Schöpferische Sternstunde - London am 22. Mai 1950 ...
... am Pult in der Royal Albert Hall steht ein großer, hagerer Mann, vor ihm das Philharmonia Orchestra. Nach dem Meistersinger-Vorspiel und dem Siegfried-Idyll, die als verloren gelten, setzt diese CD ein. Sie dokumentiert den folgenden Teil eines außergewöhnlichen Konzertabends, bei dem die Jahrhundertstimme Kirsten Flagstad neben den Jahrhundertdirigenten Wilhelm Furtwängler tritt und beide zur Weltpremiere von Richard Strauss' "Vier letzten Liedern" ansetzen. (Fälschlicherweise oft als Aufzeichnung der Generalprobe bezeichnet!)
Die Lieder sind sehr lyrisch und mit einer unbeschreiblich melodischen Schönheit interpretiert. Es ist schlichtweg atemberaubend, wie sehr Flagstads Ausnahmestimme mit dem von Furtwängler geführten Orchester harmoniert. Die Klangqualität ist das einzige Problem dieses Mitschnitts: Die abgenutzten Azetat-Platten waren nach Aussage des Labels "schrecklich abgenutzt und zerkratzt". Dies führt zu einem starken Knistern und Rauschen. Dennoch ist die vorliegende Veröffentlichung keinesfalls verzichtbar. Trotz des akustischen Defizits sind die verschiedenen Orchesterstimmen zu hören. Auch Flagstads Stimme kommt ergreifend zur Geltung. Die Güte dieses Uraufführungsmitschnitts mißt sich letztlich an dem, was von einer historischen Aufnahme noch erhalten ist, und das fesselt ausnahmslos - auch mit der genannten, unschönen Geräuschkulisse.
In besserer Klangqualität folgen das Vorspiel zu Tristan und Isolde sowie der Liebestod, ebenfalls von Flagstad gesungen. Beide Konzertstücke zählten fest zu Furtwänglers Repertoire und gehörten sicherlich auch zu seinen Paradestücken. Besonderheit bei dieser Aufnahme ist allerdings die gesangliche Begleitung im Liebestod. Furtwängler gestaltet ein mitreißendes Vorspiel, das unaufhörlich auf einen brillanten Höhepunkt zusteuert. Dem schließt sich Flagstads ergreifend dargebotener 'Liebestod' an. Erneut verbinden Sängerin und Dirigent/Orchester sich zu einer hochromantischen Einheit. Hier zeigt sich eine entrückte, ekstatische Isolde, die vom Orchester voller Wärme aus dem Leben getragen wird - "ertrinken, versinken, unbewusst - höchste Lust!"
Klanglich auf ähnlichem Niveau wie die Tristan-Stücke präsentiert sich Siegfrieds Rheinfahrt. Hier läßt Furtwängler die Pauken wie Artilleriefeuer trommeln. Das Stück kommt als Feuerwerk daher, dessen wundervoll melodische Passagen dennoch voll zu Geltung kommen. An manchen Stellen konzentriert Furtwängler die Spannung derart, daß sie sich danach explosionsartig entladen muß. Es entsteht eine "ruppige" und zugleich geladene Rheinfahrt, die eine interessante Alternative zu Furtwänglers "klassischer" Aufzeichnung des Stückes mit den Wiener Philharmonikern von 1954 bietet.
Am Ende des Abends darf die Norwegerin Flagstad nochmals in eine ihrer Paraderollen schlüpfen: Sie singt Brünnhilde im konzertanten Finale der Götterdämmerung. Und ihre Stimme erfüllt den Moment so präsent und aufgewühlt mit Seele, daß dem Hörer manchmal der Atem stockt. Dazu leitet Furtwängler das Orchester sicher und kraftvoll durch das Stück.
FAZIT
Musikalische Bewertung:
Strauss-Lieder: 5/5 Sterne
Wagner-Stücke: 5/5 Sterne
Klangbild:
Strauss-Lieder: 3/5 Sterne
Wagner-Stücke: 4/5 Sterne
Die Klangqualität ist zweigeteilt: Der erste Teil des Konzertmitschnitts, die Strauss-Lieder, hat eindeutig mehr gelitten als der folgende Wagner-Teil. Generell steht diese Veröffentlichung - meiner Meinung nach die beste dieses Konzertabends - manch anderer, älterer klanglich um einiges nach. ABER es ist nun mal eine historische Aufnahme, deren Erscheinungsbild noch immer im Rahmen des gut Erträglichen liegt und deren künstlerischer Wert unbestreitbar herausragend ist.
(Das Begleitheft ist in englischer, deutscher und französischer Sprache.)