Wiener Beethoven Jubiläum 2020
Einer der meistbeschäftigten Dirigenten der jüngeren Generation, Andris Nelsons, zugleich Chef in Boston und Leipzig, auch engagiert in Wien, Salzburg, Luzern, Berlin u.a.o., hat mit den Wienern nun zu dem grossen Beethoven-Jubiläum-2020 alle Sinfonien neu erarbeitet, von der DG veröffentlicht.
Es sollte wohl, zumal nach dem etwas retro-altbackenen Wiener Thielemann-flop, der grosse Wurf der Neune für das Jubeljahr werden - und ist es leider und enttäuschenderweise nicht, wenn auch respektabel oder akzeptabel auch im Vergleich zu neuesten Aufnahmen (Fischer, Jordan und noch Blomstedt) oder zu alten der Neuner-Grössen Toscanini, Karajan, Solti, später Abbado (in Rom) und ev Chailly in Leipzig, nicht zu vergessen Scherchen, Leibowitz - und auch Gielen (vor allem 4te und 7te sind erste Kategorie).
Aufnahmen von meist durchweg distinktiver Linie und Prägnanz.
Erkenntnisse von neuester historischer Informiertheit und Spielweise alternativer Formationen (u.a. Fischer, vor allen Järvi) gewahrt man bei Nelsons recht wenig.
Was aufgeklärte musikalische Diktion wie rhythmische Stringenz der Tempi, Transparenz, Artikulation und Phrasierung betrifft, klingt bei Nelson traditionell und konformistisch, durchweg gewichtig, pastos-kompakt und selten strukturell orientiert, eher merkwürdig indifferent und anonym, ohne eindeutiges Dirigenten-Profil einer konzis neu reflektierten Gestaltung - kein unverwechselbares Beethoven-Fazit: So muss es sein.
Es schwingt nichtmal ein immerhin doch ausdrückliches, wenn auch retrospektives Furtwängler-Pathos wie bei Thielemann nach.
Schon die beiden bereits neue sinfonische Zeiten signalisierenden Adagio-Akkorde mit Durchführung in Beethovens erstem Satz klingen langezogen und zu lau artikuliert, und dann folgt auch kein 'con brio', leider mehr ein flott-modifiziertes Allegro, das Menuett ist dann wie verhetzt zu schnell. Das Intro und die Pastoralsinfonie gesamt spiegeln, pars pro toto, die musikalische Grundhaltung.
Der immerhin vokal recht befriedigend (z.T. über)artikulierte und gestaltete SchlussSatz 'Oh, Freunde ...' der 9ten ist leider nur Teil des insgesamt langatmigen Ganzen, akustisch zwar üppig, doch oftmal diffus und streicherblass (Sforzati). Ein Klangbild auf dem bei den Wiener Philharmonikern selbstverständlichen und sehr hohen instrumentalen Niveau.
So wird durchaus musikalisch rund und schön, jedoch leider auch unentschieden entgegen aller motivischen und brisanten rhythmischen Stringenz gespielt, die Tempi im Verlauf von Entwicklung und Formulierung mal gedehnt bis innehaltend ausgebremst, als habe stellenweise bereits Bruckners Atem über Beethovens Haydn-Schultern geweht, mal rasant beschleunigt, als gelte es, das Blaue Band zum Beethoven-Jahr zu reissen.
Auswirkungen der noch parallel laufenden Bruckner- und Shostakovich-Produktionen in Leipzig und Boston?
Erfreulich sind durchaus viele, vor allem exzellent musizierte Bläsersequenzen (vergleichsweise zu blassen Streichern), die sich so wie Inseln instrumentaler Glückseligkeit hervortun im letztlich doch zu wenig mitreissenden sinfonischen Fluss.
Beethovens extrem rhythmisierte musikalische Gestaltung qua Tempo verlangt ein Bekenntnis zu höchst farbigem Kontrast.
Wer hier unentschieden klingt oder nurmehr moderat klassizistisch agiert, bietet ein defizitäres Abbild explosiver, extrem dynamischer Musik, die zum ersten Mal so persönlich bekennerhaft und radikal ausdrückt, was sie sagen will und kann.
So betrachtet, klingt passioniertes, ausdrucksvolles Spiel anders als nur höchst professionell - und mit diesen Wienern haben doch schon die Kleibers Beethoven musiziert! Nur ein Vergleich mit deren Eroica (Vater Erich) und der 7ten* belehrt allemal von grosser Beethoven-Interpretation.
*Petrenko ist das neulich mit den Berlinern live gelungen.
Also warten wir noch auf den unerhört neuen Sinfonien-Wurf zu Beethovens 250ten - Muss es sein, wer weiss?