Außen pfui, innen hui!
The Who Essential
3 CD, Spectrum/Universal, Gesamtlaufzeit: 207 Minuten
Man hat es nicht leicht als Who-Fan. Wirklich alle ihrer Songs zu sammeln ist aufgrund immer neuer Abmischungen ein Ding der Unmöglichkeit, zahlreiche Compilations, die je nach Land auch noch unterschiedlich zusammengestellt sind, komplettieren das Chaos. Und dann wirft uns so ein Budget-Label wie Spectrum zwischendurch noch ein Dreier-Set vor die Füße, dessen purer Anblick nicht gerade zum Kauf einlädt.
Aufmachung:
OK, Leute, was soll das hier sein? ELO für Arme? Nein, denn selbst für Jeff Lynnes Glühbirnchenkapelle wäre ein solches Cover eine glatte Beleidigung. Während andere Editionen dieser Essential-Serie immerhin ein Band-Foto zeigen, lag für die Who wohl gerade keines mehr in der Schublade, oder? Ganz zu schweigen von dem ikonischen Bandschriftzug, der heutzutage offenbar nicht mehr gendergerecht zu sein scheint.
Und dann erst das rückseitige Tracklisting: Anyway, Anywhere, Anyhow? Singt Nena jetzt plötzlich Irgendwie, irgendwann, irgendwo? Unglaublich.
OK, geben wir Puls und Blutdruck noch eine Chance. Denn die inneren Werte dieses Sets sind für Who-Fans und -Sammler/innen eine wahre Fundgrube. Das Digipak-Cover lässt sich dreifach aufklappen und zeigt auf einer der Seiten die Cover der in diesem Set ausschnittsweise enthaltenen zwölf Alben, jedoch in willkürlicher Anordnung und ohne jede weitere Erläuterung. Das 2019er Album WHO fehlt, dafür finden wir Live At Leeds als 12. Cover.
Weiterhin sind im Inneren noch einmal die Tracks mit minimalen Erläuterungen gelistet. Jetzt heißt es sogar richtig Anyway, Anyhow, Anywhere (geht doch!).
Die CDs sind grafisch modern, aber trotzdem nicht unattraktiv gestaltet und mit je einem großen W, H und O verziert. Netter Einfall. Auch entdecken wir hier das altbekannte Polydor-Logo. Schön, das schafft doch irgendwie Vertrauen. Weniger schön, dass die CDs ohne weitere Schutzhülle in der Verpackung klemmen, aber das lässt sich bei diesem Preis wohl nicht anders lösen.
Musik:
Auf den beiden ersten CDs finden wir 36 Songs in beinahe chronologisch exakter Reihenfolge, CD 3 enthält 13 Live-Tracks der Band. Macht also 49 Songs der Who auf drei CDs mit knapp dreieinhalb Stunden Laufzeit. Zu diesem Preis ein echtes Schnäppchen, das ich wegen der Billiganmutung des Covers bis jetzt verschmäht habe.
CD 1 (58 Minuten)
umspannt den Zeitraum von 1965-69. Die CD beginnt auch gleich mit den drei ersten Who-Singles, aber dann fehlen auch schon einige ihrer Hits. Substitute? Nein. The Kids Are Alright? Wo denken Sie hin! Aber I’m A Boy oder Happy Jack...? Nun ist es aber gut.
Nein, The Who Essential ist eben nicht die (vermeintlich) geballte Hitladung, sondern eine auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheinende Zusammenstellung. Singles und Album-Tracks wechseln in bunter Abfolge. Nach My Generation hören wir plötzlich The Ox, der Whiskey Man ist genauso vertreten wie So Sad About Us oder Tattoo. Mit Circles ist sogar die originale B-Seite von Substitute mit drauf, bevor... ja, bevor dann mit Track 11 die erste richtige Überraschung folgt.
Denn I Can See For Miles ist hier im 1967er Single-Mix mit John Entwistles Bass-Overdub zu hören. Eine absolute Rarität, die vor dieser Veröffentlichung nur in Japan auf CD zu haben war. Wow! OK, inzwischen ist diese Version auch auf den 2021er Neuauflagen von The Who Sell Out zu finden, aber trotzdem: erwartet hatte ich das hier jetzt nicht.
Drei weitere Songs der Sell Out-LP von 1967 sind ebenfalls dabei, allesamt ohne die Radio- und Werbe-Jingles der Album-Fassung. Kurios: Armenia City In The Sky ist nur Mono, die beiden anderen LP-Tracks sind dagegen Stereo. Mit drei Titeln des Doppel-Albums Tommy endet diese CD.
