Eusebia
Zwischen 2014 und 2016 veröffentlichte die Deutsche Grammophon drei Boxen mit sämtliche Aufnahmen der Pianistin Maria João Pires für das Label. Der erste Teil, die 'Complete Solo Recordings', enthält Aufnahmen aus den Jahren 1989 bis 2013. Auf 20 CDs finden sich vorwiegend Werke von Mozart, Schubert und Chopin, dazu etwas Bach, Beethoven, Schumann und Brahms.
Kein gewagtes Repertoire also, und auch das Klavierspiel der portugiesischen Protagonistin würde man sicher nicht als revolutionär bezeichnen. Die herausragenden Qualitäten der Maria João Pires liegen auf einem anderen Gebiet, das sich am ehesten erschließt, wenn man die Interpretin im Konzert erlebt: Bescheiden, fast scheu und liebenswürdig ist Ihr Auftreten, und obwohl sie keine extremen Gestaltungsmittel nutzt sind ihre Interpretationen doch außerordentlich musikalisch, intensiv und berührend. Sie hat die Fähigkeit das Klavier singen zu lassen, sie kann sogar einen einzelnen Ton zum Ereignis machen. Auf Pires' Spiel treffen (eigentlich unmusikalische) Adjektiven wie "analytisch" oder "unfehlbar" überhaupt nicht zu. Ihre Stärke ist vielmehr Menschlichkeit und Mitgefühl, die in ihrer Musik mitschwingen.
Bach & Beethoven (CD 1&2)
Wer sich alle 20 CDs in der vorgegebenen, nach Komponisten geordneten Reihenfolge vornimmt, muss sich gleich zu Beginn durch zwei problematische Alben kämpfen: Die Solowerke von Johann Seb. Bach (Partita Nr. 1, Englische Suite Nr. 3, Französische Suite Nr. 2) spielt Pires mit großer Ruhe, nutzt das rechte Pedal ausgiebig und wirkt damit ein wenig aus der Zeit gefallen. Sie macht sich die Stücke zu eigen, ohne den Bach'schen Stil und seine Klangwelt anzunehmen, sondern geht aus der Perspektive der Romantik an die Bachsche Musik heran. Das ist Geschmacksache und sicher nichts für Puristen.
Beethoven passt schon deutlich besser zu Pires. Sie hat sich die vergleichsweise lyrischen Sonaten op. 27/1&2 sowie op. 109 ausgesucht, betont ihn ihnen auch eben die sangliche Seite. Damit rückt sie ihren Beethoven in Schuberts Nähe, ignoriert dabei ein wenig die klassizistische Klarheit und den beethovenschen Vorwärtsdrang. Große Würfe der Rezeptionsgeschichte sind diese Versionen nicht, Fehlgriffe aber auch nicht.
Chopin (CD 3-7)
Chopins Klavierwerke gehören bekanntermaßen zu Pires' Kernrepertoire. Hier findet ihr poetisches und sangliches Klavierspiel seinen Platz: Die himmlische Berceuse op. 60 oder die delikat gezauberten Walzer op. 64 gehören zu den wahrlich schönsten Chopin-Aufnahmen überhaupt.
Die Préludes op. 28 zeigen hingegen auch Pires Grenzen, denn das Werk verlangt der Spielerin eine besonders große Gestaltungspalette ab. Pires überzeugt erwartungsgemäß in den lyrischen Préludes, findet aber in den dramatischen Sätzen zu wenig Wucht und düstere Einfärbungen, wodurch der Zyklus relativ kontrastarm wirkt. Auch die Gesamtaufnahme der 21 Nocturnes, so herrlich die Interpretationen im Einzelnen sind, leiden unter diesem Defizit, wirken als Ganzes zu eindimensional.
Erwähnt werden sollte das Doppelalbum "Chopin" (CD 7&8), dessen Titelfolgen glücklicherweise unangetastet geblieben ist, zumal es offenbar als eine Einheit konzipiert wurde. Den Rahmen bilden die dritte Klaviersonate und die Cellosonate des polnischen Komponisten, mit der Mazurka op. 68 Nr.4 als "Zugabe". Gemeinsam mit den umschlossenen Titeln ergibt dieses Doppelalbum eine fast vollständige Aufnahme der späten Chopinwerke, mit der Polonaise-Fantaisie, Mazurken aus opp. 59, 63 und 67, Nocturnes op. 62 und schließlich auch den bereits erwähnten Walzern op. 64. Die für das Spätwerk eigentlich untypische Berceuse op.60 wurde offenbar bewusst ausgespart. Auf diesem Doppelalbum kann man einige der schönsten Interpretationen der Pires erleben, ihren bewundernswerten Anschlag, ihre entrückte Versenkung in die harmonisch vertrackte Klangwelt. Die erste Phrase der Mazurka op. 63/2 allein ist Grund genug dieses Album zu erwerben! Dass die charakteristischen, polnischen Tanzrhythmen dabei in den Hintergrund rücken, nimmt man gerne in Kauf.
