Die Kategorie lautet: Bester Female-Pop von 2024, der nicht aus 2024 stammt
Chappell Roan bietet allen sexuell unsicheren ZuhörerInnen jenen Hafen, an den sie sich wohl und geborgen fühlen. Sie ist für die Jugend das, was Lady Gaga für die Generation davor gewesen ist. Alle anderen, die nicht mehr "ganz so jung" sind, können aber immer noch dasselbe Gefühlschaos erleben. Wenn sie beispielsweise in COFFEE von einer Geliebten singt, mit der sie viel Spaß hat, sich dabei aber fragt, ob es nur bei Sex bleibt oder daraus eine Beziehung werden könnte, hat man gleich wieder das irrsinnige Singleleben in einer Großstadt, wo die nächste Eroberung an der nächsten Ecke lauern kann, im Kopf. Chappells Texte sind sehr nach innen gewandt, so als ob sie Monologe führen oder Tagebucheinträge verfassen würde. Dadurch fühlt man sich ihr und ihren Problemen viel näher. In PINK PONY CLUB (1. Anspieltipp) singt Chappell lang und zart von sich, der Erwartungshaltung ihrer Mutter und dem Spießbürgertum von Kleinstädten, bevor sie mit immer kräftiger werdendem Gesang in den Refrain und Wohlfühlort einfällt, wo sie sein kann, wie sie will: dem "Pink Pony Club". Längst hat die LGBTQ+-Gemeinde diesen Begriff schon in ihrem Wortschatz eingebürgert, weil THE RISE AND FALL OF A MIDWEST PRINCESS von 2023 erst relativ spät im Jahr 2024 durch Chappells Sleeperhit GOOD LUCK, BABE! durch die Decke gegangen ist. Dabei ist der besagte Singlehit überhaupt nicht auf dem Album mit insgesamt 14 Titeln zu finden. Die Leute sind schlichtweg fasziniert von dieser Persönlichkeit, welche mit dem plötzlichen Ruhm zu kämpfen hat. Chappell Roan will doch nur ganz offen und ehrlich über Queens und Queerness singen ohne das Zutun von künstlisch-aufpoliertem Autotune, dafür mal mit fetzenden 80s-Synthies und Softrockgitarren ("touch me, touch me, touch me": NAKED IN MANHATTAN, 2. Anspieltipp) oder ganz freigelegt mit einfacher Pianobegleitung (KALEIDOSCOPE). Die Arrangements und deren poppige Grundstruktur bewegen sich auf dem Terrain von Könnerinnen bzw. Powerfrauen ihres Faches, irgendwo zwischen Linda Perry (RED WINE SUPERNOVA), entschleunigter Lana Del Rey (MY KINK IS KARMA, PICTURE YOU) und beschleunigter Gwen Stefani mit ihrem Cheerleader-Pop (HOT TO GO!). THE RISE AND FALL... fasziniert einfach, ganz besonders aus diesem simplen, wie effektiven Grund: Das Werk wirkt authentisch durch seine ehrlichen wie wortwitzigen Lyrics. In einer Welt, die immer mehr von KI und anderen Künstlichkeiten beeinflusst wird (und in welcher dazu noch die Existenz von Geschlechteridentitäten aberkannt wird), braucht man schlichtweg auch wieder KÜNSTLERINNEN, die echt sind. Empfehlenswert in diesem Zusammenhang erscheint auch Sabrina Carpenter mit ihrem Album SHORT N' SWEET, das ähnlich gewitzte Songtexte über das Dasein, eine Frau zu sein, beinhaltet.
So stark der Inhalt des Albums ist, so sehr geizt man mit Infos auf der Klapphülle. Auf dem gesamten Produkt sucht man Schrift vergebens. Die Bezeichnung von A-, B- und C-Seite (D als die letzte Seite ist leer, enthält demnach keine Musik) ist auf dem silbern schimmernden Label so klein und schwer zu lesen, dass selbst eine Lupe kaum Abhilfe schafft. Was hat es mit den Produktionsnotizen auf sich? Wer hat was geschrieben, inwiefern waren andere Macher beteiligt? Warum fehlen die Liedtexte gänzlich, wenn sie doch eine tragende Rolle auf dem Album der Abschlusskönigin vom Titelbild spielen? Fragen über Fragen, aber wenigstens liegt der mittlerweile vergriffenen, für Deutschland exklusiv via jpc vertriebenen pfirsichfarbenen Doppel-LP mit weißen Mustereinschlüssen ein doppelseitiges, 12"- großes Poster bei. Obwohl die Pressqualität bei meinem Exemplar nur gut, aber nicht perfekt ist (Knackser sind mitunter zu hören und das Mittelloch der 2. Platte musste noch geweitet werden, damit sie auf den Teller passt), so verblüffend anders ist das Mastering verglichen mit der digitalen Ausführung. Man spielt mehr mit Links-Rechts-Momenten und einer prägnanter im Vordergrund singenden Chappell um dem THE RISE... mehr Dreidimensionalität zu verleihen. In NAKED IN MANHATTAN hört man auf dem linken Kanal Bässe, die im Streaming verloren gehen. Für die Wichtigkeit dieses Werkes (dem für mich besten aus dem Jahr 2024, das überhaupt nicht von 2024 ist) ist die behutsam angefertigte Abmischung durchaus angemessen, auch wenn rein formal einige Sachen bei der "1 Year Anniversary Edition" von jpc besser sein könnten. 5 Sterne.