Überzeugende Dokumentation über individuell gestaltete Gegenwelten
Den Regisseur Paul Poet kannte ich von der Schlingensief-Doku über dessen Abschiebe-Container-Projekt in Wien sowie als Rezensent eines dortigen Kultur-Szene-Magazins (Skug), ich war deshalb sehr gespannt auf EMPIRE ME, den ich dann allerdings zuerst auch im Kino sah, bevor ich die DVD kaufte.
Natürlich kann eine Dokumentation wie EMPIRE ME nicht jedem gefallen, denn der Film wendet sich an ein eher alternatives Nischenpublikum bzw. an Liebhaber von Dokumentationen über eher obskure Themen. Ich kann mir vorstellen, das viele den Film schon deshalb nicht mögen werden, weil sie mit den dort porträtierten Personen Probleme haben bzw. ihren Lebensformen gegenüber Abneigungen empfinden. Doch ich finde, man sollte sich als jemand, der über den Film urteilt, die Frage stellen, ob die künstlerische/filmische Umsetzung dem Gegenstand gerecht wird, ob das Konzept trägt und ob ästhetisch eine stringente, überzeugende oder gar eigenwillige Linie durchgehalten wird - auch wenn einen das Thema nicht anspricht.
Ich hingegen finde es recht reizvoll, mit der Idee (und eben auch deren praktischer Umsetzung) von autonomen Kleinstaaten konfrontiert zu werden. Das Thema war mir völlig neu und nicht aus Mainstream-Medien vertraut. Als ich den Film erstmalig in einer Nachmittagsvorstellung mit 15 Zuschauern in einem Filmkunst-Programmkino sah, dessen Klientel sich oft ähnlichen alternativen Lebensformen verhaftet fühlt, wie es einige der in EMPIRE ME porträtierten Aussteiger tun, war ich durchaus beeindruckt davon, wie sich Menschen 'ihre eigene Welt bauen', wie es im Flyer zum Film hieß.
Fakt ist: Die porträtierten Kleinstaaten und deren oft von Künstlern, Aussteigern, Geschäftsmännern oder selbsternannten Monarchen geführten (aber manchmal auch demokratisch selbstverwalteten) Gegengesellschaften reizen zum Widerspruch. Sicherlich wird mancher beim Betrachten von EMPIRE ME einen kleinen Teil der Dargestellten für Phantasten oder gar leicht durchgeknallte, spinnerte und verschrobene Menschen halten, doch sollte diese Meinung nie soweit führen, dass man EMPIRE ME sein originelles Thema zum Vorwurf macht.
Auch ich empfand einen Teil der in diesen Gegengesellschaften Lebenden als leicht verstrahlt und weltfremd, hoffnungslos naiv oder geradezu wundergläubig - wer mit Pflanzen bzw. Bäumen musiziert (so in einem Beispiel) kann meines Erachtens nicht ganz richtig im Kopf sein. Vielleicht denken aber auch Bäume genau so von mir und fragen sich, warum ich nicht mit ihnen musizieren will... Das halte ich zwar für unwahrscheinlich, aber wenn jemand an so etwas glauben möchte (und bereit ist, dafür viel Geld auszugeben), so frage ich mich: Warum soll man diese harmlosen Spinnereien verurteilen? Die meisten Leute hatten jedoch meinen vollen Respekt und ich konnte zumindest nachvollziehen, warum sie mit hohem persönlichen Einsatz und Arbeitseifer tun, was sie tun. Jeder soll auf seine eigene Art und Weise glücklich werden. EMPIRE ME handelt von der Durchsetzbarkeit entlegener, unerforschter oder gar abseitiger Lebensweisen, von Gesellschaften im Experimentierstadium und den Menschen, die sich in ihnen (mal permanent, mal nur für die Dauer eines Wellness-Urlaubs) bewegen - und die auf unterschiedliche Weise Kontakt zur Außenwelt dieser geschlossenen Systeme halten.
Was mich an EMPIRE ME überzeugt, ist die Umsetzung: Kein ellenlanger, wertender Kommentar, keine Anbiederung an den Gegenstand, keine aufgesetzte Ironie, keine Verurteilungen. Um Perspektive muss man sich als Zuschauer selbst bemühen - warum auch nicht? Und das man zu jedem der Projekte anders stehen kann, ist da von ganz besonderem Reiz.
Ich finde die sechs Gegengesellschaften klug ausgewählt, da sie in ihren Zielen und Absichten völlig konträr sind. Da gibt es die ehemalige Fliegerabwehrplattform Sealand mitten im Meer (so was wie eine Mini-Bohrinsel), mit der man Geschäfte macht, eine Freikörperkultur-Sekte, die eine Art kuscheligen Gruppensex mit Streicheleinheiten für Esoteriker im Programm hat (meist Frauen jenseits der Wechseljahre und Männer mit Halbglatzen - für mich das am schwersten zu ertragende Projekt), solche, die ihre Behausungen nach eigenwilligen architektonischen Prinzipien selber bauen oder andere, die eigenes Geld oder Briefmarken herstellen.
Nebst einer Künstlergruppe, die mit selbstgebauten Flößen Europas Küsten lang schifft (was für sehr reizvolle Bilder sorgt, als man nächtens in Venedig einfährt) wird am Beispiel von Christiania in Dänemark auch gezeigt, wie solche Modelle außer Kontrolle geraten können. Neben der Produktion zweitklassiger Kunst blüht dort mittlerweile der Handel mit harten Drogen, man liefert sich Schlachten mit der Polizei und versucht, als gealterter Revolutionär zwischen Realität und Utopie die Reste eines Lebensentwurfes zu bewahren, der einmal von kreativem Widerstand dem Staat gegenüber zeugte, jetzt allerdings nur noch für links-autonome Folklore mit alternativem Dekor sorgt.
