Vier Geschichten und ein mythischer Fels
Anna Hope zentriert die vier Geschichten ihres aktuellen Romans um einen mythisch aufgeladenen Fels an der Pazifikküste Mexikos herum. Ausgangspunkt ist die Geschichte einer nicht näher benannten Schriftstellerin, die mit ihrer vierjährigen Tochter und dem fremdgehenden Ehemann im Frühjahr 2020 aus Großbritannien nach Mexiko reist, um sich im Rahmen einer Pilgerreise für die Geburt ihrer Tochter zu bedanken. Denn erst nach einem Ritual der indigenen Bevölkerung wurde ihr Kinderwunsch erfüllt. Die Reise wird für sie die Gelegenheit darstellen, das Weiterführen ihrer Ehe zu überdenken.
Man sollte sich nicht von der Leseprobe zum Buch „abschrecken“ lassen, denn es geht in „Der weiße Fels“ bei weitem nicht nur um eine Schriftstellerin mittleren Alters, die mit ihrer Ehe hadert. Weit gefehlt. Wir springen zwar nicht in Raum aber definitiv in der Zeit. Denn schon der nächste Buchabschnitt beschäftigt sich nicht mehr mit „der Schriftstellerin“ sondern mit „dem Sänger“. Man braucht den Klappentext des Buches nicht, um schnell herauszulesen, dass es sich dabei um den Sänger der „The Doors“, Jim Morrison, handelt. Mr. Mojo Risin befindet sich im Jahre 1969 nämlich in einer Sinnkrise unter dem Druck des überwältigenden Erfolgs seiner Band und dem Eindruck von vielen verschiedenen Substanzen in seinem Körper. Nun begleiten wir ihn ebenso bei einer Art Pilgerfahrt zum weißen Fels. Dann springen wir wieder ein Stück in der Zeit zurück und landen im Jahre 1907, in dem „das Mädchen“ gerade aus ihrer Heimat verschleppt wird; ein Mädchen aus der indigenen Gemeinschaft der Wixàrika/Yoeme, welche seit den ersten kolonialen Bestrebungen der Krone Spaniens auf den amerikanischen Kontinenten verfolgt und ausgerottet wurde und noch immer wird. Und genau zu diesen Anfängen der Kolonisierung springen wir dann auch noch. Ins Jahre 1775 zu „dem Leutnant“, der mit Zwischenstation in der Nähe des weißen Felsens sich mit mehreren Schiffen nach Norden aufmachen soll, um die Bucht von San Francisco als einer der ersten Europäer zu vermessen und kartografieren.
Das Buch ist, wie bereits auf der ersten Seite, dem Inhaltsverzeichnis, klar wird, konzentrisch aufgebaut. In der Mitte steht der weiße Fels mit einem eigenen Kapitel und wir bewegen uns zunächst aus dem Jahre 2020 rückwärts darauf zu und ab der Hälfte auf dem Zeitstrahl wieder nach vorn zum Jahre 2020. Die Geschichten um die vier Protagonist:innen könnten auch für sich stehende Novellen darstellen, werden von Anna Hope jedoch geschickt miteinander zu einem runden Roman verzahnt. Diese Struktur des Romans hat mir sehr gut gefallen. Sie erinnerte mich an Michael Christies „Das Flüstern der Bäume“, in welchem die Kapitel genauso angeordnet, hier aber an die Jahresringen eines Baumes angelehnt sind.
Hope schreibt süffig und weiß durch ganz unterschiedliche Szenarien zu überzeugen. Die einzelnen Geschichten beinhalten neben dem weißen Fels als zentralen Moment aber noch weitere Parallelen. So geht es immer auch um Zwänge, Verpflichtungen, Ausbeutung, Unfreiheit und das Suchen nach der Freiheit. Seien es die Verpflichtungen in einer Familie und Ehe, die Zwänge der körperlichen Abhängigkeit, die Loyalität zur Krone oder die Unfreiheit der Verfolgung aufgrund der ethnischen Herkunft. Alle Protagonist:innen hadern mit der Freiheit. Ebenso zieht sich das Thema der Kolonisierung Mittelamerikas und die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung durch alle Texte und damit auch durch alle Zeiten. Über fünfhundert Jahre lang wurden diese Menschen verfolgt, das wird durch diesen Roman an persönlichen Geschichten mal mehr mal weniger stark subtil dargestellt.
Allein das Ende des Romans, welches wieder zurückzoomt auf „die Schriftstellerin“ und ihre Probleme, konnte mich nicht ganz überzeugen, wird doch besonders im mittleren Teil die ganz große Historie des Kolonialismus aber im Kleinen anhand von Einzelschicksalen erzählt. Trotzdem handelt es sich hierbei um ein definitiv lesenswertes Buch, welches das Licht auf eine Weltregion und deren indigene Bevölkerung wirft, die bezogen auf die Dekolonisierung (ein Begriff, den die Autorin in ihren ausführlichen Anmerkungen am Ende des Buches aufgreift) bisher nur selten in der Literatur aufgegriffen wurde. Eine sehr bereichernde und dennoch leichtfüßige Lektüre.
4/5 Sterne