Brahms als preziöses Original
Carl Dahlhaus, der bedeutende grosse Musikphilologe, beschrieb den musikalischen Fortschritt von Brahms nach der endenden Ära der sog. klassischen Konzerte (Mozart-Beethoven) in etwa so:
Brahms schuf eine Art Gruppierung melodischer Gedanken zu thematischen Schwerpunkten und kompositorischen Gewichten, die nicht mehr nur im konzertierenden Ereignis (Solo-Tutti) liegen, sondern in der gesamten formalen Struktur, die mehr ist als nur ein Gerüst, sondern selbst ein musikalischer Gedanke (als sinfonisches Konzert).
Andras Schiff, der überaus kultiviert und sensibel eigenwillige, zuweilen arg preziös agierende Pianist, versucht hier in Personalunion von Solist und Dirigent, mit einem aufgeklärten, kleinen Orchester mit Originalinstrumenten und einem alten Blüthner-Konzertflügel Brahms so neu zu entdecken, als sei dies zuvor nicht schon von andren wie Gardiner, Norrington oder Altvater Harnoncourt jeweils individuell praktiziert worden.
Man muss schon etwas selbstherrlich und von ECM produziert sein, um so zu tun, als ob man hier erstmals den 'originalen' (Meininger?) Brahms aufspielte, gar neu erfände.
Dazu gehört auch das Schiff-spezielle und dümmliche Steinway-bashing, als hätten nicht bzgl Brahms alle grossen Pianisten zuvor und heute wie Arrau, Backhaus, Rubinstein, Serkin, Richter, Gilels oder Pollini und Bronfman auf ihren Steinways, Brahms ebenso auch erstklassig realisiert.
Wer etwa das verhalten-innige, unsentimental-romantisch ruhig schwebende 'cantabile' des Cello-Piano-Andantes des 2ten Konzerts von Scheiwein, Pollini und den Wiener Philharmonikern unter Abbado (oder inetwa zuvor von Brabeck-Backhaus-Böhm) kennt, ein zentraler Satz formal-sinnvoller Gestaltung romantischer, musikalisch-melancholischer Emotion, hört unter dem feinsinnigen Sir Andras eine eher nüchtern positivistische Draufsicht, zumal durchweg einen leicht robusten Blüthner-Klang, akustisch sehr transparent, und ebendrum hörbar auch einen kurzatmigen Ton der Instrumentalisten.
Jedenfalls höre ich kaum unerhört neue Brahms-Einsichten resp. eine neu erhörte, hist.definierte original-Klang-Dimension.
Schiff und sein Kammerensemble bieten einen kammermusikalisch durchleuchtet-ausgehörten, durchaus hörenswerten, wenn auch klanglich etwas kleindimensioniert-schmalbrüstigen Brahms, ohne wirklich relevante neue musikalische Erkenntnisse.
Ich bin mir gewiss, Brahms als ein höchst reflektierter Erbe der grossen klassischen 'Wiener Schule' und Tradition, und im Sinn von Dahlhaus (und Schoenberg) ein progressiver Komponist, hat eher grössere Orchester und erweiterte Klangvorstellungen, jenseits von Meininger Kapellen und Instrumenten, intendiert und geschätzt.
Brahms, zwischen posthum aufbegehrendem, romantisch- schumanesquen 'Sturm und Drang' und herb-klassizistischer Melancholie lässt sich nicht mit einem wie auch immer sog. Originalklang manifestieren, nur, seiner Zeit voraus, immer wieder erneut realisieren im Klang unsrer Zeit.