Vergangenheit und Gegenwart meisterhaft verwoben
"Am Himmel die Flüsse" ist ein eindrucksvoller Roman von Elif Shafak, der erneut ihre herausragende Fähigkeit unter Beweis stellt, historische und gegenwärtige Ereignisse miteinander zu verweben und dabei komplexe menschliche Schicksale zu erzählen. Der Roman greift tief in die Geschichte und Kultur der Eziden ein und beleuchtet zugleich die Auswirkungen moderner politischer Entscheidungen auf traditionelle Gemeinschaften.
Die Geschichte beginnt mit der neun Jahre alten Narin, deren Heimatdorf am Tigris von einem Dammbauprojekt der türkischen Regierung bedroht ist. Dies setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, die Narin und ihre Großmutter auf eine Reise ins heilige Lalisch-Tal führt, um die Taufe des Mädchens in einem ungestörten Umfeld zu ermöglichen. Auf dieser Reise stößt Narin auf das Grab eines gewissen Arthur, der einst in den Elendsvierteln des viktorianischen Londons lebte. Die Figur Arthurs, der „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, fügt der Erzählung eine faszinierende historische Dimension hinzu.
Shafak meistert es, die Vergangenheit und Gegenwart zu einem fließenden Narrativ zu verweben. Durch Rückblenden und Erzählungen aus verschiedenen Perspektiven entfaltet sich die Geschichte von Arthur und seiner Reise in den Nahen Osten. Die Parallelen zwischen seiner und Narins Vertreibung sind subtil und tiefgründig gestaltet, was den Leser zum Nachdenken über die wiederkehrenden Muster der menschlichen Geschichte anregt.
Ein zentrales Thema des Romans ist die Vertreibung und der Verlust von Heimat. Shafak zeigt eindrucksvoll, wie diese Erfahrungen in verschiedenen Zeiten und Kulturen immer wieder auftreten. Narins Geschichte repräsentiert die Gegenwart, während Arthurs Erlebnisse die Vergangenheit reflektieren. Beide Figuren müssen sich mit der Zerstörung ihres Zuhauses und der Suche nach einem neuen Ort des Friedens auseinandersetzen.
Ein weiteres starkes Motiv ist die Macht der Erinnerung und der Geschichte. Die Gräber von Arthur und Leila, Narins Ururgroßmutter, sind symbolische Ankerpunkte, die die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen. Durch diese Erinnerungsorte wird deutlich, wie die Geschichten unserer Vorfahren unsere eigenen Lebenswege beeinflussen und prägen.
Die Charaktere sind tiefgründig und vielschichtig dargestellt. Narin ist eine starke und mutige Protagonistin, deren kindliche Unschuld und Neugier sie durch die Herausforderungen ihrer Reise führen. Ihre Großmutter verkörpert Weisheit und Entschlossenheit, während Arthurs Geschichte von Abenteuerlust und Tragik geprägt ist.
Elif Shafaks Schreibstil ist poetisch und detailreich. Sie schafft es, die Leser mit lebendigen Beschreibungen und emotionalen Szenen in den Bann zu ziehen. Ihre Sprache ist zugleich kraftvoll und sanft, was den Roman zu einem literarischen Genuss macht. Die Wechsel zwischen den Erzählzeiten und -perspektiven sind fließend und meisterhaft umgesetzt, was dem Roman eine besondere Dynamik verleiht.
"Am Himmel die Flüsse" ist ein bewegender und fesselnder Roman, der die Leser auf eine Reise durch die Zeit und über Kontinente hinweg mitnimmt. Elif Shafak gelingt es, historische Ereignisse und persönliche Schicksale so miteinander zu verweben, dass eine tiefgründige und zeitlose Erzählung entsteht. Der Roman ist nicht nur eine Hommage an die Kultur und Geschichte der Eziden, sondern auch ein kraftvolles Plädoyer für Menschlichkeit und das Erinnern an die Vergangenheit. Für Leser, die sich für historische Romane interessieren und die Kunst schätzen, Geschichten von Generationen und Kulturen zu erzählen, ist "Am Himmel die Flüsse" ein absolutes Muss. Elif Shafak hat erneut bewiesen, dass sie zu den großen Erzählern unserer Zeit gehört.