Mozart (CD 8-13)
Pires' hochgelobte Gesamtaufnahme der Mozartsonaten (ihre zweite nach der Denon-Ausgabe von 1974) ist ein Wunder an Natürlichkeit. Statt diese Musik irgendwie zu gestalten und ihre Interpretationen auf diese Weise zu individualisieren, lässt Pires sie vielmehr für sich sprechen. Dazu wählt sie gemäßigte Tempi, die der Sanglichkeit der Musik sehr gut stehen. Bei einigen Ihrer Chopin- und Schumann-Interpretationen mag Pires' Gestaltung etwas zu zurückhaltend und eindimensional wirken, nicht aber bei Mozart!
Die Trauer um den Verlust der Mutter, die Mozart in der Sonate KV 330 verarbeitet, braucht die Interpretin nicht hervorzuheben, denn sie ist einfach da. Wo die Romantik die Seelenqual offen ausbreitet und gar zelebriert, ist sie bei Mozart noch leicht verklausuliert. So wenigstens geht Pires "ihren" Mozart an, und ihre Lösungen sind ohne Ausnahme beglückend. Sie beweist, das man auch mit einer "Jagdsonate" KV 576 brillieren kann, ohne dabei eine revolutionären Ansatz zu bemühen. Selbst für die Sonata facile KV 545 bleibt sie dieser Einstellung treu, während ihre KollegInnen doch meist entnervt über das viel geschundene Anfängerstück hinwegrasen. Unter Pires' Fingern erstrahlt die Musik, erhebend und sicher nicht harmlos.
Schubert (CD 14-19)
Wo viele Pianisten Mozart und Schubert als größte Herausforderung nennen, scheinen gerade diese Komponisten der Portugiesin am Herzen (oder gar in der Natur?) zu liegen. Als hätte sie für die beiden - auf ihre Art - zerrissenen Persönlichkeiten ein besonderes Mitgefühl, trifft Pires scheinbar mühelos den schmalen Grad, der die Musik den Pianisten anbietet.
Im Gegensatz zu Ihrem Chopinspiel wirkt ihr Schubert durchaus auch düster und tiefschürfend. Der Variationssatz der Sonate D845 etwa ist ein Kaleidoskop der Stimmungen, und Pires wechselt so ungemein stimmig von einem Teil in den nächsten und macht den Satz zu einem Meisterwerk im Meisterwerk.
Die Sonate D784 war eines der ersten Werke, die Pires für die DGG aufgenommen hat. Auch hier (analog zu Mozarts KV330) wirkt der Kontrast zwischen dem bedrohlichem Hauptthema und dem entrücktem Seitenthema des Kopfsatzes grabentief, obwohl (oder weil?) ihre Darstellung weit weniger exaltiert wirkt als die eines Brendels oder Richters.
Welchen Schubert-Interpreten man letztlich bevorzugt (eventuell keinen der Genannten), Pires' Darstellungen sind und bleiben außerordentlich. Gebremst wirkt Pires allein bei den ausgesprochen virtuosen Passagen in Schuberts Werken, etwa den Skalen im Impromptus D 935 Nr. 4 oder im Schlusssatz der Klaviersonate D 960. Aber das sind vor diesen meisterhaften Wiedergaben bloß kleinliche Einschränkungen.
Neben den genannten Sonaten finden sich auf den fünf Schubert-CDs noch die Sonate D664, die Impromptus op. 90, D935 und D946, die Moments Musicaux D780, 2 Scherzi D593 und das Allegretto D915, zudem noch einige Klavier-Duowerke. (Siehe > Zur Edition > Die Duopartner)
Schumann und Brahms (CD 20)
Man ahnt schon, dass die Pianistin dem milde Eusebius näher ist als dem wilden Florestan. Und doch hat sie die Gegensätze sehr wohl herausgearbeitet, die gesanglichen Passagen mit viel Agogik ausgekostet, schenkt auch den Florestan-Sätzen genügend Aufmerksamkeit. Wie schon in den Nocturnes und Préludes von Chopin fällt auf, dass die Pianistin nur ein begrenztes Repertoire an Stimmungen erzeugen kann oder will. Die geheimnisvollen Sätze "Verrufene Stelle" und "Vogel als Prophet" aus den Waldszenen wirken in dieser Darstellung geradezu harmlos. Und das ist letztlich entscheidender als die technischen Mängel, die unpräzisen Punktierungen oder überstarken Pedalisierungen. Freilich ist die Arabeske in den Händen eine Schönheit sondergleichens. Aber Schumanns Musik ist eben bei Weitem nicht nur zweipolig.
