderes Stück Musik. In der Wand / WDR Aufnahme der „Wiener Fassung“ ist von dem Besonderen der neuen Fassung nicht so viel zu hören wie bei Abbado.
Drei Dinge freuen mich an dieser Aufnahme besonders: Abbado findet ein wunderbares Tempo und Charakter für das Scherzo (im Gegensatz zu 1969), die Verdurung des Themas im Finale (Buchstabe R) (11:45) tönt im Blech endlich mal nicht wie die Feuerwehr und die „Wiener Fassung“ bei ihm klingt absolut überzeugend! Es ist für mich ein großes Geschenk, diese Neufassung der Ersten fortan nicht mehr schmerzlich mit dem nicht vollendeten Finale der Neunten in Verbindung bringen zu müssen. Diese Aufführung zeigt die Wiener Fassung als ein eigenes Stück!
Das Beste im Textheft ist übrigens dieses Zitat:
„Entscheidend ist nicht, was ein Dirigent in den Proben erzählt, sondern ob er im Konzert seine Seele öffnen kann.“ Wolfram Christ (Mitglied des Lucerne Festival Orchestra)