Neue alte Toscanini-Edition?
Trotz großer Freude über diese längst überfällige Veröffentlichung (die letzte offizielle BMG-Ausgabe erschien vor 20 Jahren - transfertechnologisch eine Ewigkeit!) als erstes die paar Schwachstellen und Unaufmerksamkeiten bei der VÖ der 84-CD Box:
a) Es gibt keine Produzentenangaben! Schade - denn so lobenswert es ist, die mit dem Remastering betrauten "Ohren" akribisch zu erwähnen, so hätte man den originalen Produzenten die Ehre erweisen können, sie zu benennen. Aufnahmeklanglich ist das auch äußerst spannend zu vergleichen: Welche Aufnahmen stammen von Fred Lynch, welche sind Rundfunkproduktionen ohne Angaben und - ganz besonders: Welche Aufnahmen hat das unvergleichliche Gespann Richard Mohr / Lewis Layton akustisch eingefangen? Diese Box ist ja schließlich nicht für den Standardhörer, sondern für Sammler oder Verehrer des Maestro Arturo Toscanini gedacht - da ist nicht überflüssig!
b) Auch wenn man alte Remasterings übernommen hat, so stellt sich der unbedarfte Endabnehmer doch zumindest ein kurzes Kontrollhören vor!? Und ist das denn die letzten 20 Jahre niemandem aufgefallen? Hätte ich doch nur rechtzeitig gemeckert :) - drei Beispiele sind mir gleich aufgefallen:
1. Unglaublich, aber wahr: Auch in dieser Ausgabe fehlen wie vor 20 Jahren schon wieder (oder besser: immer noch) die ersten 4 Takte der Rossini-Ouvertüre "Die Italienerin in Algier" (Vol.47)! Dass diese tatsächlich vorhanden sind, belegen die Schallplattenausgaben und die japanische CD-Veröffentlichung.
2. Die Beethoven -Ouvertüre "Coriolan" vom 1.Juni 1945 (Vol.45) ist ebenso von der Tonhöhe nach wie vor zu tief, also damit auch etwas zu langsam, überspielt. Das klingt unschön und "schräg".
3. Die Überspielung von Verdis "Otello" ist (wie gehabt) eine Katastrophe. Zu zwei alternativen Ausgaben: Die "Naxos"-Veröffentlichung hat keine Bässe, sehr ordentlich klingt die Ausgabe von "Pristine Audio"!
c) Aufschlussreich ist, dass die XRCD-Übernahmen in den original japanischen JVC-Veröffentlichungen einen Tick besser klingen als in der RCA-Box. Ob das ein Beleg dafür ist, dass der Fertigungsprozess NACH dem Mastering tatsächlich wie propagiert von (hörbarer) Bedeutung ist?
d) Das Booklet ist schön aufgemacht, wobei ich das mulmige Gefühl habe, dass, wenn man es ganz aufbiegt, es mit der Zeit aus dem Leim gehen könnte... Die vielen ausführlichen, höchst engagierten und intelligenten Texte der Veröffentlichung von vor 20 Jahren (Einzel-CDs) sind nicht enthalten, natürlich somit auch nicht die große Fülle an Fotos, Libretti, die Gesamtlänge von mehrsätzigen Stücken... Auch wenn das zu erwarten war: Schade, besonders um die Toscaninis Aufführungen vergleichenden Beiträge!
Nun zum eindeutig Positiven:
Das wichtigste ist natürlich bei der Wiederveröffentlichung historischer Aufnahmen (1920-1954) der Klang der Transfers - also, ob die Übertragungen von den originalen Quellen auf das Medium CD akustisch gelungen sind.