Ganz am Ende der Schumann-CD sind noch die drei Brahms Intermezzi op. 117 versteckt, die einzige Live-Aufnahme in dieser Box. Eine hörenswerte Zugabe ist das allemal: Der erste Satz droht zwar in den agogischen Freiheiten unterzugehen, umso überzeugender wirken Intermezzi Nr. 2&3.
Zur Edition
Auf den 20 CDs sind nicht nur Soloaufnahmen versammelt. Die Herausgeber haben sich dazu entschlossen das Doppelalbum "Résonances de l'Originaire", das Pires mit Werken von Schubert an der Seite des Pianisten Ricardo Castro zeigt, in diese Solo-Box aufzunehmen. Das ist nachvollziehbar, denn neben Klavierduos (Fantasie D 940, Rondo D 951, Allegro "Lebensstürme" D 947) ist Pires auf dem Album mit der Solosonate D 664 und Castro mit der Solosonate D 784 zu hören. Auch die Cellosonate von Chopin (mit Pavel Gomziakov), Teil des Doppelalbums "Chopin", wurde im Verbund mit dem Album belassen.
Andererseits aber wurden die Intermezzi op. 117 von Brahms aus dem Live-Album mit dem Cellisten Antonio Meneses ("The Wigmore Hall Recital") herausgenommen. In der Ausgabe sämtlicher Pires-Kammermusik-Aufnahmen erscheinen die Brahmsstücke dann aber nochmals, diesmal im ursprünglichen Zusammenhang mit dem Wigmore-Konzertprogramm.
Die Chopin-Konzerte 1&2 wurden ursprünglich einzeln auf je einer CD veröffentlicht, gekoppelt mit Solowerken des Komponisten. Diese Solowerke (Fantasie op. 49, Impromptu op. 66, Berceuse und Préludes op. 28) wurden auf CD 3 dieser Edition zusammengefasst.
So richtig glücklich sind diese Entscheidungen nicht getroffen. Für Sammler sind diese Entscheidungen besonders bedauerlich, auch weil die auf den CD-Taschen abgedruckten Original-Cover manchmal nicht zu dem Programm der betreffenden CDs passen.
Das Booklet enthält neben Fotos der Pianistin eine detaillierte Titelliste, und nochmals sind dazu die Originalcover abgedruckt, zusammen mit einer sehr informativen, fünfseitigen Würdigung von Jessica Duchen.
Die Duopartner
CD 18&19 dokumentieren Pires' Duoprojekt mit dem brasilianischen Pianisten Ricardo Castro. Wie schon erwähnt kombinieren die beiden Pianisten Solo- und Duowerke von Franz Schubert. Beide sind und bleiben durchaus sehr unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten, ergänzen sich in den Duos aber erstaunlich gut. Castros Version der Solosonate D 784 ist düsterer, aber auch ein Stückchen statischer als Pires' Schubertspiel. (Pires' eigene Version der Sonate D784 kann man auf CD 16 nachhören). Wie in anderen Fällen gibt es hier auch Überschneidungen mit den Erato-Aufnahmen von Pires. 1987 hatte sie mit dem Pianisten Hüseyin Sermet bereits die Fantasie D940 und andere Duowerke eingespielt ' ein Album, dass zumindest künstlerisch mit der DGG-Veröffentlichung mithalten ist.
Pavel Gomziakov ist Pires' Partner in der Cellosonate von Chopin. Geboren in Russland und derweil in Lissabon ansässig hat er die Aufmerksamkeit der berühmten Pianistin erlangt. Seine aufwallende Darstellung des Celloparts will nicht so recht mit dem delikaten Spiel der Pires harmonieren, was indes auch der besonders direkten Aufnahme des Streichinstruments liegen mag.
Zum Schluss noch...
Ein Tröpfchen Wehmut ist mit dieser Edition verbunden, markiert sie doch auch das Ende der so fruchtbaren Zusammenarbeit von Künstlerin und Plattenfirma.
Die Magie, die von der Pianistin im Konzertsaal ausgeht, kann man in diesen Aufnahmen allerdings nur teilweise nachvollziehen. Ob das an den vorgenommenen 'Korrekturen' einer Studioproduktion liegt oder doch daran, dass die Aura der Pires sich eben nicht von Mikrofonen einfangen lässt? Wer die Künstlerin also wirklich "at her best" erleben möchte, kommt um eine Konzertbesuch nicht herum.
Unabhängig davon enthalten die 20CDs - trotz einiger schwächerer Momente - eine stattliche Menge überirdisch schöner Wiedergaben, die ohne Frage die Anschaffung der ganzen Box rechtfertigen.