Guilini mit WPO / CSO - und grundsätzliche Gedanken zum Torso der Neunten
Nun Gedanken zum Torso der Neunten Bruckner - angeregt durch Worte in der Rezension hier des sehr geschätzten Herrn Wolfgang Herrmann. Zitat seiner Worte:
"Nachdem sich die Aufregung um die Rekonstruktion des unvollendeten vierten Satzes von Bruckners Neunter wieder gelegt hat, kann man sich wieder gelassen der dreisätzigen Version zuwenden, die von den Hörern offensichtlich schon seit jeher als vollständig empfunden worden ist."
Da möchte ich ganz entschieden widersprechen!
Ob eine Aufführung nun mit Finale-Fragment oder mit einer Aufführungsversion stattfindet oder der übliche Weg der Dreisätzigkeit gewählt wird:
BRUCKNERS NEUNTE IST UND BLEIBT EIN TORSO!
Nur in dieser unbefriedigenden Erkenntnis können wir im Konzerterlebnis dem Komponisten gerecht werden und haben die Chance, von dem Stück etwas zu verstehen.
Ein "Sich damit abfinden" oder die Sinfonie im Grunde als "vollständig empfinden" wurde bereits 100 Jahre betrieben und sieht nicht das Ganze. Zudem ignoriert diese Einstellung den Willen die eindeutigen Äußerungen des Komponisten (Te Deum als Schluss, evtl. mit Überleitung nach der Exposition). Natürlich wird es immer Menschen geben, denen 60 Minuten Sinfonie als Genuss schon mehr als genug sind - aber dreht sich um Zeit oder um Genuss...?
Vergleichende Rezeption
Bruckners Neunte ist ebenso ein Torso wie Mahlers 10te, das Requiem von Mozart oder Schuberts „Unvollendete“. Jedoch haben alle drei Stücke im öffentlichen Bewusstsein der Musikliebhaber einen unterschiedlichen Status:
Die Neunte von Bruckners meint fast ausnahmslos die Form des dreisätzigen Torsos, welcher stillschweigend als vollendetes Werk eingestuft wird. Die Finalfragmente gelten immer noch als zu kryptisch oder als uninspirierte Versuche eines senilen Greises – im Grunde überflüssig für dieses Werk.
DIE Zehnte von Mahler gibt es nicht – sondern man spricht entweder vom „Adagio aus Mahlers Zehnter“ oder der „Aufführungsversion der Zehnten, eingerichtet von Cooke“ (oder anderen). Diese vollständige Version wird nicht als echter Mahler anerkannt (auch wenn man landläufig von Mahlers Zehnter spricht…)
Das Mozart-Requiem bezieht im Allgemeinen stillschweigend die Fertigstellung Süßmayrs mit ein. Dass Mozart nur zwei Drittel selbst fertiggestellt hat, wird kaum mehr erwähnt.
Schuberts D 759 wird „Unvollendete“ genannt, weil Schubert die Sinfonie nach einem noch angefangenen Scherzo hat liegen lassen. Möglicherweise erachtete er sie sogar in dieser Form sogar als „fertig“. Naja – dieser Gedanke ist eine kleine Provokation meinerseits, aber wir wissen es tatsächlich nicht …
Fragment
Spüren wir dagegen bei jedem Hören der Neunten bewusst schmerzlich die hinterlassene Lücke! Meines Erachtens geht das am besten, indem man die im ersten Entwurf quasi fertige Exposition anhängt (das sind ja gute 7 Minuten) oder - noch besser - dazu die zwei ganz großen Fragmente, die jeweils nur durch wenige Takte voneinander getrennt sind. Das ergibt mindestens 15 Minuten des Finales, also zeitlich etwas mehr als die Hälfte der Planung (komplette Exposition, das meiste der Durchführung bis weit in die Reprise hinein... Der Abriss nach den letzten Triolen in Bogen Nr. 31E/"32" könnte einen herben Schluss darstellen ... vielleicht ja auch der Wiedereintritt des Choralthemas vorher ...)
