Unbeschreiblich genial
Diese beiden CDs gehören zweifellos zu den ersten der Top 100, die man auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würde.
Anton Bruckner hatte bekanntlich nur die ersten drei Sätze seiner letzten Sinfonie vollständig zu Papier gebracht, während das Finale ein Torso blieb. Meist enden Konzertaufführungen und CD-Aufnahmen dieses Schwanengesangs Bruckners daher mit dem Adagio. Ein grandioses Finale wie wir es aus seiner 8. Sinfonie kennen, bleibt uns vorbehalten. Dabei sind seine Sinfonien, besonders diejenigen, die er mit zunehmendem Lebensalter komponiert hat, so stringent angelegt, dass alles auf ein überwältigendes Finale geradezu zusteuert. Seine letzten drei Sinfonien kann man im Zusammenblick als sein „Opus summum“ ansehen. Dabei findet von Werk zu Werk eine ungeheuere Steigerung der Ausdruckskraft und der Klangmassen statt, was sich auch im Widmungsträger vom bayerischen König über den österreichischen Kaiser zum "lieben Gott“ widerspiegelt. Wenn nun also gerade der Abschluss nicht nur seiner letzten Sinfonie, sondern damit dieser Trilogie und eigentlich darüber hinaus auch seines gesamten sinfonischen Schaffens nicht erklingt, ist dies ein schmerzlicher, ja vielleicht auch ein trauriger Umstand. Das Klangerlebnis einer Aufführung der ersten drei Sätze seiner 9. Sinfonie endet mit der Erkenntnis, dass auf Erden eben doch alles nur unvollkommen und unvollständig sein kann: „Ach, es bleibt in meiner Liebe/ Lauter Unvollkommenheit!/ Hab ich oftmals gleich den Willen,/ Was Gott saget, zu erfüllen,/ Fehlt mir's doch an Möglichkeit.“ singt der Altus in der Kantate BWV 77 zum 13. Sonntag nach Trinitatis von Johann Sebastian Bach, während die Tromba da tirarsi mit vom Instrument bedingten und vom Komponisten ganz bewusst eingesetzten falschen, völlig schiefen Tönen die Unvollkommenheit auch musikalisch zum Ausdruck bringt. Die „Kunst der Fuge“ endet, musikalisch vom Komponisten mit B-A-C-H signiert, womit dessen Beendigung am Werk verdeutlicht wird, dennoch abrupt. Ein Ende kann es auf Erden hierfür nicht geben. Ein Mensch vermag dies nicht zu leisten.
Anton Bruckner hingegen hätte es geleistet, seine Neunte fertig zu komponieren. Denn die Bachsche Einsicht hatte er als „genialer Trottel“ nicht. Es fehlte ihm lediglich noch etwas an Lebenszeit, um seine Sinfonie mit der schicksalshaften Nummer „9“ abzuschließen, über die viele große Komponisten nicht hinauskamen oder wegen der Gustav Mahler aus abergläubischer Angst einen Umweg bei der Nummerierung ging. Tatsache ist, dass Bruckner sein Finale nicht vollendet hat — genauso aber ist es Tatsache, dass er sehr umfangreiches Material hierzu komponiert hat.
Gerd Schaller ist nicht nur der beste Kenner der Werke Bruckners, sondern auch ein einzigartiger Visionär: Mit diesem Doppelalbum legt er die einzig schlüssige Vervollständigung von Bruckners Neunter vor, nachdem er schon drei Jahre zuvor eine erste Version des Finales auf CD präsentierte. Wie Bruckner ist auch Schaller ein ständig Suchender, Hinterfragender. Das, was Schaller uns damit schenkt, ist eigentlich Unbeschreiblich. Sein Finale ist wirklich gigantisch. Vermutlich hätte es man auf Erden gar nicht hören dürfen. Das Unerhörte nun also doch schon im „Jammertal“…
Gerd Schaller ist aber kein von der Superbia Besessener, der sich hier irgendetwas anmaßt. Es ist keine unerhörte Frechheit, den vierten Satz zu vollenden. Für ihn scheint es einerseits aus der Einsicht in die Größe und des Verständnisses der sinfonischen Werke Bruckners und andererseits zu seiner Liebe zu diesem einzigartigen Musikwelterbe das zwingend Notwendige zu sein, das zu tun, wofür Bruckner keine Zeit mehr vergönnt war. Keine Frage: Schaller ist nicht Bruckner, aber keiner versteht Bruckners Arbeiten, ja vielleicht auch Bruckner als Mensch so wie Gerd Schaller. Bis 2024 will er alle Sinfonien in den wesentlichen Fassungen vorlegen. Die meisten davon sind bereits erschienen. Kein anderer Dirigent hat bislang Vergleichbares geleistet. Vermutlich hatte auch bislang kein anderer Dirigent den Ehrgeiz dazu oder Interesse daran. Die anderen, zeitgleich zu Schallers Projekt entstehenden Neuaufnahmen (Gergiev mit den Münchner Philharmonikern; Nelsons mit dem Gewandhausorchester Leipzig) beschäftigen sich nicht mit dem „Problem“ der verschiedenen Fassungen.
Bei Schaller kommt akribisches Arbeiten an den Werken Bruckners, intellektuelle Analyse, also Geist mit Seele und Herz zusammen. Denn ohne letztere geht es bei Bruckner eben auch nicht: Schaller überzeugt in all seinen Aufnahmen der Sinfonien Bruckners durch eine einzigartige Stringenz, einem Offenlegen der Strukturen und einer unglaublichen Transparenz der Stimmen: Er holt den Zuhörer von Anfang ab und nimmt ihn mit auf eine spannende Reise. Hier zerfällt nichts in Einzelteile, nirgends lässt die Spannung nach, nirgends wird etwas verschluckt oder geht in einem pampigen Klang (wie bei Thielemann) unter. Dabei pflegt Schaller einen Klang, der den Werken Bruckners gerecht wird und der als Weiterentwicklung der Interpretationen von Karajan, Wand oder Celibidache gelten darf. Im Gegensatz zu diesen drei Giganten vermisst man heute oft gigantisches Blech bei Bruckner. Schaller scheut nicht davor zurück, das Blech zurückzunehmen, sondern zeigt uns damit die einmalige Größe der Sinfonien Bruckners, deren wesentlicher Bestandteil eben auch knackige und gewaltige Blechorgien sind.
Sein gewaltiges Blech, vor allem im Finale dieser Neunten, ist einzigartig. So etwas gibt es nur bei ihm: Große Bögen voller Kraft! So etwas macht zutiefst glücklich. Das zweite Thema des ersten Satzes und das Adagio ist erfüllt voller Sonnenstrahlen und leuchtender Pracht! Die Holzbläser spielen dicht und sind im Vordergrund und bilden eine Art eigenen „Chor“. Im Finale greift er in Brucknerscher Manier thematisch den ersten Satz auf, was „sein“ Finale in das Werk perfekt einbettet.
Unter den Konzertbesuchern, den Musikhörern, ja selbst unter den Bruckner-Kennern ist Gerd Schaller mit seinen vorbildlichen Aufnahmen leider relativ unbekannt. Dass dies einer der größten Fehler im Leben ist, zeigt nun dieses Doppelalbum, nach dem es eigentlich nun zu Bruckner nichts mehr zu sagen gibt. Schallers zweite Neunte ist nicht das Ergebnis einer Hybris, sondern das unerhörte Geschenk für alle, die offen sind und die sich trauen, mehr zu hören, als uns eigentlich vergönnt gewesen wäre.