Auch nur ein Mensch..
Zunächst möchte ich vorausschicken, dass ich Jonathan Franzen für einen der brillantesten Romancier unserer Zeit halte. Seine Roman sind Meisterwerke, seine Formulierungen bestechen.
"Weiter weg" liest sich flüssig, oft geht es direkt oder indirekt um Literatur. Lesenswert und mir aus dem Herzen gesprochen fand ich vor allem "I just called to say I love you", ein virtuoses Essay über die Tyrannei des Mobilfunks, das gelungen den Bogen über 9/11 spannt und in der bewegenden Trauer über den Verlust der Eltern endet. (Schon allein wegen dieser paar Seiten hat sich der Kauf des Buchs für mich gelohnt!)
Und dennoch haben mir etliche Aufsätze des Buchs nicht gefallen, - nicht, weil sie nicht gut geschrieben wären, sondern weil sie den Autoren in einem unvorteilhaften, bigotten Licht abbilden, das meinen Eindruck von dem Menschen hinter den Zeilen bislang widersprach. Nach Lektüre einiger Essays wirkte Jonathan Franzen auf mich wie ein Narziss und gutmütiger Blender. Gesegnet mit einem außergewöhnlichen Intellekt, fehlt ihm offensichtlich doch eine gewisse Selbstreflektion. Natürlich findet man in „Weiter weg“ jede Menge interessanter Gedanken, doch oft genug gelingt Franzen die Verknüpfung grundverschiedener Motiv nur holprig. Ich denke hier vor allem an den Titel-Text, in dem er seine Expedition auf eine unwirtliche Vulkaninsel mit der literarischen Aufarbeitung von Defoes Robinson Crusoe und der Trauer um seinen verstorbenen Freund David Foster Wallace zu verbinden versucht.
Richtig unangenehm fallen jedoch die Passagen auf, die den Autoren recht (selbst)unkritisch geradezu beiläufig „herauszurutschen“ scheinen. In dem Essay „Der leergefegte Himmel“ empört sich der Vogelkundler Jonathan Franzen zu Recht über die illegale Jagd auf Zugvögel verschiedener Mittelmeerstaaten. Er hat Malta, Zypern und Italien bereist und begegnete Naturfreunden, die sich gegen die grausamen Praktiken der Traditionalisten mutig entgegenstellen. Bei einer dieser Wanderungen kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Wilderern, die die Vogelschützer brutal verprügelten. Jonathan Franzen schlug sich dabei in die Büsche und beobachtete aus sicherer Distanz, wie mehrere Wildhüter verletzt wurden. Ich werfe dem Autoren nun nicht vor, Angst um seine Gesundheit gehabt und seinen Begleitern nicht geholfen zu haben. Nicht jeder ist zum Helden geboren, doch er beschreibt seine feige Flucht so selbstgefällig und unreflektiert, wie man es eigentlich von einem Intellektuellen nicht erwarten dürfte. Anschließend bedauert er zwar die Opfer, nicht aber seine fehlende Zivilcourage. Kein Wort verliert er über dieses Versagen, das seinen moralischen Ansprüchen nicht genügen kann, als sei jede andere Reaktion abwegig gewesen. Der Vogelfreund entrüstet sich statt dessen über das europäische Unvermögen, das millionenfache Abschlachten von Singvögeln zu verhindern (mit einem zornigen und - wie ich meine - deplazierten Seitenhieb, dass Europa, dieser vermeintliche Umwelt-Besserwisser, die USA und China bezüglich Kohlendioxid-Emissionen belehren würde), schließt den Artikel jedoch mit dem ungeheuerlichen Geständnis, selbst an einem Ambelopoulia (dem traditionellen, zypriotischen Gericht aus gebratenen Zugvögeln) teilgenommmen und - mehr oder weniger widerwillig - Mönchsgrasmücken und Drosselrohrsänger verspeist zu haben.
Dass Jonathan Franzen nur bedingt als Umweltaktivist taugt, zeigt auch ein weiteres Essay dieses Buches, in dem er beschreibt, wie er kurzentschlossen nach China jettet, um Mißständen nachzugehen, die bereits wesentlich professioneller durch versierte NGOs recherchiert wurden. Diese Reisen nach Europa und Asien wirken eher wie die eines gelangweilten Gutmenschen. Der Autor vergeudete dabei viel Geld, Zeit und Kohlendioxid, kratzt oft nur an der Oberfläche des Problems, läßt sich von den Verantwortlichen um den Finger wickeln und leider fehlt ihm sogar die nötige Courage, all zu offensichtliche Bestechungsgeschenke abzulehnen.
In einem anderen Essay versucht er abstrakt den autobiographischen Einfluss eines Autors auf jedes neue Buch zu erklären, beteuert jedoch, dass in seinen Romanen kaum Autobiographisches zu finden sei. In „Die Korrekturen“ übernimmt eine Romanfigur allerdings ein gutartige Schrulle seines älteren Bruders. Lange hat er mit sich gerungen, ob er diese private Familienangelegenheit in seinem Buch verwenden darf. Meines Erạchtens sind solche Bedenken auch durchaus berechtigt, denn Freunde des Bruders, die diese Eigenart wiedererkennen, werden womöglich auch andere Besonderheiten der Romanfigur bei dem Bruder vermuten und suchen. Doch nicht ein klärendes Gespräch mit dem Bruder (das wohl erst nach Beendigung des Manuskripts stattgefunden hat) bewog Franzen zur Verwendung, sondern die Maßregelung einer angeblich klugen Freundin: „Glaubst du, das Leben deines Bruders dreht sich um dich? Glaubst du nicht, dass er ein erwachsenes Leben führt, voll von Themen, die wichtiger sind als du? Glaubst du, deine Macht ist so groß, dass etwas, was du in einem Roman schreibst, ihm schaden kann?“ Sie unterstellt ihm Narzissmus, stempelt aber gleichzeitig einen Freifahrtschein für seine Selbstverliebtheit ab. Möglicherweise hatte diese kluge Freundin damals seine schriftstellerische Genialität und die Bedeutung seines Romans nur noch nicht erkannt, denn spätestens mit dem großen Erfolg von "Die Korrekturen" besitzt der Autor fraglos Einfluß auf seine Familie und Umwelt. Und selbstverständlich weiß das auch der Narziss Franzen, wenn er heute mit seiner Unwichtigkeit kokettiert und sein literarisches Gewicht herunterspielt, - auch wenn er schließlich sinngemäß ergänzt, dass ein Schriftsteller halt tut, was ein Schriftsteller tun muss, um sich selbst treu zu bleiben, auch wenn er den Preis unter Umständen später im Privaten teuer zu bezahlen habe. Wie so oft in "Weiter weg" muss Liebe für diese Eitelkeit herhalten, denn solange er Persönliches mit Liebe ausdrückt, könne er gar keine Grenze überschreiten oder Gefühle verletzen.
Es ist nicht eine mangelnde Qualität der Texte, die mich zu dieser Rezension bewegt, sondern der neue Eindruck, den ich aus diesem Buch vom Autoren gewinne und der mir nicht so recht gefallen mag. Letztendlich machen diese unfreiwilligen, verräterischen Widersprüche aber einen privilegierten Intellektuellen einfach nur menschlich. Jedem Franzen-Roman (inklusive "Die Unruhezone") gäbe ich ohne zu zögern die Bestnote, - und diesen Essay-Band mit weniger als drei Sternen zu bewerten wäre unredlich, würde es doch dadurch auf das bedauerliche Niveau eines frühen Simon Beckett (z.B. „Tiere“) herabgezerrt, was „Weiter weg“ nun wirklich nicht verdient hätte.