Dazu erst mal generelle klangliche Verbesserungen gegenüber der alten BMG-Gesamtausgabe, die einen großen Teil der neuen CDs betreffen:
Der Überspielpegel ist z.T. deutlich höher (man muss den Lautstärke-Regler weniger aufdrehen), die Bässe klingen voluminöser und entspannter, den Höhen ist hie und da die unangenehme Schärfe genommen (ohne störend hörbare Frequenz-Beschneidungen!), oft erscheinen die Orchesterfarben frischer und es sind auch bisweilen mehr Details zu hören. Dafür ist auch wieder ein minimales Grundrauschen zu hören - was wichtig ist für ein natürliches Klangbild, da so in pp-Passagen der Klang nicht verschwindet oder digital verfremdet...
Als besonders deutliche Beispiele der Verbesserung seien exemplarisch Schumanns Sinf.3 und Tschaikowskys Manfredsinfonie genannt.
Das körperlich packende "Anspringen" des Hörers mancher (beileibe nicht aller!) LP-VÖs aus vergangenen Zeiten haben allerdings nur wenige dieser CDs. Sie sind sehr klar und ausgewogen, erstaunlich natürlich in Klangfarbe und Balance. Die manchmal etwas "einseitigen" Plattentransfers waren da weniger objektiv, aber - wenn gelungen - ungemein packend... Aber CDs haben generell oft etwas von einem Guckkasten, aber DAS ist nun schon eher Philosophie...
Der Klang der Ausgabe entkräftet überzeugend das Vorurteil, dass die Aufnahmen Toscaninis hart, schrill und unsinnlich - also nicht mehr "genießbar" klängen. Viele der Einspielungen haben einen klaren Klang in tadellosem Mono, durchsichtig, farbig, dynamisch, dabei weich und rund. Das steckt natürlich in den Originalen per se, aber auf CD war das z.T. noch nicht so deutlich hörbar! Dass es da eine große Streuung gibt, liegt selbstverständlich auch an der großen Zeitspanne, über die die Aufnahmen entstanden und daran, dass manches Studioproduktionen und anderes Livemitschnitte durch den Rundfunk sind.
Eine nette Idee war es, die exakten Zusammenstellungen mit Volumen-Angaben zu belassen und nur durch die HMV-Aufnahmen mit dem BBC-Orchester am Ende der Edition (Vol.72) zu ergänzen. Oder war es eine pragmatische Lösung, um sich einige neuerliche Arbeitsschritte zu ersparen? Jedenfalls kann man so die alte Trackingliste (das schwarze Heftchen der BMG-Ausgabe) oder auch die CD-Hefte (deren informativen Texte ja nun fehlen) weiter verwenden, ja sogar die CDs einfach aus den alten Jewelcases austauschen :-)
Alles in allem - trotz der ausführlichen Kritik in dieser Besprechung:
Eine höchst erfreuliche Wiederveröffentlichung!!!
- Ansprechendes, platzsparendes(!) Äußeres
- Durchweg guter bis sehr guter Kang der Überspielungen (gemessen an allen mir bekannten anderen Veröffentlichungen), was letztlich ja das wichtigste ist!
Empfehlung: Alle CDs der optisch fast identischen alten BMG-Veröffentlichung können unbesehen weggegeben werden, vorhandene XRCD von JVC unbedingt genau vergleichen, ebenso auch die Doppel-CDs der BMG-Reihe "The immortal Arturo Toscanini". Da klingt manches einfach anders und dennoch sehr gut! Ach ja - manche Toscanini-Schätze sind in der Box natürlich nicht enthalten (weil nicht offiziell veröffentlicht) und ebenso einige weiterer wichtiger HMV-Aufnahmen, die bei Testament (EMI) veröffentlichst sind (waren).
Diese Rezension ist natürlich mein subjektiver Eindruck (mit der Erfahrung von 30 Jahren "Toscanini-Vergleichshören"*g*) - und kann nach einem Tag Testen der gerade erschienen CD-Box nur einen groben Überblick geben.
P.S.: Wo bleibt nur endlich der komplette Fritz Reiner? Jetzt, wo Sony (Columbia, da wären die Aufnahmen der 40ziger und 50ziger) und RCA (die Einspielungen der 50ziger und 60ziger) unter einem Dach vereint sind, könnte eine wunderbare CD-Box erscheinen... !