Ein Fest
Kyung-Wha Chung gewann 1968 mit gerade 20 Jahren den wichtigen Leventritt-Wettbewerb in den USA, mußte sich allerdings den ersten Preis mit Pinchas Zukerman teilen. Damit begann ihre Karriere, Schallplatten folgen bald, zuerst für die Decca, 1988 vollzog sie den Wechsel zur EMI. Sie war "immer schon da", stand aber nie in vorderster Reihe. Damals lebte noch die Legende David Oistrach. Ich erinnere mich an eine Rundfunkübertragung der Wiener Festwochen (1973?), Beethoven mit den Symphonikern und Giulini. Da führte einfach kein Weg vorbei.
In Deutschland standen dann Frau Mutter und Frau Fischer im Vordergrund, Damen wie Hilary Hahn ergänzten. Mein Ur-Erlebnis mit Violine war, ist und bleibt Viktoria Mullova. Seit ihrem Plattendebüt mit Sibelius/Tschaikowsky unter Ozawa ist sie meine Allzeit-Referenz. Die CD von damals konnte ich im Dezember 2021 endlich mit einer Vinyl-Wiederveröffentlichung von AnalogPhonic ergänzen, die den absoluten Ausnahme-Rang dieser Einspielungen endlich angemessen wiedergibt. Der Link unter führt zu meiner Rezension.
Leider (!) habe ich mich nie sonderlich für Frau Chung interessiert. Vor einiger Zeit gab es hier bei jpc wohl in niedriger Auflage auf Vinyl verschiedene Klassiker, vor allem aus dem Universal-Repertoire. Darunter waren Sibelius/Tschaikowsky mit Chung/Previn und dem LSO (1970) und Bruch mit dem g-moll-Konzert und der "Schottischen Fantasie" unter Kempe mit dem RPO (Mai 1972). Beide fand und finde ich sehr beeindruckend. Sibelius und Tschaikowsky sind mit kleinen Haken und Ösen, es fließt nicht alles perfekt, aber für 22 Jahre der Solistin ist das sehr gelungen. Auch die Bruch-Werke sind sehr gelungen, gerade, was den wunderbaren lyrischen 2. Satz des g-moll-Konzerts betrifft.
Das vorliegende Album gab es bisher nur auf CD. Das hier ist der erste LP-Release. Der Beethoven ist live von Ende 1989 aus dem Concertgebouw, der Bruch ist aus den Abbey Road Studios vom Mai 1990.
Ich ziehe absichtlich den (unwichtigeren, sorry!) Bruch vor. Was Frau Chung 18 Jahre nach der ersten Aufnahme noch zusätzlich an Erfahrung, Weisheit des "freien Musizierens" geben konnte, ist da. So spielt man, wenn man zu den Tops gehört und durch 1000 Feuer gegangen ist. Tiefer geht das lyrische Empfinden im 2. Satz nicht. Eine trockene, leblose Studio-Aufnahme ist das nicht. Der von mir tief bewunderte Kempe (Strauss aus Dresden, welch ein Gipfel) dirigierte das eher etwas trocken und symphonisch. Tennstedt pulst, liefert Energie, gerade im Finale. Er muß, so wie er hier dirigiert, wohl zu den Fans von Carlos Kleiber gehört haben. Auch er wußte Energie in Musik zu "pumpen". Das Bruch-Konzert ist eine rundum perfekte Freude. Klare Referenz! Der Seitenwechsel ist nach dem 2. Satz. Der logische nahtlose musikalische Fluß des 1. in den 2. Satz ist also nicht gestört.
Also das Beethoven-Konzert, hier mit den Kadenzen von Fritz Kreisler. Ich meine, dass man (auch ich!), sich immer wieder klar machen sollte, dass das nicht "ein Violinkonzert" ist. Das ist weit mehr als nur ein Monolith. Mit 45 Minuten ist es eines der längsten Violinkonzerte überhaupt. Der 1. Satz mit 25 Minuten dauert fast so lange wie ein ganzes Mozart-Konzert, genau so lange wie das g-moll-Konzert von Bruch. Dieser Sonatensatz nimmt Schumanns Wort der "himmlischen Längen" von Schuberts großer C-Dur-Symphonie vorweg. Der tatsächliche Höhepunkt ist aber der 2. Satz, das Larghetto. Patricia Kopatchinkaja hat einmal so wunderschön gesagt: "Das ist der Moment, auf den ich den ganzen Tag gewartet habe". Die Musik ist fast ein Nachtstück und weist weit in die Zukunft. Schostakowitsch hat mit dem Notturno seines 1. Konzerts hier angeknüpft. Wie in dunkler Nacht geht die Violine ihren Weg, die Instrumente um sie herum werden immer weniger, immer leiser, bis dass die Violine nur noch von wenigen Pizzicati begleitet wird. Einer der größten Momente der Musik ist dem Beethoven hier gelungen!
Man hört, dass es live ist. Zu Beginn sind die Saal-Mikrofone voll aufgedreht, der Grundpegel des Publikums zu hören. Während der Musik ist kein Mucks aus dem Publikum zu hören, erst der Applaus danach ist wieder live. Tennstedt dirigiert keinen Titanen, nicht wuchtig. Er hat sich seine Sache sehr genau überlegt, dirigiert extrem präzise, energisch und expressiv. Frau Chung ist nicht hoch genug zu rühmen. Note für Note ist es so wunderbar, faszinierend und beglückend, ihr zuzuhören und zu folgen. Es stimmt einfach alles. Ihr muss Beethoven im Traum erschienen sein und den Solopart Note für Note mit ihr durchgesprochen haben. Natürlicher und richtiger als hier kann Musik nicht fließen. Dieser Meilenstein Beethoven-Konzert kommt so wunderbar und natürlich daher, wie hoch oben in den Alpen ein junger Wasserquell aus der Erde sprudelt, glasklar und rein. Man achte allein einmal auf die kurze Solo-Violine vor dem ersten Pizzicato im 2. Satz. Das ist neben der Legende Oistrach die einzige ernstzunehmende Einspielung des Beethoven-Konzerts! Allzeit-Referenz nennt man das!
Aufnahmetechnisch und von der Abmischung her gibt es von einer Highend-Anlage mit etwas lauter gestelltem Pegel keinen Einwand!
Äußerlich ist das Gebinde, wohl wegen des Preises, eher bescheiden. Eine gemeinsame Tasche für beide LPs, keine Doppeltasche. Ein kurzer Einführungstext auf dem Rücken, nur in englisch. Keine Spielzeiten, kein Einleger. Die LPs befinden sich in weißen Papiertaschen, die mit antistatischer Folie ausgelegt sind. Kein Kleben. Beide LPs sind plan, keine Wellen. Auf allen Seiten endet die Rille, was den Musik-Inhalt betrifft, in deutlichem Abstand (!) vom Etikett. Seiten A, C und D laufen einwandfrei, Seite B ist in der 4. Minute des Larghetto nicht ganz sauber gepresst.
Fazit: das Album ist schlicht ein Fest. Neben besagter Mullova/Ozawa-Doppel-LP ein absoluter Höhepunkt, mehrfache Referenz: Referenz in Sachen Bruch und vor allem Beethoven, Referenz Chung und Referenz Tennstedt.