Karajan, Rimsky-Korsakow und "ihr" Boris Godunow
Was habe ich nicht alles über diese 1970 entstandene Aufnahme gelesen. "Verhunzter Boris", "korrumpierter Mussorgsky", "weichgespült". Als Eifernder mag man sich auf solche Etiketten ja gerne festlegen, ich mag’s nicht.
Ja, Karajans Aufnahme ist von Mussorgsky so weit wie möglich entfernt. Dafür scheint sie mir sehr nah an Rimsky. Insofern will sie mir mehr als Dokument der Rimsky-Rezeption Karajans erscheinen. Üppig klingt sie, nach Cinemascope und Technicolor, ein wenig nach einem Soundtrack zu einem „Boris Godunov“-Film wie ihn Cecil B. DeMille gedreht hätte. Darin erscheint mir die Aufnahme, die tatsächlich in keinster Weise Mussorgsky gerecht wird, wie ein eigenständiges Klangkunstwerk, ein Zeugnis Karajanscher Klangästhetik. Ich kann mir schon vorstellen, dass man das - vergisst man Mussorgsky einmal - gerne hören mag.
Mein „Boris Godunov“ ist das allerdings nicht, und zwar weil mir die Variation fehlt, die Breite des Affektes und die Wucht des Effektes, die Mussorgskys Partitur an sich bietet. Außerdem widerspricht Karajans unbedingte Wille zur Melodik durchaus Mussorgskys sprachzentrierter, im Grunde nicht die Melodie suchener Anlage. Nehmen wir die ersten beiden Bilder als Beispiel, so wird vielleicht klar, was ich meine. Die Wiener Philharmoniker präsentieren glitzernd eine süffige, ja üppige Musik, die Chöre bringen die Klagen und die aufbegehrenden Momente des Volkes als große, spätromantische Chorszene mit viel Legato, sehr diszipliniert, sehr kontrolliert, sehr klangmächtig. Das klingt aber nicht nach unterdrücktem Volk, sondern nach einem Opernchor, der seine Arbeit macht. Mir scheint der Sinn für die Szene zu fehlen. Bedenkt man, dass Jammer und Klage eines unterdrückten Volkes zum Ausdruck gebracht werden sollen, so hören wir hier „Jammern auf höchstem Niveau“. Diesem Volk geht es nicht schlecht. Kein Vergleich zu dem undiziplinierten, aber wesentlich realistscheren Haufen bei Dobrowen.
Dann die Krönungsszene. Wieder: üppig, sinnlich, farbig, aber auch ohne Abwechslung. Das Orchester spielt wie im Bild davor, der Chor singt wie im Bild davor. Im Grunde sind die Szenen – so wie sie hier musiziert werden - austauschbar. Das finde ich ebenso schade wie den Umstand, dass das große auskomponierte Glockengeläut, das ja an sich durchaus auch wild und bedrohlich klingt, diese Qualität zugunsten des schönen Klangs einbüßt. Und das geht die Oper durch so weiter. Das undomestizierte Element der Oper fehlt völlig, der Sinn für die Gestaltung der Einzelszene geht Karajan hier ab. Mich erinnert das ein wenig an seine Berliner „Matthäus-Passion“. Auch da ist es so, dass Karajan sehr eindimensional vorgeht. Er hat eine Idee, ein Bild im Kopf (dort beispielweise: so muss jeder Choral grundsätzlich gemacht werden; hier: das muss nach Grande Opéra klingen) und ist nicht mehr fähig zur Variation. Auf diese Weise verliert eine Interpretation so ausgesprochen komplexer Werke.
Zu den Sängerleistungen. Da ist vieles sehr schön. Beispielsweise gefällt mir Martti Talvelas Pimen ausgesprochen gut, am Ende seines Lebens, als Chronist nicht nur auf die äußeren Ereignisse, sondern auch sehr nach innen schauend. Galina Vishnevskaya liefert eine treffliche Charakterstudie der von Machtgier getriebenen Marina. Kälte und Berechnung kann sie ebenso gut transportieren, wie jenen Sex-Appeal, dem der falsche Dmitry verfällt und erliegt. In ihrem Dialog mit Rangoni laufen sowohl sie als auch Zoltan Kélémén zu Höchstform auf, wobei mir sein Rangoni besonders gut gefällt. Mit leichter, schnell vibrierender und leicht geführter Stimme trifft er genau den Ton, den ich mir für einen intrigant säuselnden Jesuiten vorstelle. Ludovic Spiess gibt einen kraftvollen Dmitry, der mir persönlich irgendwie zu freundlich klingt, quasi wie der nette Held von nebenan. Das es da aber noch ein wenig mehr gibt, verpasst Spiess. Aleksei Maslennikov empfinde ich weder als Shuysky noch als Gottesnarren gut besetzt. Dem einen (Shuysky) mangelt es in seiner Darstellung an Hinterhältigkeit und Bigotterie, dem anderen (Gottesnarr) mangelt es an Schlichtheit und Ausdrucksvermögen.
Und der Hauptdarsteller? Nicolai Ghiaurov ist ja ein durchaus berühmter Gestalter dieser Rolle. Nichts destoweniger bin ich von seiner Darstellung enttäuscht gewesen, als ich diese Aufnahe das erste Mal gehört habe. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Nicht, dass er der Partie stimmlich nicht gerecht würde. Im Gegenteil, sie scheint wie für ihn gemacht. Es ist die Interpretation der Rolle, die mir nicht recht behagen will. Ghiaurovs Boris ist mir zu herbstlich-mild, elegant, zu wenig grüblerisch, zu wenig getrieben, nicht irre genug, ohne das recht Maß an Bandbreite, an Expressivität. Ich höre ihn und denke mir: die letzten Risse und Abgründe, die ganz düsteren Bereiche in der Persönlichkeit des Boris höre ich hier nicht. Christoff ist an dieser Stelle ein anderes Kaliber. Ghiaurov singt dem Konzept Karajans entsprechend „schön“. Das Thema scheint er mir auf diese Weise aber zu verfehlen.