Aufführungsversion
Auch die Anstrengungen der Versuche einer Rekonstruktion und eines phantasievollen Weiterdenkens in der Coda gewinnen immer mehr Gestalt und Leben - natürlich als eigenständiges Kunstwerk.
Mahlers Zehnte hat es durch die Zähigkeit der Bemühungen und die Visionen der Beteiligten definitiv geschafft.
Natürlich ist es nicht wirklich rein Mahlers Zehnte, aber eine große von Mahler begonnene Sinfonie, die im späteren 20ten Jahrhundert vollendet bzw. "eingekleidet" wurde. Letztlich ist es auch nicht entscheidend, ob diese Musik nur die Autorenschaft Mahlers oder auch Goldschmidts und Cookes trägt. Mahlers Zehnte ist trotz der massiven Ablehnung von Puristen und der meisten Dirigenten nicht mehr aus dem Konzertleben wegzudenken!
Zukunft mit Leben?
Vielleicht reicht das Auffinden von ein paar der vielen noch verschollenen Partiturseiten um das Finale zumindest bis in die Coda hinein als gesicherten lückenlosen ersten Entwurf aufführungsreif machen zu können. Denn die "Andenken-Sammler" haben sich bestimmt die optisch ansprechenderen Seiten mitgenommen - weshalb vielleicht so viel Particells und Vorentwürfe noch vorhanden sind. Schon jetzt ist m.E. die Schließung der ersten beiden Lücken durch Samale und Kollegen ziemlich überzeugend gelungen, sodass die Fuge ihren gewaltigen Sog bis zur Reprise entfalten kann.
Meine Geschichte mit der Neunten
Ich habe die dreisätzige Neunte vom ersten Hören an als unvollendet empfunden und das wird auch so bleiben, da sie auch allen spekulativen Varianten nach nicht vollständig vollendet und ausgearbeitet vorliegt.
Neugierig wurde ich ca. 1980 auf das visionäre Finale durch von Einems Brucknerdialog", der ja Teile des Finales, zumindest ganz deutlich das Hauptthema verwendet.
Meine unstillbare Sehnsucht nach dem Finale hat endgültig Feuer gefangen, als ich 1982 im Radio die Aufführungseinrichtung der Exposition von Fritz Oeser gehört habe (Berliner Orchester).
Ich habe dann, angefangen von Inbal, so ziemlich alles verfolgt, was sich bezüglich den Finale-Aktivitäten und den neuesten Erkenntnissen getan hat - und DAS war beachtlich viel.
Seit Eichhorn und der Fragmentaufführung durch Harnoncourt und Hirsch, auch bei Rattle und anderen Aufführungen in diesem Jahrtausend gewinnt das Finale für mich langsam ein eigenes Leben (was letztlich natürlich in Hinzufügungen nichts anderes werden kann als das Konstrukt der Mahler Zehnten: Das Werk einer „Multigeburt".
Jedenfalls
Bruckner erreicht noch heute als Verstorbener für denjenigen, der sich mit (seiner) Musik beschäftigt, etwas, das wohl kaum ein lebender Komponist leisten kann:
Eine ständige Wandlung und Entwicklung der Rezeption und auch der Aufführungen seiner Werke!
Das heißt natürlich auch, dass im Gegensatz zu den anderen bekannten Komponisten er lange am meisten mit seinen Werken verkannt oder doch nur zum Teil erkannt worden ist - und das auch zu Zeiten, in denen er schon viel gespielt wurde... im Grunde bis heute.
Anders ausgedrückt: Bruckners Werk ist um viele Dimensionen vielschichtiger, als es seine Zeitgenossen und auch noch die meisten heutigen Ausführenden diesem zutrauen.
Fassungen
Auch die frühen Fassungen (von deren Seelengestalt und Konzept noch längst nicht alles entdeckt und besonders nicht hörbar gemacht ist!) der Sinfonien 2, 3, 4 und 8 und auch die Wiener Fassung der Ersten werden noch eine lange Entwicklungszeit an Erkenntnissen für Musikgeister, Interpreten und Hörer beanspruchen ...
Haben wir also Geduld und geben wir nicht den einfachen Lösungen nach ...