Der alte Tiger zeigt die Krallen
Wer hätte gedacht, dass der grade 70 Jahre alt gewordene Tiger aus Wales noch mal seine Krallen ausfährt und Fans und Kritiker dermaßen überrascht? Ein Gospel-Album wollte er schon immer machen, lässt er hinsichtlich der Veröffentlichung von PRAISE & BLAME verlauten. Und diesen Wunsch hat er sich jetzt erfüllt. Von kommerziellem Selbstmord ist in einem internen Schreiben der Musikbranche zu diesem 26. Soloalbum die Rede, so ungewöhnlich und untypisch sei es. Egal ob diese Meldung der Wahrheit entspricht oder nur eine geschickt gesetzte Fälschung ist, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Fest steht: das Album hat solche Methoden nicht nötig, es besticht allein durch seine schiere Brillanz. Produzent Ethan Johns hat seinem Schützling ein eindringliches, entschlacktes Werk auf den Leib geschneidert. Der Geist der Revitalisierungsstrategie, die Rick Rubin z.B. bei Johnny Cash angewandt hat, ist hier allgegenwärtig. Wobei es Tom Jones im Gegensatz zu Cash auch mal richtig krachen lässt und sich nicht nur im Balladen- und Mid-Tempo-Bereich tummelt. Mit Cash`s American Recordings verbindet PRAISE & BLAME auch die Mischung aus erlesenen Fremd- und inspirierten Eigenkompositionen. So findet man hier auch den Song AIN`T NO GRAVE, der Cash`s letztem posthum veröffentlichten Album den Namen gegeben hat. Und hier kommt auch der bereits angesprochene Gospel-Einfluss ins Spiel, der sich eher textlich als musikalisch äußert. Das Album beschäftigt sich mit der Endlichkeit des Seins, dem Sinn des Lebens sowie mit Schuld und Sühne. Es werden eindringliche Gefühle transportiert, die musikalisch zwischen leise und laut, Demut und Aufbegehren, Melancholie und Frohsinn sowie Trauer und Wut umgesetzt werden. Elemente, die die Musik von Tom Jones schon immer beinhaltet hat, nur nicht in dieser Zusammensetzung und Konzentration. Hier hört man nicht den Showman und Ladykiller der 60er Jahre, der mit DELILAH Frauenherzen zum Schmelzen brachte. Auch nicht den Tanzflächeneroberer, der mit SEXBOMB einen zweiten Frühling feierte. Hier zeigt er Tiefe und Spiritualität und begegnet dem Rock`n`Roll bei seinen Wurzeln im Blues und Rhythm & Blues. Zurückhaltung und Muskelspiel, Kirche und Kneipe halten sich atmosphärisch in etwa die Waage. Tom Jones sucht Wahrheit und Klarheit und er hat es nicht nötig, oberflächliche Erwartungen zu erfüllen.
Das Album eröffnet mit einer andächtigen Version von Bob Dylans WHAT GOOD AM I und dann wird mit LORD HELP ein gradliniger Rocker nachgeschoben. DID TROUBLE ME beginnt verschleppt und todtraurig. Der spätere Einsatz eines klapprigen Banjos lässt aufhorchen. Das dezent dazugeführte Schlagzeug sorgt dann ebenfalls noch für mehr Konturen. Der Song bleibt aber in der Grundstimmung nachdenklich. Jones versteht es, die Spannung am Köcheln zu halten. Der Boogie-Blues STRANGE THINGS bekommt durch den Backgroundgesang eine Gospelnote. Ein Highlight des Albums ist die Version von John Lee Hooker`s BURNING HELL. Im Original ist das ein rumpeliger, kantiger, unrund laufender Delta-Blues. Tom Jones verwandelt ihn in ein treibendes, stumpf-rockendes Monster mit kochend heißen Gitarrenriffs von Produzent Ethan Johns. Das Wechselbad der Gefühle hält an: Auf heftige Gefühlsausbrüche folgen jetzt wieder besinnliche Töne. IF I GIVE MY SOUL ist intimer Folk mit sakralem Einschlag. Treibender, gehetzter Rock wird bei DON`T KNOCK geboten. Die Aggressivität wird hier durch die schon bei STRANGE THINGS zur Geltung gekommene Hintergrund-Begleitung abgemildert. Der Song klingt nicht nach den Staple Singers, ist aber von ihnen. Bei NOBODY`S FAULT BUT MINE denkt man sofort an die Staple Singers. Nicht nur die Pops Staples Gedächtnis-Gitarre erinnert an die große Gospel-Soul-Institution, sondern auch die lässige, seelenvolle Interpretation lässt wohlige Erinnerungen aufkommen. Dieser Song ist jedoch laut Booklet von Tom Jones und Ethan Johns. Bei DIDN`T IT RAIN spielt der Tiger seine ganze gesangliche Erfahrung aus. Mühelos modelliert er das Tempo von abwartend bis swingend. Tom Jones`Umsetzung von AIN`T NO GRAVE ist natürlich nicht so brüchig wie die von Johnny Cash. Schließlich hat Cash den Song quasi im Angesicht des nahenden Todes aufgenommen, während Tom Jones nach eigenen Angaben noch voll im Saft steht. Dementsprechend wechselt er jetzt wieder von nachdenklich-akustisch zu zupackend-elektrisch und beschließt das Album mit dem locker rollenden Boogie RUN ON.
Das ganze Album ist wohltuend sparsam und transparent produziert. Den 3 Eigenkompositionen stehen 8 fremde Nummern entgegen. Im Begleitheft ist das Traditional AIN`T NO GRAVE fälschlicherweise als T. Jones/E. Johns-Komposition angegeben. Tom Jones beweist die Fähigkeit, alle Songs zu seinem Eigentum zu machen, indem er durch seinen charakteristischen Gesang persönliche Duftmarken setzt. Die wenigen exzellenten Gäste wie Booker T. Jones an Orgel und Piano und B.J. Cole an der Steel-Guitar spielen sich nicht in den Vordergrund, sondern agieren sehr eindringlich und songdienlich. Nach ca. 38 Minuten ist das Vergnügen vorbei. Man kann nur hoffen, dass Tom Jones auch in Zukunft solch unangepasste, markante Alben veröffentlicht und wie hier mit den richtigen, einfühlsamen Partnern zusammenarbeitet.