Zeitloser Romantiker
In einer preisgünstigen, aber auch recht einfachen gehaltenen Box sind hier einige Solo-Alben aus der Zeit der Zusammenarbeit zwischen dem kubanisch-amerikanischen Pianisten Jorge Bolet und DECCA zusammengefasst. Eine Gelegenheit für den preisbewussten Sammler einen durchaus representativen Einblick in das Repertoire und besonders die herausragenden Fähigkeiten dieses Pianisten zu erlangen. Die Zusammenstellung der einzelnen CDs entspricht den Originalveröffentlichungen. Leider wurde darauf verzichtet die sehenswerten Original-Cover mitzuliefern. Das Booklet liefert immerhin eine kurze Würdigung des 1990 verstorbenen Musikers, aber nicht einmal eine Diskografie, geschweige denn Fotos. Allerdings lässt sich diese Box ohne Überschneidungen mit der ebenfalls preisgünstigen (und herausragenden!) Bolet/Liszt Edition bei DECCA ergänzen.
Den Aufnahmen hört man die gesundheitlichen Rückschläge, die Bolet in den Decca Jahren 1977-1988 einstecken musste, mitnichten an. Leichte Ungleichmäßigkeiten, die selten auftreten, lassen sich vor dem sehr hohen musikalischen und technischen Niveau insgesamt sehr gut verschmerzen. Die Aufnahmetechnik leistete durchweg Vorbildliches, die verwendeten Instrumente - Baldwin und Bechstein - tragen das ihre zur Einzigartigkeit dieser Produktionen bei, in dessen Zentrum Bolets Spiel selbst steht.
Gegenüber den RCA Aufnahmen der frühen 1970er Jahren wirkt Bolet hier noch ruhiger und abgeklärter, als er ohnehin schon war. Eine einzigartige, beinahe aristokratische Erhabenheit war immer eine besondere Qualität dieses Pianisten, sie prägt im besonderen Maße auch diese späten Aufnahmen: Ein warmer, großer und nie angestrengter Ton, sehr souveräne Technik und äußerst geschmackvolle, zeitlose Interpretationen, die sicherlich nicht "romantisch" im Sinne von "kitschig" sind. Bolet spielt niemals äußerlich-brillant, vielmehr entfaltet er die Kompositionen auf einzigartig respektvolle Art und lässt sie für sich sprechen. Andererseits ist sein Spiel auch sehr gefühlvoll, allerdings ohne dabei aufdringlich oder manieriert zu wirken, auf eine liebevollgroßväterliche Art sozusagen. Seine Kunst wirkt zunächst unspektakulärer als die eines Horowitz oder Richters, aber Bolet ist seinen bekannteren Kollegen sicherlich ebenbürtig!
Höhepunkt der Sammlung ist der posthum veröffentlichten Konzertmitschnitt aus dem Jahr 1988. Mendelssohns Prelude & Fuge e-Moll, Cesar Francks Prelude, Coral & Fugue sowie Liszts Reminicences de Norma bilden ein nicht untypisches Bolet-Programm: Kaum bekannte oder wenig gespielte Werke der Romantik, gerne von besonderer technsicher Schwierigkeit waren seine Spezialität. Atemberaubend ist besonders der lange dramaturgische Atem, mit dem er die Liszt Paraphrase zum Ereignis macht, archaisch-erhaben und doch romantisch empfunden das Franck-Werk und ein wirklich hörenswerter Mendelssohn machen das Album zu einem eindrucksvollen Vermächtnis des Pianisten.
Die Auswahl von 16 Debussy-Prèludes gilt nach wie vor als eine der besten Klavieraufnahmen überhaupt - womit sich die Kritiker vornehmlich auf die Aufnahmetechnik beziehen. Aber auch die liebevollen und stilsicheren Darstellungen Bolets sind meisterhaft und unvergleichlich, lassen viele andere Aufnahmen dieser Stücke geradezu bemüht und lieblos erscheinen. Die Bezüge in den Preludes zur Salonmusik weiß eben Bolet besonders überzeugend darzustellen, denn seine Liebe zu der zeitweise so verpönten Literatur ist echt und aufrichtig.
Aus dem Grund ist auch sein "Encores" Album so überzeugend geraten und uneingeschränkt hörenswert, obwohl es sich nicht auf Salonmusik beschränkt: Nicht nur Godowsky-Petitessen, sondern auch Mendelssohns Rondo capriccioso, Chopin Walzer und Nocturnes finden sich hier in unvergleichlich liebevollen Interpretationen.
Virtuose Musik hat er immer sehr geliebt, und Godowskys übervirtuose Adaptionen von Chopin Etüden und Walzern bieten Herausforderungen, an die sich außer Bolet kaum jemand wagt. Wohl auch, weil diese Neukompositionen gegenüber den Originalen wie Zirkusstückchen anmuten. Bolet hat einige davon für sein erstes DECCA-Album ausgewählt, das man ebenfalls in dieser Box findet. Man erahnt die wahnwitzigen Schwierigkeiten dieser Etüden, aber Bolets geradezu entspannten Interpretationen lassen gar nicht den Verdacht aufkommen, er wolle seine Fingerfertigkeit zur Schau tragen.
Die Alben mit Schumann und Schubert-Werken sind ebenfalls sehr respektable Beiträge, das Rachmaninow-Album mit den seltenen Chopin-Variationen eine würdige Verneigung vor dem von Bolet so verehrten Komponisten - und Interpreten!
Neben Liszt hat Bolet für Decca vor allem Chopin eingespielt, hier vertreten durch die 4 Balladen, die 24 Preludes, die Fantasie op. 49 und die Barcarolle sowie einige Nocturnes, dargestellt mit würdevoller Ruhe.
Vielleicht gibt es eines Tages eine Gesamtausgabe aller DECCA-Aufnahmen Jorge Bolets - bis dahin ist diese Sammlung sowohl für Fans als auch für Neueinsteiger wärmstens zu empfehlen!