Insofern überzeugt mich auch die Reihung, denn der Film endet mit dem (so finde ich) schönsten Kunst-Projekt: Den schwimmenden Inseln. Aber ich bin sicher, jeder Zuschauer wird hier seinen ganz persönlichen Favoriten finden.
Jede der Gegengesellschaften erhält ein eigenes Kapitel im Film mit einer speziell gestalteten Einführung als einer Art visueller Überschrift, die sich von der Machart der Beiträge selbst durch vermehrten Einsatz von Bildtricksereien unterscheidet. Hier zeigt man, dass man in Sachen 'Video-Bearbeitungsprogramm-Einsatz' seine Hausaufgaben gemacht hat und 'up to date' ist , die Beiträge selbst aber damit nicht überladen will. Die Kamera ist oft nah dabei, man bekommt ein Gespür für die Menschen vor Ort und ihre Motive, aber auch für Selbsttäuschungen und clevere Inszenierungen. Hauptsache man ist autonom und bunt und irgendwie anders als gewohnte, staatliche Ordnungen.
Dass diese Utopien auch zu Dystopien geraten können, das Risiko besteht immer. Auch wenn man Sinn, Zweck und Aufgaben dieser Staatsformen nicht teilt, imponiert mir der Glaube der Macher und ihrer Anhänger, etwas ändern zu können und die Beharrlichkeit, mit der hier große Projekte umgesetzt werden.
Der Zugang des Filmes ein poetischer (weshalb der Regisseur wohl auch den Namen Paul Poet für sich wählte); er ist wirkungsvoll fotografiert (ohne auf schöne Bilder im geschmäcklerischen Sinn zu setzen) und die Herangehensweise zeugt von Respekt dem Sujet gegenüber. Gerade die Kunst, alles offen zu halten und keine Meinung vorzugeben, spricht für den Film.
Nun noch zum Bonusmaterial. Ich fand es ehrlich gesagt etwas mau, was vielleicht daran lag, dass ich - wie gesagt - den Film zuerst im Kino sah und mir von der DVD mehr zusätzlichen "Mehrwert" versprach (vielleicht zuviel?).
So wurde z.B. eine Gruppe von Aktivisten im Bonusmaterial angekündigt, die im fertigen Film dem Schnitt zum Opfer fiel (oder vielleicht ja auch dem unbefriedigenden gedrehten Material, wer weiß das schon genau) - dieser Teil des Bonusmaterials war für mich viel zu kurz und wenig erhellend.
Dort, wo das Bonusmaterial die im Film dargestellten Projekte erweitert, ist es hingegen so, dass ich nur in einem Fall das Gefühl hatte, tatsächlich einen Aspekt beleuchtet zu finden, der im Film selbst (vielleicht weil er dem Regisseur nicht so wichtig war) nicht zu sehen war - gemeint ist ein Blick auf die Organisation des Rettungswesens in einem der Projekte; Personen, die im Krankentransport arbeiten, werden gezeigt.
Die Interviews mit Paul Poet sind okay, es handelt sich um Übernahmen anderer Quellen, sie wurden wohl nicht extra für die DVD angefertigt, wie mir schien. Ich habe allerdings (ich hoffe, mein Gedächtnis trügt mich nicht) im Kopf, dass ich damals zum Bundesfilmstart bessere Interviews im TV sah, die nicht auf der DVD landeten. Da hätte man noch etwas drauflegen können. Einen Audiokommentar hätte ich mir ebenfalls gewünscht, der fehlt aber leider (aber Paul Poet ist nun mal nicht Uwe Boll, dessen Filme man nur deswegen kaufen sollte). Aber vielleicht hätte ein Audiokommentar auch der künstlerischen Absicht des Regisseurs, vieles offen zu halten, widersprochen und er hätte das Gefühl gehabt, sich darüber zu sehr in den Vordergrund zu stellen, während er sich im Film ja sehr zurück nimmt. Ich kann das nicht abschließend beurteilen, finde das Fehlen eines solchen Kommentars aber trotzdem schade (obwohl der Regisseur natürlich nicht verpflichtet ist, denn Film unter Bergen von Zusatzmaterial zu begraben, das stimmt natürlich auch). Aber meinetwegen hätte der ganze Film auch fünf Stunden gehen können...
Trotz meiner Skepsis einigen der dargestellten Staats- und Lebensformen gegenüber, hat mich die künstlerische Umsetzung 100%-ig überzeugt - da sollen meine Mäkeleien wegen des meines Erachtens eher kargen Bonusmaterials nicht ins Gewicht fallen.
Fazit: Ebenso eigenwillige wie überzeugende Dokumentation des Regisseurs Paul Poet über individuell gestaltete Gegenwelten in Form autonomer Kleinstaaten. Ein Film, der sowohl Anteilnahme weckt, wie auch Widerspruch herausfordert. Mit Respekt dem Sujet gegenüber umgesetzt, porträtiert Paul Poet diese sechs sehr unterschiedlichen Gegengesellschaften, ohne dem Zuschauer eine Meinung vorzugeben. Zudem ist der Film überzeugend gefilmt, die Kamera ist nah dran und man hat als Zuschauer schnell das Gefühl, mit vor Ort zu sein. Kaufempfehlung!