CD 2 (76 Minuten)
enthält zunächst mit Pinball Wizard den letzten Tommy-Track, danach finden wir mit Here For More die Single-Rückseite von The Seeker. Schön, diesen Song aus Roger Daltreys Feder auch noch mal zu hören. Weiter geht’s mit Musik aus den Alben Who’s Next, Quadrophenia, The Who By Numbers usw. Zwischendurch entdecken wir mit Pure And Easy ein wirklich hübsches Kleinod Pete Townshends, das er für sein im Endeffekt doch nicht realisiertes Lifehouse-Projekt schrieb. I’m One und The Real Me sind wieder in den 1973er Original-Mixen enthalten, 5:15 ist der Single-Edit von 4:21 Minuten.
Mit Who Are You folgt dann der nächste Hammer: hierbei handelt es sich nicht um den originalen Single-Edit, sondern um eine neu zusammengeschnippelte Kurzfassung, die in dieser Form anderweitig noch nicht zu haben war. Denn plötzlich ist Rogers böses F-Wort (das so ähnlich klingt wie FOG, aber doch anders geschrieben wird) bei 4:28 Minuten der Schere zum Opfer gefallen, während es auf den bisherigen so genannten Single-Fassungen (richtig, hiervon gibt es auch wieder mehrere) immer zu hören war. Ganz jugendfrei ist diese Fassung jedoch nicht, denn der Fluch bei 2:15 Minuten ist uns erhalten geblieben.
So, nun geht es fix: nach Trick Of The Light von der LP Who Are You im 1978er Original-Mix ist You Better You Bet in der vier Minuten-Kurzfassung zu hören. Dann kommt Eminence Front, das gefühlt eh überall mit drauf ist und nach It’s Not Enough von der 2006er LP Endless Wire gibt es zum Schluss noch Old Red Wine von der Greatest Hits-Zusammenstellung Then And Now aus dem Jahr 2004.
CD 3 (73 Minuten)
Und nun, Ladies and Gentlemen, gibt es die geballte Live-Ladung der Who. 13 Titel, separat zusammengefügt, sprich: es ist kein zusammenhängendes Konzert. Die Songs sind bekannt, die Gigs ebenfalls. Wir entdecken Tracks von Live At Leeds, dann das Isle Of Wight Festival, selbst Woodstock fehlt nicht.
Won’t Get Fooled Again aus den Shepperton Studios gab es schon im Film The Kids Are Alright, klingt hier allerdings einen Tick frischer. Magic Bus ist wie Amazing Journey/Sparks und Summertime Blues nicht im originalen Live At Leeds-Mix von 1970, sondern von der Jubiläums-Ausgabe von 1995 zu hören. Hinter den Live Bootleg-Aufnahmen I’m Free und Go To The Mirror verbergen sich die Versionen, die 2013 der Luxus-Box von Tommy beilagen (wobei I’m Free nicht von 1969 aus Kanada, sondern vom 1976er Swansea-Gig stammt).
Ganz toll gefällt mir der auf fünfeinhalb Minuten gestreckte Young Man Blues, während Relay mit fast acht Minuten deutlich zu lang geraten ist und irgendwann nervt. Insgesamt ist auch diese CD gut zusammengestellt und man kann sie in einem Rutsch durchhören.
Klang:
Durchweg OK. Wie in den letzten über 40 Jahren sorgte auch diesmal Jon Astley für den guten Sound der Who. Dabei sind auch diese CDs wie im Grunde alle heutigen Produktionen auf möglichst hohe Lautstärke gepolt. Bei durchschnittlich 95-98 dB bleibt die Dynamik zwar auf der Strecke, aber wir hören ja hier nicht Beethovens Neunte.
Tracks 1-7, 10-12 und 14 auf CD 1 sind Mono, der Rest Stereo. Die älteren Sachen sind Krach wie immer (aber die frühen Who klingen nun mal so), die neueren Songs absolut gut. Bei den Live-Sachen gibt es hier und da minimale Abstriche, aber vier Sterne sind angemessen.
Fazit:
Trotz anfänglicher Skepsis bin ich inzwischen restlos begeistert von dieser Produktion und vergebe guten Gewissens die fünf Sterne. Nicht ohne einen abschließenden Hinweis: wer absoluter Who-Neuling ist, sollte sich vielleicht lieber eine ihrer Zusammenstellungen wie Then And Now oder The Who Hits 50! zulegen. Die anderen können bei The Who Essential eigentlich nichts falsch machen.